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SEMESTER 1 oder als ich noch ein glücklicher Frischling war
ОглавлениеDann kam der Herbst und mit ihm mein erster Tag an der Fachhochschule.
Diesen Tag werde ich aus mehreren Gründen wohl nie vergessen. Aber der Reihe nach.
Aufgeregt betrat ich das große Gebäude, in welchem ich mich noch einigermaßen auskannte, da ich hier ja einmal gearbeitet und meine Ausbildung absolviert hatte. Allerdings in einem anderen Flur. Jetzt ging ich also die Gänge auf und ab und fand einfach den Raum 202 nicht. Ich fluchte leise vor mich hin und geriet immer wieder in irgendwelche Sackgassen, weil hier gerade überall renoviert wurde und somit viele Wege gesperrt waren.
Ich bog zum gefühlt hundertsten Male um irgendeine Ecke, wieder in der leisen Hoffnung, nun endlich Raum 202 zu finden. Da sah ich sie auf einmal, grau und schmutzig, aber immer noch die alte: ‚meine‘ Glasscheibe! Genau die große Scheibe, an der ich früher so oft und an so vielen Tagen gestanden hatte. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie ich damals, während meiner Ausbildung zur Bürokauffrau, immer da drüben auf der anderen Seite am Kopierer gestanden hatte und sehnsüchtig zu den Studenten hier hinüber geschaut hatte. Immer in dem festen Glauben daran, dass ich wohl nie eine von Ihnen werden würde.
Durch die Renovierungsarbeiten war sie nun sehr dreckig und nahezu undurchsichtig geworden, teilweise hatte man sie verklebt und mit Kartons versehen, aber sie war immer noch da! Nicht gut in Form, aber doch hier, direkt vor mir.
Ich schaute sie an und als wolle ich mit der alten Lara von damals sprechen, lächelte ich fröhlich gegen den Dreck und dachte: „Hei, du hast dich getäuscht, du bist jetzt doch eine von ihnen, du stehst nun doch auf der anderen Seite, du hast es nun doch hier herübergeschafft!“
Ja aber wie das immer so war, Krisen brachten einen eben oftmals dorthin, wo man schon immer hin wollte und was man sich aber niemals zugetraut hatte.
Der Konkurs meiner Eltern, das harte Jahr in New-York und Liliths tanzende Jane-Fonda-Unterstützung im letzten Jahr hatten mich verändert, hatten meinen Traum Wirklichkeit werden lassen und mich hier her gebracht – auf die andere Seite der Glasscheibe. Einfach genial!
Es muss merkwürdig ausgesehen haben, wie ich da so stand und milde lächelnd die dreckige Glasscheibe anstarrte. Aber das bemerkte ich nicht, ich befand mich gerade im Land der endlich erreichten Träume und war glücklich!
Bwwwt bwwwt. Bwwt bwwt, mein Handy meldete sich und riss mich aus meinen wohligen Gedanken.
Ich schaute auf das Display. Lilith! Sie wünschte mir viel Spaß in meiner ersten Vorlesung, ich solle es genießen und ich sei überhaupt die Beste! Und Augen auf in der ersten Vorlesung – die könne manchmal alles verändern. Kussmund, drei Herzen, Kussmund.
Lilith hatte einen Film gesehen, bei dem ein Paar sich in der ersten Vorlesung kennen- und lieben gelernt hatte. Am Ende des Films hatten sie drei Kinder und viel Spaß. Sie meinte, das sei ja wohl mein Film, genau so würde das bei mir auch laufen, ganz sicher.
Na ja, also immer langsam …
Ach apropos, die Vorlesung!
Beschwingt drehte ich mich um und setzte meine Suche nach Raum 202 fort. „Ach schau, jetzt läuft es ja“, dachte ich mir, als ich nur 1 Minute später den Raum entdecke. Musste vorher halt noch der Glasscheibe, ‚Hallo‘ sagen und mich etwas in Dankbarkeit üben, na klar!
Ich war früh dran und platzierte mich ganz vorne in der ersten Reihe. Ja, wie eine Vollstreberin, ich wusste das wohl, aber egal. Ich war so aufgeregt und so stolz, endlich hier sein zu dürfen, da hatte ich mich einfach auf den erst-besten Platz gesetzt, schnuppe jetzt!
Ich stellte meine Tasche neben mich und schaute mich verstohlen um. Alle waren hoch konzentriert mit ihren Handys beschäftigt und schienen völlig cool, ganz im Gegensatz zu mir aufgeregtem Nervenbündel. Keiner strahlte dämlich in der Gegend herum oder rutschte aufgeregt auf seinem Sitz hin und her, na ja, niemand außer mir halt. Ach so, stimmte ja, es gab in diesem Kurs überwiegend Zweit- und Drittsemester aus anderen Studiengängen, denn BWL1 kam nicht nur bei den BWLern vor. Es gab angehende Juristen hier, Sportstudenten und zukünftige Berufsschullehrer – eine bunte Mischung aus verschiedenen Studiengängen, allesamt versammelt in dieser einen, für mich ganz neuen Vorlesung an meinem ersten Tag hier an der Uni. Ja genau, dies hier waren ja schon alles ‚alte Hasen‘, für die war das bestimmt nur langweilige Routine – schon klar.
Für mich aber nicht. Deshalb ließ ich mir meine gute Laune nicht verderben und war heimlich einfach weiter total happy und voll stolz auf mich. Ich kramte ein Stück Schokolade aus meiner Tasche hervor und schob es mir in den Mund. Soll ja beruhigen …
Ich genoss die schmelzende Schokolade auf meiner Zunge noch, als auch schon der braun gebrannte und gut gelaunte Professor den Raum betrat. Hinter ihm schob sich noch schnell ein letzter Zuhörer mit in den Raum. „Aha, noch ein Kommilitone“, dachte ich bei mir. Wie das klang, so intellektuell, ‚Kommilitone‘, hach, einfach super! Mit meinem Dauergrinsen im Gesicht und dem Rest der Schokolade zwischen den Zähnen strahlte ich erwartungsvoll den Professor an.
Der aber ignorierte mich und Schritt stark und selbstbewusst weiter Richtung Rednerpult. Als der Nachzügler nun aus dem Schatten des Professors hervortrat, verschluckte ich mich doch fast an meinem Stück dunkler Bitter-Sahne-Creme-Schokolade. Mein Dauergrinsen wich einem unübersehbaren, total perplexem Blick. Ich starrte in braune, sehr vertraute Augen und sie starrten zurück.
Raphael!