Читать книгу Nebeneffekt - Sandra Diepenbrock - Страница 8
Überall Liebe – nur irgendwie bei mir nicht …
ОглавлениеIn den nächsten Wochen war viel los. Ich begann meinen neuen Job, der erfreulicherweise sehr leicht und sehr angenehm war. Wieder viel Ablage, dafür aber gutes Geld. Leider irgendwie immer Überstunden, die nicht wirklich bezahlt wurden, aber daran war ich ja noch von New York her gewöhnt. Im Vergleich zu den Arbeitszeiten in den USA damals war das für mich hier ‚Pille-Palle‘, also alles gut.
Meine Eltern kamen zu Besuch und brachten meine restlichen Sachen vorbei. Lilith und Michael zogen oben ein und wir verbrachten einige Wochenenden in Baumärkten und bei Ikea.
Michael und Lilith begannen auch jeweils wieder ihre Jobs, Michael ging zurück in seine alte Firma, jedoch in eine neue Abteilung, und Lilith begann in einer Boutique in der Innenstadt zu arbeiten. Michael war zufrieden, er hatte von vornherein auf 8 Wochen Urlaub im Jahr bestanden, da er ohne lange, freie Surfwochenenden nicht mehr leben könne, wie er immer wieder beteuerte. Da er sehr qualifiziert war und man froh war, dass er endlich von seiner Auszeit auf Sylt zurückgekehrt war, hatte man dem zugestimmt und auch sonst die Konditionen leicht angepasst an den neuen, freiheitsliebenden und leicht veränderten Michael.
Lilith hingegen war nicht so zufrieden mit ihrem Job und kompensierte dies mit Unmengen von Sport am Abend im Fitnessstudio um die Ecke. Nachdem sie dort mehr Zeit verbracht hatte als zu Hause, fragte zu unser aller Glück irgendwann endlich das Studio an, ob sie sich nicht vorstellen könne, dort fest als Trainerin zu arbeiten.
Keine zwei Wochen später hatte sie ihren Job gekündigt und gab jeden Tag mehrere Stunden Zumba, ‚Jumping‘, Step-Aerobic und was nicht noch alles für Kurse. Es wurden immer mehr Stunden und immer ausgefallenere Sachen kamen dazu, so als wolle sie die neue Jane Fonda von Osnabrück werden. Zwischendrin machte sie eine Fortbildung nach der anderen und war einfach nur total happy. Manchmal kam ich da gar nicht mit, so gut wie sie neuerdings drauf war und immer nur herumflötete und supergute Laune verbreitete. Sie habe jetzt endlich ‚ihr Ding‘ gefunden und das sei ja einfach so cool, erklärte sie mir immer wieder. Na denn.
Ich hingegen drückte tagsüber brav wieder die Schulbank und lernte fleißig am Abend. In meiner freien Zeit arbeitete ich in der Unternehmensberatung oder besuchte Lilith im Fitnessstudio. Dort pustete ich mir tanzend und von Liliths Freude angesteckt meinen Kopf immer herrlich frei, das war schon wirklich richtig super mit diesem neuen Job von Lilith.
Das Lernen war leider nicht so leicht für mich, wie ich mir das zuvor erhofft hatte. Aber im Vergleich zu früher ging es ganz gut, ich musste mich halt sehr anstrengen und mir fiel das alles nicht einfach so zu. Aber insgesamt funktionierte es, ich schrieb passable Noten und kam klar! Das war klasse und ich genoss das einfach so sehr, endlich war auch ich eine gute Schülerin geworden, voll cool!
Ganz uncool dagegen waren die Ergebnisse meiner Recherche in Sachen Raphael. Ich hatte stundenlang gegoogelt, gefacebooked und was nicht alles unternommen. Aber ich fand ihn einfach nicht, nirgends! Überall hielt ich nach ihm Ausschau, was total unsinnig war – denn wieso sollte er auch in Osnabrück herumlaufen, wo er doch mittlerweile sicherlich längst sein Studium in Flensburg aufgenommen haben musste. Die Erinnerung an ihn und an sein hübsches Gesicht verblassten langsam, aber diese starken und heftigen Gefühle für ihn, von denen konnte ich mich irgendwie einfach nicht befreien. Also gab ich mich dem manchmal voll und ganz hin, abends, wenn ich allein war, erinnerte ich mich gerne mal an diese eine, herrliche Nacht, knuddelte mein Kopfkissen und träumte von meinem blonden Surferboy, den ich einfach nicht vergessen konnte und irgendwie auch gar nicht wollte.
