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Mitte Februar 1906 4. Im Pfarrhaus in Altikon

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Emma erwachte schweissgebadet und bemerkte erstaunt, dass sie leise vor sich hin wimmerte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich zurechtfand. Durch das Fenster schimmerte der Schnee im Mondlicht und machte sie glauben, es dämmere schon. Mit heftig klopfendem Herzen tastete sie nach den Streichhölzern und zündete die Öllampe auf ihrem Nachttisch an. Ein flackernder Lichtschein breitete sich in ihrer Kammer aus und beleuchtete das Zifferblatt ihrer Taschenuhr: Es war halb fünf.

Emma sank ins Kissen zurück. Ihr Atem bildete Wölkchen im kalten Raum. Sie geisterten wie kleine Nebelschwaden durch das Licht und lösten sich dann auf. Nach und nach verloren sich auch die schrecklichen Bilder des Alptraumes. Trotzdem war an Schlaf nicht mehr zu denken.

Emma Bachmann hatte kürzlich ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Seit fünf Jahren war sie beim Altiker Pfarrer als Dienstmagd angestellt, als Mädchen, wie es im Volksmund hiess. Über ihre Arbeit und ihre Lebensumstände wollte sie nicht klagen. Sie schlief in einer eigenen Kammer, in einem Bett mit einer richtigen Matratze. Reinster Luxus, wenn man bedachte, dass sie sich mit ihren Geschwistern Stroh- und Laubsäcke hatte teilen müssen. Ihre wenigen Kleider und Habseligkeiten waren in einer alten Kommode verstaut, darauf standen eine Waschschüssel und ein Krug aus Porzellan, die Ränder mit rosa Blümchen verziert. Das Wasser darin war an diesem frühen Wintermorgen vermutlich wieder angefroren. Und neben dem Fenster, an dem sich Eisblumen gebildet hatten, stand ein einfacher Schreibtisch mit einem zu kurzen Bein. Emma hatte das Manko mit gefaltetem, inzwischen vergilbtem Zeitungspapier ausgeglichen.

Hatte sie es hier nicht wirklich gut? Besser gesagt, gut gehabt. Bis der Pfarrer diese Spitzmaus geheiratet hatte. Emma schüttelte sich angewidert, sodass ihre Nachthaube verrutschte. Dann begannen die Kirchenglocken zu dröhnen, und Emmas Herz verkrampfte sich wieder. Hier im Pfarrhaus konnte man das Glockengeläut wirklich nicht verschlafen.

Emma schlug tapfer die Decke zurück und stand auf. Sie fror bitterlich in ihrem leinenen Nachthemd. Eilig schlüpfte sie in ihre Pantoffeln und ging zur Kommode, um sich zu waschen. Sie durchbrach die dünne Eisschicht im Krug und goss Wasser ins Becken. Es stach ihr wie Nadeln ins Gesicht und vertrieb die letzte Trägheit aus ihren Gliedern. Hastig zog sie ihre wollenen Strümpfe hoch und befestigte sie am Strumpfgurt. Das Nachthemd liess sie gleich an, darüber zog sie ein weisses Hemd und schlüpfte dann in ihr dunkelblaues Alltagskleid. Zuletzt band sie sich noch eine frische weisse Schürze um und zog ihre schwarzen Schnürschuhe an. Sie bürstete ihr kupferrotes Haar und flocht sich zwei artige Zöpfe.­

Emma war eine ausgesprochen hübsche junge Frau, wohlgestaltet und schlank. Ihre Haare fielen offen in leichten Wellen über ihre Schultern, wobei sie diese natürlich geflochten tragen musste, um nicht als hoffärtig zu gelten oder gar als unsittliche Frauenperson aufzufallen. Sie hatte ein zartes, vornehm blasses Gesicht. Bei der geringsten Erregung überflutete Hitze ihre Wangen und brachte diese ganz liebreizend zum Glühen.

Als Emma das Fenster öffnete, verschlug ihr die Kälte fast den Atem. Gegenüber ihrem Fenster stand die alte Tanne, die das Pfarrhaus von weit her sichtbar überragte. Die schneebedeckten Äste hingen schwer zu Boden und hoben sich matt leuchtend von der Dunkelheit ab. Der Schnee lag seit Tagen knöcheltief und dämpfte die frühmorgendlichen Geräusche. Rasch schloss Emma das Fenster wieder, nahm ihre Lampe und verliess leise ihr Zimmer.

Die Öllampe vermochte nicht alle Winkel auf ihrem Weg zur Küche zu erhellen. Emma zog unwillkürlich den Kopf ein. Hinter jeder Ecke schien heute eine dunkle Gestalt zu lauern. Eilig lief sie auf die Küchentür zu und blieb dann abrupt stehen, als sie ein seltsames Geräusch hörte. Sie wagte kaum mehr zu atmen. Ein Kratzen. Stille. Ein vorwurfsvolles Miauen riss Emma aus ihrer Erstarrung.

«Jesses Tigi!», flüsterte Emma erleichtert.

Rasch ging sie zur Hintertür und schob den schweren Riegel zurück. Ein Schwall trockener Winterluft wehte den hungrigen Kater in die Küche. Es störte ihn nicht, dass der Rest der Milch vom Vortag in seiner Blechschüssel gefroren war. Er leckte gierig, als hätte er seit Tagen nichts mehr gefressen.

Als die ersten Flammen im Herd aufloderten und sich langsam Wärme ausbreitete, verschwanden die letzten Irrlichter des Alptraumes aus Emmas Gedanken.

Die rohen Bretter der Kellertreppe knarzten unter Emmas Füssen, als sie hinabstieg, um frische Milch zu holen. Sie hörte oben im Haus Schritte. Vermutlich begab sich Frau Pfarrer auf den Abort. Seit sie in anderen Umständen war, litt sie am Morgen oft an Übelkeit. «Ganz recht», dachte Emma schadenfroh.

Emmas Freundin Anna hatte ihr kürzlich erzählt, dass diese Übelkeit so drei oder vier Monate dauern könne. Ihre grosse Schwester Kathrin hatte das einmal erzählt. Von der älteren Generation durfte man derlei Erklärungen nämlich kaum erwarten. Emma hatte vor Jahren einmal ihre Mutter gefragt, wieso sie denn einen so dicken Bauch habe. Die Mutter hatte beschämt geantwortet, sie hätte eben viele Taschentücher vorne in ihrer Schürze. Erst als der kleine Bruder auf der Welt und die Mutter wieder schlank war, begann Emma langsam zu begreifen, dass das ein ganz heikles Thema war.

Emma ging die Treppe wieder hoch und schloss die quietschende Tür. Zurück in der Küche schnitt sie Brot in Scheiben und setzte Kaffee auf. Glücklicherweise gab es im Pfarrhaus nicht auch noch jeden Tag zum Frühstück Rösti wie bei so vielen Leuten im Dorf. Obwohl Emma Rösti nicht ungern mochte. Das Wasser war inzwischen heiss geworden. Emma goss es vorsichtig in die pfarrherrlichen Waschkrüge. Doch ehe sie das Schlafzimmer erreichte, hörte sie Schritte.

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