Читать книгу Nebeneffekt - Sandra Diepenbrock - Страница 10
Doch da war es zu spät?
ОглавлениеMein Mund öffnete sich völlig perplex und zeigte wahrscheinlich leider auch die Reste der Schokolade. Raphael lächelte ungläubig zurück. Dieses Lächeln, dieses Gesicht, diese Haare, dieser Mann, meine Güte, war der schön! So hatte ich ihn gar nicht mehr in meiner Erinnerung abgespeichert, aber dies hier war ja noch viel besser als alles, wovon ich so oft geträumt hatte in den unzähligen Nächten des letzten Jahres voller Sehnsucht.
„Würden der Herr dann bitte endlich einmal Platz nehmen, damit ich mit meiner Vorlesung beginnen könnte?“, unterbrach der genervte Professor unsere völlig erstarrten Blicke. Raphael nickte genervt und bewegte sich widerwillig vorwärts in Richtung Gang.
Langsam schlurfte er nach hinten zu den letzten freien Plätzen und fixierte mich dabei die ganze Zeit über mit seinen wunderschönen braunen Augen. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meine Brust. Meine Hände zitterten wie nach 10 Minuten Schwimmkurs bei minus 5 Grad. Meine Beine wurden zu Gummi und ich drohte, komplett die Herrschaft über meine Körperfunktionen zu verlieren.
Meine Augen folgten jedoch seinem Körper, na klar, das ging noch. Ganz hinten, in der letzten Reihe, fand er endlich einen leeren Platz und auf einmal verschwand sein Kopf dann hinter denen der anderen.
Was dann folgte, waren definitiv die längsten 45 Minuten meines Lebens. Mein Kopf explodierte fast vor lauter Fragen, die natürlich zunächst unbeantwortet bleiben mussten. Was machte Raphael denn hier? Wieso war der in Osnabrück, wieso in dieser Vorlesung, wieso jetzt?
Immer wieder drehte ich mich um, aber ich konnte weder ihn noch wenigstens ein paar Teile von ihm irgendwo entdecken. Der Typ hinter mir war schon völlig genervt und deutete mir mit einer abfälligen Handbewegung an, dass ich mich doch bitte wieder umdrehen solle.
Endlich war die Stunde vorbei. Ich blieb an meinem Platz und wartete darauf, dass all die anderen, namenlosen Köpfe endlich verschwinden würden und Raphael zu mir hinunterkommen könnte.
Nach einer Ewigkeit tauchte Raphael endlich auf, er schaute mich mit seinen großen, samtbraunen Augen an und wollte gerade etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor:
„Raphael, was machst DU DENN HIER?“, sprachen meine Lippen für mich, allerdings mit sehr leiser Stimme, weil die irgendwie nicht mehr richtig funktionierte.
Noch bevor Raphael mir antworten konnte, klopften ihm seine Freunde heftig auf die Schulter, lächelten mich an und meinten, wer ‚die denn sei‘ und ‚ob er mich denn nicht mal vorstellen könne‘.
„Jungs, später“, sprach er in ihre Richtung.
„Lara, kommst du mit?“, fragte er in meine Richtung.
Dann nahm er meine Hand, schon wieder, genau wie damals und zog mich aus dem Raum hinaus durch die Flure entlang und weg von all diesen vielen, störenden Menschen. Es wunderte mich, dass meine Beine das mitmachten, für mich fühlten sie sich immer noch an wie ein nicht mehr funktionstüchtiges, sehr schlaffes Gummiband, was eigentlich aussortiert gehörte. Mein Herz boxte weiter fest und viel zu heftig gegen meinen Brustkorb und meine Augen starrten gegen Raphaels Hinterkopf. Ich ließ mich von Raphael führen und konzentrierte mich nur auf meine Grundfunktionen: rechter Fuß, atmen, linker Fuß, atmen, Vorsicht, Treppe!
„Komm, wir setzten uns hier hin, hier ist es ruhiger“, deutete Raphael auf die leere Bank vor einem der Hörsäle. Hier waren tatsächlich kaum noch andere Studenten unterwegs, dieser Flur schien aus irgendeinem Grund völlig verlassen zu sein, was uns gerade Recht war.
„Ja gern“, antwortete ich immer noch wie in Trance.
Ein Segen folgte mein Körper weiter den Anweisungen meines Kopfes und platzierte sich brav neben Raphael auf der Bank. Langsam drehte er sich zu mir um und blickte mir tief in die Augen. Ich hielt ganz cool seinem festen Blick stand, mein Herz jedoch lief heimlich Amok.
