Читать книгу Nebeneffekt - Sandra Diepenbrock - Страница 6
Ein Vorname und das Work-Life-Balance-Dingsda
ОглавлениеPiep-piep – piep-piep. Das Zwitschern meines Handys schreckte mich aus meinen Träumen. Eine Nachricht von Lilith! Ich tippte auf das blinkende Signal meines Handys. Zwei Sekunden, bis sich endlich die Worte auf dem Display formten, nur zwei Sekunden. Gefühlt eine Stunde für mich.
Endlich, ich konnte alles lesen! Ich war gespannt wie ein Flitzebogen auf Raphaels Reaktion, auf seinen Nachnamen und ich wollte auch endlich seine Telefonnummer in mein Handy einspeichern. Dann würde ich ihm einen Smiley schicken können oder einen Kussmund – vielleicht sogar ein paar Herzen, wieso nicht?
Ach nein, ich würde ihn einfach direkt anrufen, dann könnte ich seine Stimme hören, diese raue, tiefe und herrliche Stimme. Ja, das würde ich machen, genau so!
„Er ist weg – tut mir leid. Bin komplette Küste abgefahren, kein grüner Bus! Was nun?“
So lautete doch tatsächlich Liliths Nachricht. Mehr nicht! Ich las die Worte wieder, wieder und immer wieder.
Wie, er war weg? Wie jetzt? Wir waren doch nicht mal eine Stunde weg gewesen, na ja, vielleicht doch eine Stunde, aber mehr auch ganz sicher nicht! NUR EINE STUNDE – meine Güte! In dieser kurzen Zeit war der aufgewacht und komplett verschwunden oder wie jetzt? So ganz weg? Das konnte doch wohl nicht sein, oder?
Panik stieg in mir hoch. Schnell, nachdenken, was wusste ich über ihn: Er hieß Raphael, Raphael und wie weiter? Keine Ahnung. Hatte ich ihm überhaupt meinen Nachnamen genannt? Nope, auch nicht!
Seine Eltern wohnten auf einer der anderen Inseln, hatte er erzählt, aber auf welcher? Ich würde ja schlecht alle Inseln abklappern können und überall den Postboten nach einem blonden, sexy Raphael fragen, Nein, das würde nicht funktionieren.
Was noch, was wusste ich noch? Er wollte im Sommer sein Studium in Flensburg beginnen, soviel wusste ich auch noch. Aber was genau wollte er noch mal studieren – was war das noch?
Ich schlug mir leicht gegen den Kopf und ermahnte mich, doch noch mal gut nach zu denken. Sofort fielen mir wieder seine braunen Augen ein und dazu dieser Blick, der mich eingefangen und eingewickelt hatte in einen Nebel, der diese nun so wichtigen Informationen in der letzten Nacht nicht zu mir hatte durchdringen lassen.
Ich war betrunken gewesen – und hypnotisiert, ja, ok, wie sollte man sich da auch solche weltlichen Dinge wie den Studiengang oder einen Nachnamen merken? Woher hätte ich auch wissen sollen, dass das hier heute so hektisch und unglücklich ablaufen würde?
Sein Vater hatte immer zu viel gearbeitet, ja, das fiel mir auch auf einmal wieder ein. Aber wo – wo zum Geier lebten die? Er hatte mehrere Geschwister, er surfte schon lange, er wollte nie werden wie sein Vater, weil der seiner Meinung nach kein Leben hatte, sondern immer nur arbeitete. Deshalb die Auszeit auf Sylt. Nun wollte er irgendwas mit Fitness, Ernährung und Work-Life-Balance-Dingsda studieren. Meine Güte, so viele Worte und doch so wenig brauchbare Informationen. Ich wusste viel über seine Gefühle, aber kannte wenige Fakten. Heute Nacht war das ja auch alles richtig und schön so gewesen, aber jetzt war das einfach nur großer Mist. Mist, Mist, Mist!
Die komplette Zugfahrt verbrachte ich damit, mich abwechseln fertigzumachen für meine Blödheit oder darüber nach zu grübeln, wie ich Raphael nun doch noch irgendwie ausfindig machen konnte. Nach 3 Stunden kam ich zu folgendem Ergebnis: Erstens: Ich war nicht blöd, aber wahrscheinlich schock-verliebt und das alles war eben einfach nur dumm gelaufen. Zweitens: Ich hatte tatsächlich keine Ahnung, wie ich ihn finden sollte mit den wenigen Fakten, die mir zur Verfügung standen.
Ich schickte Lilith viele, sehr verzweifelte Nachrichten. Sie möge bitte noch mal losfahren, er könne ja noch nicht weit sein und ob sie denn auch wirklich überall genau geschaut habe. Lilith war irgendwann so genervt, dass sie Michael sogar zum Surf-Shop oben am Ende des Strandes schickte, um sich dort nach Raphael zu erkundigen. Aber auch die konnten nicht helfen, niemand schien ihn zu kennen bzw. niemand kannte seinen Nachnamen oder hatte eine Telefonnummer für uns.
Es war zum Verzweifeln! Gleich würde der Zug anhalten, gleich kam meine Station, gleich war ich da. Ich war so müde, so traurig und so fertig. Es war so eine schöne Nacht gewesen, so schön! Ich konnte Raphael immer noch riechen, wenn ich an meiner Haut und an meiner Kleidung schnupperte. Er war immer noch da, aber doch irgendwie weg. Verloren hatte ich ihn, meinen sexy Surfer Boy, der mir letzte Nacht Zutritt zu seiner Seele und noch zu ganz anderen Dingen gewährt hatte.
Völlig demotiviert stieg ich aus dem Zug und nahm mir ein Taxi zu meinem neuen Zuhause. Es regnete, wie passend.