„Was macht die Suche nach Raphael, irgendwelche Fortschritte?“, fragte Anneliese regelmäßig nach, wenn wir uns bei Kaffee und Kuchen in der Gemeinschaftsküche trafen, zu der wir Liliths Küche in der Mitte des Hauses einstimmig erklärt hatten.
„Nicht viel, leider“, konnte ich immer nur antworten, was mich auch regelmäßig sehr betrübte.
Aber wie auch schon am ersten Tag der Begegnung zwischen Anneliese und mir gab es regelmäßig eine Art Liebes-Ausgleich, für den Anneliese und ihre 60ig-Plus-Dating-App verantwortlich war.
Nachdem Annelieses Date Nummer zwei, Herr Friedhelm, nämlich nach zwei weiteren Treffen aufgrund von mangelndem Einfühlungsvermögens ausschied, hatten wir alle anschließend noch Herrn Neubauer und Herrn Müller kennenlernen dürfen. Wir hatten uns immer einen Spaß daraus gemacht, die jeweils neuen Kandidaten zunächst in die Gemeinschaftsküche zu beordern und dort noch ein wenig auszufragen, bevor Anneliese dann nach frühestens zwanzig Minuten dazu gekommen war und ihre Dates schließlich grinsend von unseren Fragen erlöst hatte.
So verhalf uns allen Annelieses Dating-App immer wieder zu neuem Spaß und zu ausreichend Gesprächsstoff, während die Liebe zwischen Michael und Lilith so ganz nebenbei stetig und unübersehbar wuchs und wuchs.
So war es auch nicht verwunderlich, dass Michael Lilith in den Herbstferien direkt am ersten Tag unseres Urlaubes einen sehr romantischen Heiratsantrag gemacht hatte. Wir alle, selbst Anneliese, waren für ein paar Tage nach Sylt gefahren, hatten ausspannen wollen, wollten surfen gehen oder einfach nur die Insel genießen. Na gut, ich wollte nicht nur surfen und ausspannen, ich war auf der Suche nach Raphael und wollte die Insel abklappern in der Hoffnung, ihm irgendwo an irgendeinem Strand vielleicht doch zufällig zu begegnen.
Am Morgen des zweiten Urlaubstages jedenfalls saß Lilith in der Küche und grinste ziemlich merkwürdig ihre rechte Hand an. Ich fand das sehr seltsam, zumal die Zeiger der Uhr noch nicht mal auf acht Uhr morgens standen und Lilith um diese Zeit normalerweise noch tief und fest schlief.
„Michael hat mir gestern Abend einen Heiratsantrag gemacht, da oben am Meer, wo wir immer spazieren gehen, weißt du?“, säuselte Lilith mir entgegen, als ich schlaftrunken die Küche betrat und nach dem Kaffee spähte.
„Ach Lilith, wie schön, eine Hochzeit!“, freute ich mich, so gut es mir um diese Uhrzeit möglich war.
Somit verbrachten wir den zweiten Urlaubstag mit Überlegungen dazu, wie und wo man denn feiern wollte und das junge Glück am besten besiegeln konnte. Schließlich einigte man sich auf den kommenden Sommer und auf eine kleine Feier im Garten unseres Hauses, was Anneliese für den Rest des Urlaubes strahlen ließ.
Lilith und Michael strahlten ebenfalls, nur ich konnte dieses ganze Glück lediglich in Maßen teilen. Sehnsüchtig saß ich allabendlich am Ufer und hoffte darauf, endlich wieder das dunkelblaue Segel irgendwo entdecken zu können, welches mich früher so oft mit seinen Angebereien genervt hatte. Aber hier nervte nur noch eines und das war die leider sehr ergebnislose Suche nach meinem kurzen und doch so intensiven Sommerflirt.
Irgendwann war auch dieser Urlaub zu Ende, der Alltag hatte uns wieder und trotz meiner so gar nicht erfolgreichen Suche nach Raphael betete ich jeden Abend um ein zufälliges Widersehen – das konnte ja nicht schaden, eben nur um auch wirklich alles getan zu haben.
Immerhin, der Zufall war es schließlich auch gewesen, der Anneliese an einem wunderschönen Tag im November schließlich auch zu ihrem zweiten großen Liebesglück verholfen hatte, auf das wir alle schon gar nicht mehr gewagt hatten zu hoffen. Den ganzen Herbst über hatte sie nämlich zahlreiche und immer irgendwie doch sehr unglückliche Dating-Erfahrungen machen müssen, was uns alle doch sehr mitgenommen hatte.