Raphael wollte gerade seinen Mund öffnen und etwas sagen, als uns das Klingeln seines Handys jäh und lautstark unterbrach. Er schüttelte genervt mit dem Kopf, rutschte ein wenig auf dem Sitz hin und her und nahm einen erneuten Anlauf, mit mir zu reden.
Sein Handy aber gab nicht auf. Ein Professor ging an uns vorbei, deutete mit dem Finger auf seine Lippen und zischte böse: „Pssst! Handyverbot!“
Raphael nahm sofort das Handy aus seiner Tasche und fummelte nervös daran herum. Ich konnte das Bild einer Frau im gelben Mantel auf dem Display sehen, die offensichtlich dringend mit ihm sprechen wollte. Er stellte auf leise und die Frau verschwand in seiner Jacke.
„Wer war das?“, fragte ich, ohne meine Direktheit zu bemerken.
Pause, unerträglich, drei bis vier Sekunden konnten echt lang sein!
„Meine Freundin“, antwortete er leise und senkte dabei den Kopf. „Sophie“, fügte er nun noch hinzu und starrte dabei auf die gegenüberliegende Tür.
Seine Worte stachen wie ein großes Messer direkt in mein Herz und bohrten kräftig darin herum.
Er hob den Kopf und seine braunen Hundeaugen schauten mich wieder ganz direkt an, liebevoll, sehnsüchtig und so gefühlvoll – genau wie damals! Mein Herz erlitt Fieberkrämpfe und Schüttelfrost.
„Wie lange seid ihr denn schon zusammen?“, fragte ich ihn, schon wieder ziemlich direkt.
Wann genau war das passiert, nur das wollte ich wissen. Vor oder nach unserer gemeinsamen Nacht im Bus, damals, vor nun mittlerweile über einem Jahr, auf Sylt am Strand der Leidenschaft. VORHER oder NACHHER, nur das interessierte mich jetzt.
„Seit ein paar Monaten, ich habe sie am Anfang des zweiten Semesters kennengelernt“, antwortete Raphael freudlos und sehr leise.
Pause, Schweigen, Stille.
Auf einmal richtete er sich auf und die Melancholie in seinem Blick verwandelte sich in blanken Zorn. Seine dunklen, buschigen Brauen zogen sich wütend zusammen und seine Augen verengten sich zu empörten Schlitzen, durch die er mich nun erhitzt ansah.
„Mein Gott Lara, WAS denkst du bloß über mich? Du warst verschwunden, genauso schnell, wie du in mein Leben geknallt bist, warst du auch schon wieder fort. Was denkst du wohl, wie ich mich gefühlt habe an diesem verkorksten Morgen vor über einem Jahr? Das war so eine schöne Nacht mit dir gewesen und auf einmal war ich allein, niemand mehr da, einfach weg warst du. Ich bin die ganze Insel abgefahren und habe dich überall gesucht. Erst dachte ich, du seist nur Kaffee holen gegangen. Deshalb bin ich zum Kiosk gefahren, es regnete ja und ich wollte nicht, dass du nass wirst. Dann kam ich auf die Idee mit dem Bahnhof, aber auch da warst du nicht. Ich fuhr hin und her und schaute überall nach, wo du meiner Meinung nach vielleicht hättest sein können.
Irgendwann gab ich auf, schließlich musste auch ich an diesem Tag wieder nach Hause zurückfahren. Meine Freunde hielten mich alle für komplett verrückt, als ich verpeilter und verliebter Esel mich tatsächlich eine Woche später in Osnabrück immatrikulierte. Eigentlich hatte ich ja in Flensburg studieren wollen, ganz nah am Meer, von wegen surfen und so. Aber nein, ich musste ja nach Osnabrück gehen, um dich zu suchen, na klar! Ich hatte wohl einfach gehofft, dich hier zu treffen, du wolltest ja auch studieren, hattest du jedenfalls erzählt, oder nicht?“
Wütend und erwartungsvoll blickte mich Raphael an.
„Ja, schon“, erwiderte ich kleinlaut. „Hier in Osnabrück war ich schon die ganze Zeit über, nur musste ich erst noch mein Abitur nachmachen, bevor ich jetzt endlich hier studieren kann. Ich bin jetzt im ersten Semester, dies heute war meine erste Vorlesung überhaupt!“
„Deine erste Vorlesung? Wie bitte, echt jetzt – das darf doch alles nicht wahr sein, Lara!“
Jetzt klang er nicht nur wütend, sondern auch richtig verzweifelt.
