Читать книгу Nebeneffekt - Sandra Diepenbrock - Страница 4
Mexikanischer Bulli mit einer Prise Hawaii
ОглавлениеDick eingemummelt in einen gemütlichen Pullover und mit süß zerzausten Haaren öffnete mein Retter von vorhin mir seine Autotür. Oh wow, so trocken und so ganz normal angezogen sah der ja noch viel süßer aus – du meine Güte!
„Ich habe Sandwiches gemacht und Tee und Schnaps zum Aufwärmen hab ich auch dabei, als kleines Dankeschön. Ich hoffe, du hast Hunger?“, plapperte ich schnell los, bevor mich dieser Anblick zu verlegen machen konnte.
„Oh ja klar, super, komm doch rein in die gute Stube, ist auch schön warm hier“, sprachs und trat einen Schritt zur Seite.
Ich kletterte in den Bus hinein und schaute mich um. Zunächst folgte mein Blick dem warmen Windhauch, der mich lau und freundlich aus der kleinen Standheizung in der Ecke begrüßte. Der kleine Heizkörper stand vor einem festen und schweren Vorhang, welcher die frisch produzierte Wärme davon abhielt, nach vorn in den Fahrerbereich vorzudringen und durch die Frontscheiben hinaus in die Kälte zu verschwinden. Raphael hatte ein schönes Blau als Stofffarbe gewählt, und anscheinend noch mehr davon gekauft. Der Vorhangstoff wiederholte sich nämlich an den Fenstern, die ebenfalls zugezogen und somit abgedichtet worden waren.
„Leg deine Jacke einfach in irgendeine Ecke“, hörte ich Raphael sagen. Aufgrund eines plötzlich aufkommenden Hitzegefühls zog ich nämlich einfach meine dicke Winterjacke aus, obwohl er mich überhaupt noch nicht dazu aufgefordert hatte.
Ich lächelte ihn dankbar an und sah mich weiter um. Ein kleiner Schrank mit Bunsenbrenner darauf und ein gebrauchter Kaffeebecher deuteten auf eine Art Kochgelegenheit hin, daneben befanden sich fein säuberlich aufgehängt und sortiert ein paar Surfsachen, die dort zum Trocknen gelagert waren.
Raphael setzte sich auf die dicke Matratze, die dieses kleine, sehr gemütliche Heim ganz klar dominierte. Eine farbenfrohe Decke und ein paar passende Kissen hatten den Schlafplatz allerdings zu einer Art Sofa umfunktioniert, sodass ich – ohne mich dabei komisch zu fühlen – gern neben Raphael auf dieser Sitzgelegenheit Platz nahm.
„Schön hast du es hier, wirklich, total gemütlich!“
Wenn man was gut findet, dann ruhig darüber sprechen – pflegte meine Oma schon immer zu sagen. Lob könne jeder gut gebrauchen!
„Und der Vorhang ist super, so heimelig! Auch die Kissen hier, und die schöne Decke, wirklich, richtig schön alles!“
Und sprich ruhig davon, was genau du so gut findest – erklärte mir meine liebe Oma weiter. Jeder mag das, kommt immer gut an so was!
„Oh dankschön!“ Raphael strahlte mich an.
Hey, das funktionierte ja richtig gut, super, danke liebe Omi!
Es war aber auch richtig nett hier in dieser kleinen, wärmenden und freundlichen Oase, die eigentlich ja ein Auto war. Raphael aber hatte alles so eingerichtet, dass man sich eher wie in einem gemütlichen, sehr kleinen mexikanischen Wohnzimmer wähnte, gemixt mit ein wenig Hippi-Style und einer Prise Hawaii.
Ich lächelte fröhlich zurück und entfaltete das Papier, in das ich die Sandwiches zuvor eingewickelt hatte.
„Magst du?“, fragte ich und hielt Raphael meine kleinen Meisterwerke auffordernd hin.
„Hey super, klasse, die sehen ja gut aus. Wow Lara, gut gemacht, sogar mit Gurken und Tomaten, spitze!“
Aha, der hatte anscheinend auch so eine Omi wie ich.
„Ich hab zwar schon bestimmt ein Dutzend Dosenwürstchen verdrückt, bin aber immer noch superhungrig!“, rief er weiter freudig aus.
Na klar hatte der Hunger, nach der Aktion vorhin da draußen hätte ja sogar ich ein halbes Schwein verdrücken können. Und ich wurde abgeschleppt, er hingegen hatte die ganze Arbeit gemacht!
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und verdrückten meine zugegeben recht leckeren Sandwiches. Remoulade und Tomate, etwas Senf und ein paar Scheiben Gurke, dazu Käse und Wurst in Hülle und Fülle – genau so hatte ich das in Amerika gelernt. Die häuften da einfach alles, was der Kühlschrank so hergab, übereinander auf einen Bagel und pfiffen sich so gerne mal eben 2000 Kalorien in zwanzig Minuten rein.