Ok, langweilig war das für uns nie gewesen, denn Anneliese hatte nie ein Problem damit gehabt, die Gespräche und auch die Annäherungsversuche der jeweiligen Herren detailliert wieder zu geben und ausführlich darüber zu berichten, mit welchen Wünschen und Vorstellungen sie jeweils so um die Ecke gekommen waren. „Warum muss ich in meinem Alter eigentlich noch solche Erfahrungen sammeln, ich meine, ganz ehrlich, ich muss nicht wissen, welche Art Mann was für Wünsche und Vorstellungen hat – nein, wirklich nicht! Ich will einfach nur einen netten, ganz normalen Mann kennenlernen und mich langsam und normal verlieben – mehr nicht!“
Gelacht hatten wir viel, aber auch getröstet, denn so amüsant die Geschichten auch jedes Mal gewesen waren, so traurig war wiederum auch immer wieder die Erkenntnis, dass es anscheinend doch keinen gab, der auch nur ansatzweise an das herankam, was Anneliese mit ihrem verstorbenen Mann erlebt hatte.
Bis zu diesem einen Tag im November jedenfalls, denn da änderte sich alles.
Freddie Mittermeier hieß der Mann, den Anneliese wirklich rein zufällig und ganz ohne Dating-App im Baumarkt kennengelernt hatte. Es geschah in der Schrauben- und Dübelabteilung, in der Anneliese verzweifelt auf der Suche nach einer ganz bestimmten Ersatzschraube für ihre Kaffeemaschine in den Regalen herumgeirrt war.
Freddie Mittermeier jedenfalls hatte höflich seine Hilfe angeboten, und so war zwischen den ganzen Schrauben, Muttern und Dübeln ein erster, zaghafter Funke der Zuneigung zwischen den beiden einsamen Seelen aufgeflammt.
Mutig hatte Freddie schließlich an der Kasse nach Annelieses Telefonnummer gefragt und so kam es nun, dass diese Baumarktbekanntschaft wie jeder andere Anwärter zuvor auch, zu uns in die Küche gebeten wurde und sich dort den Fragen von Lilith, Michael und mir stellen musste. Freddie aber war es auch, der gar nicht mehr gehen wollte und mit dem wir alle uns auf Anhieb so wohl fühlten, dass Michael plötzlich, als Anneliese ausgehbereit im Türrahmen erschien, fragte: „Hey Freddie, was halten sie davon, wenn wir einfach beim Italiener um die Ecke ein paar Pizzen bestellen und uns alle hier zusammen einen gemütlichen Abend in der Küche machen?“
Freddie, der bereits ein Flensburger Pils in der Hand hielt, welches Michael ihm ebenfalls zuvor premierenmäßig überreicht hatte, lächelte Anneliese verliebt an und nickte erfreut. Ich vermutete allerdings stark, dass dem sowieso alles egal war, solange Anneliese nur bei ihm sein würde. Der hätte auch kalte Buletten ohne Senf oder sogar trockenes Brot gegessen, ganz klar, der war verliebt!
„Wieso bleiben wir jetzt hier, was ist denn passiert?“, erkundigte sich Anneliese verstört und knetete dabei den Mantel in ihren Händen.
„Nichts, Mama, nichts“, klärte Michael sie auf, „wir sind nur gerade so nett zusammen und alle würden Freddie gern noch etwas näher kennenlernen, nicht wahr?“
Lilith und ich nickten ebenfalls und wussten auch nicht so recht, wie uns geschah. Was eigentlich als No-Go für ein erstes Date galt, nämlich direkt ein Abend in Familie, entpuppte sich jedoch als die beste Idee, die Michael seit Langem gehabt hatte.
Michael deutete Anneliese, sich zu setzten und zu entspannen und schenkte uns allen ‚als Eisbrecher‘ direkt einen Jägermeister ein, den wir dankend annahmen. Wirklich darüber nachgedacht hatte nämlich niemand, wie es wohl werden würde, einen kompletten Abend mit einem völlig Fremden, zufälligen Flirt von Anneliese aus dem Baumarkt zu verbringen. Nach dem dritten Jägermeister allerdings hatten Anneliese und Freddie bereits ein paar gemeinsame Bekannte aus dem Senioren-Fitness-Verein ausgemacht, dem sie beide angehörten, wie sie erfreut feststellten.