„Dieses Abiturjahr von dir habe ich jedenfalls mit einer sehr ergebnislosen Suche nach deiner Wenigkeit hier vor Ort verbracht, ganz toll, echt jetzt, wirklich super! Diese Kleinigkeit hast du wohl vergessen zu erwähnen, nicht wahr?“
Boah, war der sauer.
„Ich hatte dir das mit dem Abitur-Nachholen nicht sagen wollen, ich hatte mich irgendwie immer noch dafür geschämt, dass ich das nicht schon früher gepackt hatte und jetzt noch einen zweiten Anlauf starten musste“, rechtfertigte ich mich und schaute um Verständnis bittend tief in seine entrüsteten Augen.
„Und ich habe so lange so fest daran geglaubt, dich hier zu treffen und dann vielleicht ganz mit dir zusammen sein zu können, na ja so halt. Aber du warst nicht da. Ich habe überall nach dir gesucht, alle ständig nach einer Lara gefragt, aber niemand kannte dich. Kein Wunder, jetzt verstehe ich es alles, kein Wunder, dass dich niemand an der Uni kannte.“
„Und wann hast du diese Tante vom Handy da kennengelernt?“
„Vor gar nicht sehr langer Zeit, tja, wirklich, nicht lange her. Irgendwann in den letzten Monaten waren immer mehr Zweifel in mir aufgekommen, da du ja einfach so verschwunden warst damals. Vielleicht hatte ja nur ich so für dich empfunden? Vielleicht warst du ja mit Absicht gegangen und wolltest einfach nur weg von mir? Vielleicht hattest du die Nacht ja doch bereut?
Meine Freunde mit ihrer schlechten Meinung waren jedenfalls immer da und du bliebst weg. Vor ein paar Wochen dann habe ich Sophie kennengelernt und die lief nicht nach der ersten Nacht mit mir davon. Sie ist ein liebes Mädchen, wirklich.“
Nun hatte die Traurigkeit seine Wut wieder vertrieben, er tat mir fast leid. Aber nur fast, denn Sophie hatte ihn ja anscheinend sehr effektiv getröstet.
Sophie – wie das schon klang. Total ätzend. ‚Lieb‘ sei sie, na toll! Lieb bin ich auch, superlieb, ganz doll lieb. Mist!
Ich starrte auf den Boden und meine Gedanken liefen Amok. Das Bild vom gelben Mantel wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Was trägt die auch so eine Farbe, meine Güte, voll daneben ihr Geschmack, soviel war schon mal klar.
„Lara, hallo, jetzt sag doch mal was!“, rissen mich Raphaels Worte aus meinen Gedanken.
Er berührte zur Unterstreichung seiner Worte leicht meinen linken Arm, der sofort warm und wohlig ein positives Feedback an meinen Körper gab. Erinnerungen wurden wach.
Ich hob meinen Blick vom Boden und zwang mich dazu, etwas zu sagen und nicht in totaler Melancholie zu versinken.
„Meine Schwester Lilith hatte mich morgens aus deinem Bus geholt, mein Zug fuhr und ich musste doch nach Hause, das weißt du ja. Du hast so tief und selig geschlafen, Lilith nervte rum und ich wusste auch nicht genau, was ich nun so schnell tun sollte. Ich hatte Lilith gesagt, sie solle zurückfahren, dir dann in Ruhe alles erklären und dir meine Telefonnummer geben. Aber du warst schon weg, einfach weg. Das war so schrecklich, ich saß da in diesem Zug und hatte keine Möglichkeit mehr, dich noch mal zu sprechen. Ich bin doch nicht freiwillig von dir weggegangen, was denkst du denn?“
Schon wieder berührte Raphael mich an meinem Arm, so sanft und so liebevoll, dass ich meinen Kopf direkt wieder anhob und ihm unvermittelt in seine braunen Augen schaute. Ich hätte darin versinken können für Monate – oder Jahre, oder einfach gleich für immer.
„Meine Güte, Lara, wieso hast du mir das mit dem Abitur nur nicht gleich so erzählt? Du kennst mich echt nicht, wenn du denkst, du müsstest mir so etwas verheimlichen. Übrigens Glückwunsch, jetzt hast du das ja geschafft, klasse. Wie toll, du hast dein Abitur nachgeholt, das war sicher nicht leicht, oder?“
„Nein, das war nicht leicht, stimmt“, antwortete ich leise. Da waren sie wieder, diese Worte und diese seine Gedanken, in die ich mich damals so sehr verliebt hatte.