Für heute aber war das genau das Richtige, denn das brauchten Raphael und ich gerade, Kalorien hatten wir weiß Gott genug verbraucht in den letzten Stunden. Mein Retter genoss zu meiner Freude die improvisierte Mahlzeit und lächelte mich dankbar an.
Raphael – was für ein schöner Name – genau wie sein Besitzer! Verstohlen wanderte mein Blick von seinen großen Füßen, die in dicken Wollsocken steckten, über seine muskulösen Beine, die man durch die enge Jeans gut ausmachen konnte, bis hinauf zu seinem Oberkörper.
Allmählich begann Raphael nun damit, mir zwischen den Bissen irgendetwas zu erzählen, ich weiß davon ehrlich gesagt nicht mehr wirklich viel. Für mich bewegten sich einfach nur ein paar wundervolle Lippen direkt vor meinen Augen, die zu einem wahnsinnig markanten und doch weichem, wunderschönen Gesicht gehörten. Das Ganze umrahmt von den hübschesten, blonden, leicht welligen und etwas längeren Haaren, die ich je gesehen hatte. Dazu ein paar braune Augen, die meinen Verstand und mein Gehör ausschalteten, sodass ich ihn nur noch anstarrte und still vor mich hin kaute. Er lächelte, zog dabei seine rechte Augenbraue leicht hoch und umwickelte mich mit diesem Blick, der direkt in mein Herz ging und es butterweich werden ließ.
Was war das denn bitte???
War das so eine Art Helfersyndrom, die Gerettete verliebte sich binnen Sekunden in den Retter, weil sie ihm ihr Leben schuldete – oder was? Vielleicht reagierte der normale menschliche Körper ja immer auf so ein Ereignis in dieser Art und Weise, ja, vielleicht war das einfach ganz normal? Meine Güte, wie heftig!
Verstört kramte ich in meiner Tasche, fischte die Flasche Jägermeister heraus und hielt sie Raphael unter die Nase. Dankend nahm er gleich mehrere kräftige Schlucke und reichte mir schließlich die Flasche wieder zurück.
Sofort nahm ich ebenfalls einen ordentlichen Schluck. Und gleich noch einen. Das würde mir sicher helfen, dachte ich bei mir, das würde mich hoffentlich mal etwas lockerer machen, ich war ja total durch den Wind, mein Gott!
Ja, tatsächlich, das tat schon gut, richtig gut.
Allmählich wurde ich lockerer und begann nun auch damit, ihm etwas von mir zu erzählen. Ich erzählte von New York, wo ich das letzte Jahr verbracht hatte und davon, wie Lilith mich nun nach Sylt eingeladen hatte, damit ich mir hier eine Auszeit nehmen konnte und mir somit hoffentlich über meine weitere Zukunft klar werden zu können.
Zwei weitere Jägermeister lösten meine Zunge noch mehr und ich plapperte und plapperte, als bekäme ich pro Wort fünf Cent.
Ich schwärmte von Sylt, vom Surfen, vom weiten Meer und davon, wie froh ich war, dass ich die letzten drei Wochen hier hatte verbringen dürfen. Schließlich erzählte ich ihm noch von meinen neu gereiften Plänen, dass ich nun nach Osnabrück zum Studieren gehen wollte und mit Anneliese, Michaels Mutter, zusammen in ihrem Haus wohnen durfte. Ich erzählte von dem Nebenjob, den Lilith mir besorgt hatte, und den ich bereits übermorgen in Osnabrück beginnen durfte. Eine Stammkundin aus der Boutique, in welcher Lilith hier arbeitete, kam nämlich auch aus Osnabrück und leitete dort eine Unternehmensberatung. Sie brauchte dringend eine Aushilfe zur Unterstützung, und so hatten wir uns überlegt, dass ich doch prima diese Aushilfe sein konnte. Ich war ja schließlich gelernte Bürokauffrau und so waren wir uns schnell einig geworden, und nun konnte ich tatsächlich schon übermorgen dort anfangen zu arbeiten.
„Ich freue mich sehr darauf, wow, neuer Job und dann bald noch das Studium! Ehrlich, ich hab aber auch echt etwas Angst davor, ob ich das alles so schaffe, das mit dem Job und dann der BWL-Kram und so.“
Es war wirklich komisch, ich kannte Raphael kaum und doch fühlte ich mich ihm bereits jetzt schon so nah und so vertraut. Fast so, als hätten wir zwei die letzten drei Wochen hier zusammen verbracht, und nicht Michael, Lilith und ich.
