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Am Samstagmorgen zog sich Jack nicht gleich an, sondern machte sich in Schlafshorts und T-Shirt in der Küche einen Kaffee, setzte sich damit in seinen Sessel und blätterte ein paar der Promimagazine durch, die Lidia so mochte. Er erkannte weder die Gesichter noch die Namen, aber eine menschelnde Story über eine Familie, die durch eine Spendensammlung in der Nachbarschaft vor der Zwangsvollstreckung gerettet worden war, hielt sein Interesse eine Zeit lang gefangen.

Sein eigenes Haus war noch nicht abbezahlt, aber die Hypotheken überschaubar, und er kam den Zahlungen nach. Anfallende Reparaturen erledigte er selbst. Manchmal holte er die Mädchen dazu. Eines Tages würden sie sich selber um solche Dinge kümmern müssen, und er wollte nicht, dass sie dann von anderen abhängig waren. Seine Mädchen wussten sich zu helfen.

Als er hörte, dass sie wach wurden, ging er in die Küche und machte Frühstück. Samstags gönnten sie sich Pfannkuchen und Rührei mit Speck, dazu Milch und Orangensaft. Lidia und Marina kamen in Schlafanzügen an den Tisch, wie kleine Kinder.

»Heute besuchen wir Onkel Bernardo«, sagte Jack.

»Ist das heute?«, fragte Marina. »Lidia und ich wollten schwimmen gehen.«

»Nein, das ist heute, also macht euch fertig, in einer Stunde fahren wir. Macht euch hübsch für eure Cousins, ja?«

Jack zog seine beste Jeans und ein Arbeitshemd ohne Löcher an, dazu die guten Stiefel, nicht die abgewetzten Stahlkappenschuhe, die er zur Arbeit trug. Die Mädchen erschienen sauber, gekämmt und in helle Farben gekleidet. Sie zogen sich nicht mehr an wie früher zu Ostern, aber im Geiste sah Jack sie noch immer so: in Rüschenkleidern und Schnallenschuhen.

»Okay, los geht’s.«

Der kühle Morgen verwandelte sich bereits in einen heißen Vormittag. Jack stellte die Klimaanlage im Truck an. Früher hatten beide Mädchen hinten gesessen, als wäre er ihr Chauffeur, inzwischen saß Marina vorne neben ihm. Lichtreflektionen blitzten an ihrer Sonnenbrille auf und tanzten in Jacks Augenwinkeln.

Sie fuhren zur Laredo International Bridge und reihten sich in die kurze Schlange der Wagen ein, die die Brücke in südliche Richtung überqueren wollten. In der Gegenrichtung, von Mexiko in die USA, füllten die Wartenden vier Fahrspuren.

Schon seit Generationen fuhr man nach Nuevo Laredo, wenn man billig einkaufen oder Ablenkung und ein bisschen Spaß haben wollte. Jack erinnerte sich an viele Karnevalsfeiern und Konzerte auf den Plätzen der Stadt. Auf einer Cinco de Mayo Fiesta hatte er zum ersten Mal auf einem Pferd gesessen. Für ein paar Centavos hatte ihn ein alter Mann auf das schunkelnde Tier gesetzt und ihn in einem großen Kreis durch den Korral geführt. Jack hatte sich für einen Cowboy und den Klepper für einen Hengst gehalten.

Jetzt war alles anders. Früher war der Fußgängerübergang samstags voller Touristen gewesen, heute waren nur wenige zu sehen, und die schienen die Überquerung eher widerwillig anzutreten. Die Kennzeichen der Wagen vor Jack stammten fast alle aus Mexiko und dem Bundesstaat Tamaulipas. So war es immer.

Zuerst wurden die Autos auf der amerikanischen Seite angehalten. Uniformierte Grenzschützer patrouillierten zwischen den Fahrzeugen hin und her, führten Suchhunde an den Fahrbahnen entlang, redeten mit den Fahrern. Ein dunkelhäutiger Latino winkte Jack vorwärts und hob dann die Hand. Jack hielt an und ließ das Fenster herunter. Warme Luft drang herein.

»Guten Morgen, Sir«, sagte der Grenzbeamte. Auf seinem Namensschild stand GALLEGO. »Sie wollen nach Mexiko?«

»Ja.«

»Was ist der Anlass Ihrer Reise?«

»Wir besuchen Verwandte.«

»Wer sind die Mädchen, die bei Ihnen sind?«

»Meine Stieftöchter.«

»Haben Sie Pässe oder andere Ausweispapiere bei sich?«

»Ja, wir haben alle Pässe.«

»Darf ich die bitte sehen?«

Jack reichte sie ihm. Im Seitenspiegel sah er, dass eine Grenzbeamtin einen Schäferhund am Truck entlangführte. Der Hund schnüffelte, schlug aber nicht an.

Ihr Kollege Gallego inspizierte die Pässe und gab sie Jack zurück. »Haben Sie irgendwas dabei, von dem wir wissen sollten? Waffen, illegale Drogen?«

»Nein.«

»Tragen Sie mehr als zehntausend Dollar in bar bei sich?«

»Nein, Sir.«

Jack sah dem Beamten ins Gesicht und erblickte in dessen undurchdringlich schwarzer Sonnenbrille sein eigenes dunkles Spiegelbild. Gallego nickte. »Okay. Schönen Tag noch.«

Jack kurbelte das Fenster hoch und fuhr weiter. Vor ihnen hatte sich eine Lücke aufgetan, sie fuhren über die Brücke bis zu einer aufgemalten gelben Linie, die die Grenze markierte. Auf der anderen Seite saßen mexikanische Zollbeamte in kleinen Häuschen und sammelten die Mautgebühr von drei Dollar ein. Auf dem Rückweg würde Jack ein zweites Mal bezahlen.

Hinter den Häuschen, wo die Brücke in eine breite Kreuzung mündete, sah Jack einen schwarzen Humvee halb auf dem Bürgersteig stehen. Hinten auf dem Geschützturm stand ein Soldat mit einer Maschinenpistole, zwei weitere beobachteten hinter der Windschutzscheibe den von der Brücke kommenden Verkehr.

Der Mexikaner stellte die gleichen Fragen, Jack gab die gleichen Antworten und bezahlte die Mautgebühr. Man winkte ihn weiter. Er hatte das Gefühl, dass die Soldaten in dem Humvee ihn beobachteten, wollte aber nicht in ihre Richtung schauen.

Wer hinter der Brücke eine andere Welt erwartete, wurde enttäuscht. Die Straßen sahen genauso aus wie im Norden, nur dass die Läden spanische Aufschriften trugen und es wenig weiße unter den braunen Gesichtern gab. Jack navigierte vorsichtig durch die Straßen und passte auf, nicht zu schnell zu fahren, denn die Polizei war überall, und wo sie nicht war, stand die Armee.

Angst hatte er keine. Die Soldaten zeigten aus guten Gründen Präsenz, man musste schon blind und taub sein, um sie nicht zu kennen. In den Nachrichten kamen ständig Berichte über Morde und Schießereien, auch wenn Jack noch nie welche miterlebt hatte. In seinen Augen sah Nuevo Laredo aus wie immer und fühlte sich an wie immer, obwohl er wusste, dass es sich verändert hatte. Die Menschen, denen er begegnete, waren freundlich, in den Geschäften wurde sein Geld gerne genommen. Vielleicht hatte er einfach Glück gehabt, oder vielleicht war alles nicht so schlimm, wie behauptet wurde.

Vermisst

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