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Sie fuhren mitten durch die Innenstadt und hielten dann auf die Peripherie zu, wo die Gebäude weniger dicht standen, die Straßen nicht ganz so eng waren, und Vorhöfe und Rasenflächen die Häuser säumten. Jack kurvte um Risse und tiefe Löcher im Asphalt herum, die die Räder des Trucks glatt verschluckt hätten. Vor einem Haus, dessen winziger Vorhof voller Wäsche hing, sah er ein auf Ziegelsteinen aufgebocktes, räderloses Auto.

Vor dem Haus von Bernardo Sigala wuchs kein Gras, es war hinter einer fast zwei Meter hohen Mauer versteckt. Durch ein Eisentor gelangte man auf einen kleinen Parkplatz, dort stand ein Toyota. Eine Tür im Tor ließ sich für Fußgänger öffnen, sie war mit zwei Schlössern gesichert.

Jack parkte am Straßenrand und stieg aus. Lidia lief zum Tor und zog an der Klingelkette. Glocken ertönten, die nach einer tanzenden Kuhherde klangen.

Bernardo trat auf den schattigen Parkplatz heraus. Er trug ein hellgelbes Hemd mit Kragen und eine akkurat gebügelte Hose. Auch er und seine Familie machten sich besuchsfein. »¡Hola a todos! ¡Bienvenidos!«

Er schloss das Tor mit zwei unterschiedlichen Schlüsseln auf und hielt es offen, damit Lidia und Marina eintreten konnten. Jack folgte als Letzter. Sie gaben sich die Hand. »Bernardo«, sagte Jack. »Sind wir zu spät?«

»Spät? Nein, überhaupt nicht! Ich schaue gerade fútbol. Reina ist in der Küche. Die Kinder sind im Haus. Kommt rein.«

Im Haus war es kühler. Ein Deckenventilator rührte die Luft um, alle Fenster standen offen. Aus der Küche duftete es nach Essen. Im Wohnzimmer saß Bernardino in einem Bravos-T-Shirt auf der zerknautschten Couch vor dem Fernseher. Die Bravos de Nuevo Laredo kickten ohne große Aufstiegschancen in der zweiten Liga, aber der Junge war ein Fan. Jack schaute zum Fernseher. Er hatte keine Ahnung, wer da spielte.

»Marina, Lidia«, sagte Bernardo, »die Mädchen sind in ihren Zimmern, glaube ich. Du siehst heute sehr hübsch aus, Lidia.«

»Danke, tío

»Jack, willst du ein Bier? Setz dich, mach’s dir bequem. Bernardino, mach Platz für Jack. Setz dich da vorne hin.«

Bernardino verließ widerwillig die Couch und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand. Er war ein schweigsamer Junge und beobachtete Jack mit misstrauischem Blick. Bei ihrer ersten Begegnung war er noch ein Baby gewesen. Jetzt war er sieben. Sie würden sich nie nahe stehen.

Bernardo verschwand in der Küche und kam mit einer Flasche Corona mit einer Limettenscheibe im Hals zurück. »Hier«, sagte er. »Komm, setz dich. Du siehst aus, als könntest du Ruhe gebrauchen, Jack.«

»Es war eine interessante Woche«, sagte Jack. Er setzte sich auf den Platz, den Bernardino geräumt hatte.

»Was immer los war, ich wette, ich kann es toppen«, sagte Bernardo.

»Höchstwahrscheinlich. Was war denn?«

Bernardo setzte sich ans andere Ende der Couch. Er hatte ein fröhliches rundes Gesicht mit Schnurrbart, doch jetzt war seine Stirn gerunzelt. »Viele Schießereien diese Woche. Sehr schlimm. Eine nur zwei Blocks von hier.«

»Sind alle okay?«

»Ja, uns geht’s allen gut. Meistens bringen narcos andere narcos um, aber manchmal steht jemand im Weg, und dann …« Bernardo formte aus Daumen und Zeigefinger eine Pistole.

»Aber ihr seid vorsichtig«, sagte Jack.

»Immer.«

Das Bier war kalt und klar, die Limette spritzig. Jack sah wieder zum Fernseher, es stand jetzt zwei zu eins. Er wusste immer noch nicht, wer spielte. »Als wir rübergekommen sind, schien alles ruhig.«

»Es heißt, das bald noch mehr Soldaten kommen«, sagte Bernardo.

»Wie viele sind denn schon da?«

»Keine Ahnung. Tausend? Sie sind sowieso schon überall. Aber Los Zetas und die Golfos machen trotzdem ihr Ding.«

Jack runzelte die Stirn. Bernardo und Reina hatten drei Kinder. Bernardino war das mittlere, Patricia neunzehn, Leandra erst vier. Beide Eltern arbeiteten, die Kleinen kamen alleine aus der Schule nach Hause, Patricia passte dann auf sie auf. Sie kamen klar.

Bernardo schlug Jack aufs Knie und bemühte sich, jovial zu klingen. »Ich freue mich, dass ihr heute gekommen seid. Es ist immer schön, dich und die Mädchen zu sehen.«

»Wir kommen gerne. Ich wünschte bloß, es würde besser für euch laufen.«

»Wir sind alle gesund und munter. Wir haben die Familie. Alles ist gut. Erzähl mal von dir.«

»Da gibt’s nicht viel zu sagen. Ich habe genug Arbeit, die Mädchen werden groß. Ich kann kaum glauben, dass Marina fast erwachsen ist. In einem Jahr wird sie sich nach einer eigenen Wohnung umsehen.«

Bernardo nickte. »Vielleicht will sie gar nicht so schnell weg. Du bist ihr Vater, wie früher Arturo. Solche Bindungen halten.«

»Vielleicht hast du recht. Redet Patricia noch vom Ausziehen?«

»Jede Woche kommt was Neues. Sie hat jetzt einen Job, spart aber überhaupt nicht. Anstatt alles sofort auszugeben, sollte sie lieber an die Zukunft denken. Ihre Mutter ist nicht damit einverstanden, dass sie abends lange ausgeht, aber sie ist erwachsen. Sie braucht ihren Freiraum. Ich kann sie nicht einsperren.«

»Genau davor habe ich Angst«, sagte Jack.

»Wozu? Das machen alle jungen Menschen durch. Weißt du noch, als wir so alt waren? Niemand durfte uns was vorschreiben.«

»Ich will nur, dass sie auf dem richtigen Weg bleibt.«

»Ganz bestimmt, mein Freund. Weil du ihn ihr vorlebst. Das weiß ich.«

Jack trank den letzten Schluck Corona. »Na, wenn du da so sicher bist.«

»Mach dir keine Sorgen. Jetzt bleib hier sitzen und schau ein bisschen fern. Ich sehe mal nach, ob Reina Hilfe braucht. Es gibt heute ein Festmahl. Du wirst essen, bis du platzt!«

Bernardo verließ das Zimmer, Jack hörte aus der Küche spanische Satzfetzen. Er drehte sich zu Bernardino um, der immer noch auf dem Stuhl saß und gebannt dem Spiel folgte. Wortlos sahen sie sich an.

»Willst du hier bei mir sitzen?«, fragte Jack.

Bernardino nickte.

»Dann komm her. Vielleicht kannst du mir mal sagen, wer da überhaupt spielt.«

Vermisst

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