„Du schaffst das, ganz sicher, so wie ich dich heute da draußen erlebt habe, glaube ich, du bekommst alles hin. Du warst echt tough, weißt du das eigentlich?“, sprach er liebevoll und einfühlsam zu mir hinüber.
Mir wurde warm, richtig warm. Bestimmt war mein Gesicht mittlerweile rot wie eine Tomate, zumindest mal hellrot, soviel stand fest.
Ob ich wohl meinen Pullover ausziehen konnte, ohne dass das jetzt etwas merkwürdig rüberkommen würde?
„Ja, ich weiß nicht, ich hoffe es“, stotterte ich zurück und senkte dabei verlegen meinen Tomatenkopf. Puh, diese Hitze hier drin!
„Na klar, du bist super – finde ich jedenfalls“, flüsterte er auf einmal so leise in meine Richtung, dass ich ihn fast nicht verstehen konnte. Ich hob den Kopf und schaute direkt in seine braunen, leuchtenden Augen. Sie lächelten mich an und kamen näher. Einfach so.
Nun hob er seine rechte Hand und legte sie sanft an meinen Hinterkopf. Behutsam zog er mich zu sich hinüber, drehte seinen Kopf leicht schräg und legte einfach seine weichen Lippen auf die Meinen.
Mir wurde noch heißer. Oha, wow, Mann, ich kannte den doch gar nicht und nun direkt knutschen? ‚Rettersyndrom‘, ich sag’s ja, total durch waren wir. Aber beide gleich durch offensichtlich, welch ein Glück!
„Ach“, dachte ich mir nur, „kann schon mal passieren so was nach einer solchen Extremerfahrung, darf schon mal sein!“
Obwohl ich kaum etwas über diesen Mann wusste, küsste ich kräftig zurück und genoss. Denn, ganz ehrlich, genau das hatte ich mir die ganze Zeit über heimlich und doch sehr intensiv gewünscht.
Schon als er mir die Hand auf den Hinterkopf gelegt hatte, war es komplett vorbei gewesen mit meiner Widerstandskraft, die mir irgendwo zwischen dem Klopfen an die Tür des Busses und dem ersten Schluck Jägermeister verloren gegangen war.
Sanft, etwas weniger sanft, gar nicht mehr sanft, nur noch tief leidenschaftlich berührten sich unsere Lippen, immer und immer wieder. Ganz lange. Keiner sprach mehr ein Wort, wir ließen unsere Körper und unsere Hände einfach machen.
Ich zerfloss wie Butter in seiner Umarmung und in seinen Berührungen und wollte einfach nur, dass dies hier nicht mehr aufhören sollte. Nie mehr.
‚Retter-Syndrom‘ hin oder her, ich hatte so viele Gefühle für diesen jungen, wundervollen Mann und die wollten alle raus. Jetzt und hier und sofort. Raus auf die Wiese und spielen! Also öffnete ich den Haken der Leine und ließ los. Ich verlor mich in seiner Umarmung und in seinen Küssen, die er überall auf meinem nun doch sehr heiß gewordenen Körper verteilte.
Ich küsste und fummelte ohne Scham zurück, mir war alles egal, ich wollte mehr! Ich war gerade dem alten Sensenmann von der Schippe gesprungen und wollte leben, und zwar ausgiebig. Jetzt und hier und mit Raphael, jawohl!
Ich gab Gas und legte meine ganzen wirren und heftigen Gefühle in diesen Moment. Raphael gab auch Gas und so gingen wir den ganzen Weg bis zum Ende, hier in seinem Bus auf der kleinen Matratze unter den himmelblauen Vorhängen, die uns vor allem beschützten, nur nicht vor unseren starken Gefühlen für einander. Ich weiß auch nicht, was das genau war mit ihm und mir, aber es war wunderschön. Raphael war mir so vertraut, so als würde ich ihn schon lange und richtig gut kennen – und lieben.
***
Nach mindestens einer Stunde voller Liebe lagen wir nackt und zufrieden nebeneinander, ich fuhr sanft mit meinen Fingern über Raphaels weiche Haut und war glücklich. Dabei hatte ich wenige Stunden zuvor überhaupt erst seinen Namen erfahren. Egal, meine Gefühle sprachen sehr klar und deutlich zu mir und meinten, es sei alles gut und richtig und in Ordnung. Na also.
Wir redeten die ganze Nacht. Wir sprachen über Sylt, über das Meer, über unsere Wünsche und Träume und machten uns gegenseitig ganz tolle Komplimente. Immer wieder verschmolzen wir miteinander und irgendwann, es war schon hell draußen, schliefen wir ein, eng umschlungen und jeder mit einem Lächeln auf den Lippen.