„Aber ich wusste ja auch nicht, dass es in dem Moment so wichtig war, dir das zu erzählen. Und ich wusste auch nicht, dass du so reagieren würdest. Wobei ich es eigentlich hätte spüren müssen“, sprach nun mein Gefühl direkt aus mir heraus.
Es war schon wieder passiert. Mein Herz hatte sich einfach auf meine Zunge gesetzt und sie bewegt, so wie es das wollte.
Alles um mich herum verschwand und auf einmal war es wieder da, dieses tiefe Gefühl von Vertrautheit und Verständnis, welches mich immer in Raphaels Nähe zu überkommen schien. Ohne Vorwarnung hatte es sich breitgemacht und einfach das Ruder übernommen. So, als wäre es nie wirklich weg gewesen, so, als hätte es dieses eine Jahr nie gegeben. So, als hätten wir gestern erst in seinem Bus gesessen und Jägermeister zusammen getrunken.
„Ja, hättest du!“ Raphael flüsterte mittlerweile ebenfalls, aber auch ohne einen Ton zu hören hätte ich verstanden, was er mir hatte sagen wollen.
Jedes Knistern hätte ich gehört, so still waren wir geworden. Wir schauten uns an und seine braunen Augen warfen unzählige Blitze in mein Herz, die dort wie tausend kleine Feuer lichterloh alles abfackelten.
Bwwt bwwt, bwwt bwwt, sein Handy vibrierte schon wieder los.
„Geh halt ran“, flüsterte ich in seine Augen.
Er nahm sein Handy in die Hand, drückte auf den Annahme-Knopf und legte es an sein Ohr: „Sophie ich kann jetzt nicht, ich melde mich später, ok?“
Pause, Sophie sprach wohl irgendwas in sein Ohr, Kopfnicken von Raphael, unruhiges Hin- und Hergerutsche auf der Bank.
Oh weia, was war das schön. Gleichzeitig aber tat es auch so weh, dieses Gespräch live mit verfolgen zu müssen.
„Ja klar, mach ich. Hatten wir doch gesagt“, sprach Raphael weiter mit seinem Handy.
Mit Sophie, seiner Freundin, um genau zu sein, sprach er da. Wow, ein fetter Kloß bildete sich in meinem Hals. Noch ein paar Worte mehr, und meine Gefühle würden hier und jetzt in Form von verräterischen Tränen komplett aus mir herausbrechen.
„Ja, ich dich auch, tschau-tschau, bis später“, beendete Raphael das Gespräch.
Ich musste hier weg, sofort! Ihn direkt anzuheulen war ja irgendwie auch nicht gerade passend bei unserem ersten Wiedersehen nach einem langen, langen Jahr. Also beschloss ich, dass manchmal die feige Flucht auch wirklich eine prima Option sein könne. Ich stand hastig auf und sprach schnell los, bevor ich mir das jetzt wieder anders überlegen würde.
„Raphael, ich gehe jetzt. Ich muss das alles erst einmal verdauen, außerdem hast du ja jetzt deinen gelben Mantel und solltest so mit mir hier gar nicht auf diese Weise reden. Geh zu Sophie, wir sehen uns in ‚BWL1‘ nächsten Dienstag, ok?“
Ich gönnte mir noch einen letzten, tiefen Blick in Raphaels Augen, der direkt mein Herz berührte. Dann drehte ich mich um und lief hastig den Flur hinunter, weg von Raphael, von IHM, weg von meiner großen Liebe! Mein Herz brannte immer noch lichterloh.
War so die Liebe? Schon wieder?
Tränen stiegen in meine Augen. Nicht weinen jetzt Lara, noch nicht, nicht hier vor all den Menschen, ermahnte ich mich beim Gehen.
Ich hatte in NY bereits einen so harten Aufprall erlebt, ich wollte nicht wieder fallen und mich wieder verletzen. Gerade jetzt, wo meine Wunden so gut verheilt waren und ich endlich hier angekommen war, so glücklich über das Erreichte. Ich war so stolz auf mich, ich, Lara, die von der Schule geflogen war und es nun doch endlich auf die andere Seite der Glasscheibe geschafft hatte.