Jedenfalls haben wir alle viel gelacht an diesem Abend, viel getrunken und uns gegenseitig mit lustigen Anekdoten aus vergangenen Zeiten überboten. Von da an gehörte Freddie quasi zum Inventar und wir konnten dabei zusehen, wie Anneliese und Freddie sich von Tag zu Tag mehr ineinander verliebten. Irgendwann war es für uns ganz normal geworden, das Freddie irgendwie immer da war und Anneliese offensichtlich eine neue, wundervolle zweite Liebe gefunden hatte.
Der Herbst zog vorbei und auch der Winter und schon bald trugen die Bäume wieder grüne, saftige Blätter und herrliche Blüten. Viel gelernt, viel Sport bei Lilith getrieben und einmal eine kurze Affäre versucht – das war meine Bilanz der letzten Monate. Meine Affäre, ein blonder Typ, dem ich mich eines Abends volltrunken hingegeben hatte, sah Raphael sehr ähnlich. Er war schon ganz süß und schnuckelig und so, aber irgendetwas fehlte. Es fehlte das, was ich bei Raphael gehabt hatte, es fehlt die tiefe, nicht wirklich erklärbare Vertrautheit und dieses Gefühl, das einfach alles gut war, so wie es war.
Manchmal dachte ich schon, dass ich doch nicht ganz normal war, weil ich immer noch diesem einen Mann hinterher trauerte, den ich nur so kurz kennengelernt hatte und mit dem ich ja lediglich eine einzige Nacht hatte verbringen dürfen. Dann aber wieder dachte ich, es sei doch auch alles egal und dass sich dieser Zustand bestimmt irgendwann von ganz alleine wieder ändern würde.
Und so verging die Zeit, ich lernte, träumte von Raphael (egal, ob verrückt oder nicht, mir gefiel das!), und freute mich über die Liebe, die sonst so vielfältig um mich herum gelebt wurde. Immer, wenn ich Anneliese mit Freddie zusammen sah, gab mir das die nötige Zuversicht, dass auch ich bestimmt eines Tages noch meine neue, große Liebe finden würde können.
Im Mai machte ich schließlich meinen Abschluss und bestand das Abitur tatsächlich auch noch als eine der Besten – der Wahnsinn! Ich war zu einer richtigen Streberin geworden und es war so cool, endlich einmal gute Noten geschrieben zu haben! Wir feierten mehrere Tage lang, zu Hause mit Anneliese, Lilith und Michael sowie auch mit meiner Freundin Sara in den Klubs von Osnabrück.
Ich besuchte meine Eltern ausgiebig und wir freuten uns gegenseitig darüber, wie gut es uns doch jeweils ging. Meine Eltern waren so richtig angekommen in Augsburg und hatten ihren Konkurs und den Umzug anscheinend sehr gut überstanden. Papa hatte mittlerweile eine eigene, kleine Kollektion namens ‚Superweib‘ entwickeln dürfen und war happy. Mama war auch happy in ihrer Boutique und sah irgendwie frischer aus, vielleicht lag das allerdings aber auch an ihrer neuen Freundin, der Kosmetikerin mit diversen Geheimnissen, die mir allerdings niemand verraten wollte.
Nachdem ich mich also persönlich davon überzeugt hatte, dass bei meinen Eltern alles in bester Ordnung war, fuhr ich wieder zurück nach Osnabrück, ging zur Uni und immatrikulierte mich für den Studiengang BWL! Echt cool, ich würde jetzt ab dem nächsten Semester eine echte Studentin mit echtem Studentenausweis sein. Ich war happy!
Ich arbeitete viel und war auf Wolke 6, auf der, die für das berufliche Glück zuständig war. Regelmäßig fuhr ich nach Sylt und suchte dort nach meiner verloren gegangenen Wolke 7, jaaaa, immer noch nach Raphael, okaaaay! Loslassen war ja noch nie so meine Stärke gewesen, zugegeben.
Lilith befand sich mitten in den Hochzeitsvorbereitungen und somit tatsächlich dauerhaft auf Wolke 7, genau wie auch Anneliese mit ihrem Freddie. So bestand unser aller Sommerglück darin, die Hochzeit ausgiebig und ausführlich vorzubereiten und anschließend genauso ausgiebig und ausführlich zu feiern. Wie süß alle waren, so viele Verliebte und glückliche Paare, Hochzeiten waren doch einfach etwas Herrliches! Nur ich kam in Begleitung meiner alten Schulfreundin Sara und da wir zwei auch nicht wirklich ineinander verliebt waren, musste ich mich in diesem Sommer eben einfach mit Wolke 6 zufriedengeben.
Egal, Wolke war Wolke und so erlebten wir ein wunderschönes Fest im Garten ‚unseres‘ Hauses, welches gefühlt den ganzen Sommer andauerte.