Und nun kam Raphael daher geschlendert und nahm mein Herz mit auf einen Bungee-Jump. Ich verlor das Gleichgewicht, flog im freien Fall durch die Luft und alles war voller Adrenalin gewesen. Doch als ich glücklich unten herum baumelte, schnitt er mir mit einer Schere namens Sophie das Seil durch. Einfach so.
Bums, der Aufprall tat richtig, richtig weh.
Die Tränen wollten nicht warten, bis ich zu Hause die Tore öffnen würde und sie endlich frei herumlaufen konnten. Es waren zu viele, der Damm brach und sie flossen nun ungehindert meine Wangen hinunter. Mitten auf dem völlig überfüllten Flur, mitten in der Uni, mitten in meiner neuen Welt, in der ich doch heute eigentlich so glücklich sein sollte. Eigentlich.
„Lara, warte doch“, rief Raphaels Stimme plötzlich von hinten.
Ich hörte rennende Schritte und spürte auf einmal seine warme Hand auf meiner verkrampften Schulter. „Lara, bitte, lauf doch nicht einfach weg. Bitte, lass uns doch reden!“
Peinlich berührt senkte ich den Kopf und wischte schnell die Tränen von meiner Wange, so gut es eben ging. Das sah er natürlich. Er hielt meine Schulter weiter fest, ging um mich herum und baute sich direkt vor mir auf.
Warum hattet ihr blöden Tränen nicht noch kurz warten können? Es war so peinlich, ich traf ihn hier endlich wieder und dann fing ich erst mal an zu weinen, nur, weil er jetzt eine Freundin hatte. Dabei war es doch nur diese eine Nacht gewesen, nur eine einzige, kurze Nacht, und das auch bereits vor über einem Jahr.
„Lara, es tut mir leid, echt. Aber was hast du denn erwartet?“, sprach Raphael liebevoll in mein verheultes Gesicht.
„Ich habe gar nichts erwartet, ich wusste ja nicht einmal, dass ich dich hier treffen würde. Du springst immer in mein Leben, klaust mein Herz und verschwindest dann wieder damit. Ich will jetzt nach Hause und du musst zu deinem gelben Mantel. Bitte, lass mich jetzt.“
„Sophie, sie heißt Sophie. Lara, bitte weine doch nicht. Du musst mir glauben, ich habe so viel für dich empfunden, wie noch nie zuvor für irgendjemanden. Aber ich kann Sophie doch jetzt nicht einfach verlassen, nur weil du hier plötzlich nach über einem Jahr aus dem Nichts auftauchst. Das wäre einfach nicht fair, so was mache ich nicht.“ Seine Augen baten um Verständnis, auch sie waren ein wenig feuchter als normalerweise üblich.
„Ich weiß, ich verstehe das.“ Ich flüsterte schon wieder, ein dicker Kloß steckte in meinem Hals. Lauter ging es nicht.
„Aber begeistert sein muss ich auch nicht, oder? Raphael, ich gehe jetzt, bitte lass mich jetzt allein. Wir sehen uns ja nächste Woche. Es ist eben, wie es ist, okay?“
Ich drehte mich um und trottete davon. Wieder brannten neue Tränen in meinen Augen. Er ließ mich gehen, diesmal kam er nicht hinter mir her, diesmal versuchte er nicht, mich aufzuhalten.
Ich hätte ihm gerne noch so viel mehr gesagt. Dass es einfach so schön war, ihn wieder zu treffen. Dass mir alles egal war, auch der gelbe Mantel, dass ich nur noch einen letzten Kuss von ihm hätte haben wollen, nur noch einen einzigen. Dass ich jetzt und hier, auch ein Jahr später noch, schon wieder wahnsinnig verliebt in ihn war, immer noch oder schon wieder neu, egal.
Ich hätte ihn fragen wollen, ob ich ein paar Stunden in seine Augen hätte blicken dürfen, nur so, einfach nur so. Ich hätte ihn darum bitten wollen, ihn nur noch einmal zu berühren, vielleicht am Arm oder an den Fingern. Nur noch einmal über seine Haut streicheln zu dürfen und zu beobachten, wie sich die blonden Härchen aufrichteten und sich freuten über jede meiner Berührungen. So wie damals im Bus bei ihm, ganz nah.
Aber natürlich sagte ich dies alles nicht, natürlich hatte ich mich einfach nur umgedreht und war gegangen. Statt all dieser Worte trauten sich nur meine Tränen hinaus und zeigten meine Gefühle allen neuen Kommilitonen, auf die ich mich eigentlich ja so gefreut hatte.