Читать книгу Mörderhölzli - Sandra Gatti geb. Müller - Страница 16
9. Am Brunnen vor der Türe
ОглавлениеEs war schon dunkel, als Emma zur Tür hinaustrat. Sie ging nochmals zurück und suchte die Laterne mit dem handlichen Henkel, fand sie aber nicht. Der Schnee und der Mond tauchten die Nacht in milchig kaltes Licht und Emma machte sich kurz entschlossen ohne Lampe auf den Weg. Am liebsten wäre sie gerannt, aber richtig rennen schickte sich nicht für eine Frauenperson.
Ein paar Häuser vom Pfarrhaus entfernt wohnte Familie Beerli. Deren Kinder waren alle erwachsen. Nur Fritz, der Jüngste, lebte noch zu Hause. Er war bereits fünfundzwanzig und umwarb Emma seit Längerem. Fritz konnte einfach nicht akzeptieren, dass Emma nichts von ihm wissen wollte. Wer weiss, vielleicht lauerte er ihr schon wieder auf, dachte sie.
Aber Emma konnte ungestört ihres Weges gehen. Schon von Weitem sah sie, dass sie vor Anna beim Brunnen war. Dafür stach ihr auf dem Dorfplatz ein Automobil in die Augen. So etwas gab es selten zu sehen. Eine Horde zappeliger Kinder verstellte beinahe die Sicht. Schwarz, mit roten Holzspeichenrädern, einem braunen Verdeck und viel Messing, das im Mondschein schimmerte. «Martini» stand gut sichtbar in weisser Schrift auf dem Kühler. Martini aus Frauenfeld. Das wusste auch in Altikon schon jedes Kind. Aber kaum jemand hatte je einen solchen Wagen mit eigenen Augen gesehen. Heissa! Wem der wohl gehörte? Am liebsten wäre Emma noch näher herangetreten, traute sich aber nicht, ihre Neugierde so offen zu zeigen. Also stellte sie sich unauffällig neben den Brunnen, so, als ob ein Martini für sie etwas Alltägliches wäre. Immer wieder schielte sie aber verstohlen in Richtung des Wagens. «Schon allerhand, so ein Ding in unserem Dorf.» Am liebsten hätte sie sich hineingesetzt. «Eigentlich praktisch», überlegte Emma: «Dieser Wagen frisst kein Heu. Man muss ihn nur mit Benzin füttern, wenn man ihn braucht.»
Dann wurde es laut auf dem Platz. Emma bemerkte ein paar Männer, die vor dem hell erleuchteten Eingang der Kreuzstrasse mit Bierflaschen herumstanden. Emma zog sich instinktiv etwas hinter den Brunnen zurück. Sie erkannte Annas Bruder, den Mockemetzger, den ältesten der Ehrsams, und Fritz Beerli, der sie so aufdringlich verehrte. Den vierten Mann kannte sie nicht.
«Sag das noch mal, du Lump!», rief der Mockemetzger mit lallender Stimme und spuckte auf den Boden.
«Müllersöhnchen, Muttersöhnchen», trällerte Fritz. Auch er schien nicht mehr nüchtern zu sein.
«Und du, Prahlhans? Du wärst nichts ohne deinen Alten», schrie der Mockemetzger wütend. Er spie seinem Gegner die Worte förmlich ins Gesicht.
Emma beobachtete erschrocken das Handgemenge, das sich vor ihren Augen entwickelte. Die beiden Streithähne begannen einander zu schubsen. Bier schäumte aus den Flaschen. «Hee, stopp! Hört auf mit dem Seich!» Diese Stimme gehörte dem Fremden. «Jetzt beruhigt euch mal wieder.» Der Unbekannte streckte die Arme schützend und beschwichtigend aus, dann trat er mutig zwischen die aufgebrachten Männer. Ehrsam, von dem man bisher kein Wort gehört hatte, machte sich rasch in die Gaststube davon.
Der Unbekannte sprach nun beruhigend auf die beiden ein. Die Worte konnte Emma nicht mehr verstehen. Die Kinder hatten sich auf Fluchtdistanz zurückgezogen und umringten nun Emma hinter dem Brunnen. Alle redeten und gestikulierten durcheinander, ohne das Geschehen vor der Kreuzstrasse aus den Augen zu lassen.
Unterdessen war Anna aus dem Haus getreten, sie hatte den Krach gerade noch mitbekommen. Hinter Anna zeigte sich ihr jüngerer Bruder Heinrich auf der Haustreppe. Anna und Heinrich standen sich ziemlich nahe. Er nahm seine grosse Schwester jeweils in Schutz, wenn sie bei Jakob wieder mal unter die Räder kam. Mit Jakob auszukommen war für niemanden einfach.
Heinrich war zwar noch etwas schmächtig im Vergleich zu seinem stämmigen Bruder und dem anderen Streithahn. Dafür hatte er eine ruhige und selbstsichere Art. Mit dieser beeindruckenden Ruhe ging nun Heinrich auf seinen Bruder zu. «He Jakob, beruhige dich. Komm heim, du hast genug intus.»
Der Mockemetzger schimpfte undeutlich vor sich hin, scharrte unentschlossen mit den Füssen und trank aufreizend langsam einen Schluck aus der Flasche. Unvermittelt schleuderte er sie dann in Richtung von Fritz, der schwerfällig auswich. Das Glas zerbarst klirrend an der Hauswand, das restliche Bier rann schäumend die Mauer hinab. Emma sah, wie Anna erschrocken die Strassenseite wechselte. Kurz darauf erreichte sie ebenfalls den Brunnen.
Inzwischen war Heinrich zu Jakob getreten. Er berührte ihn an der Schulter, flüsterte auf ihn ein und gab ihm einen aufmunternden Schubs. Dann gingen beide nach Hause, ohne sich umzuschauen.
Der Lärm hatte Hedi, die Wirtin, vor die Tür getrieben. Nun schimpfte sie mit ihrer rauchigen Stimme wegen der Scherben. Als Fritz zum Brunnen schaute, entdeckte er Anna und Emma. Sein Blick sprühte Funken. Er wandte sich ab und torkelte in die Wirtschaft. Der Fremde zückte sein Portemonnaie und gab Hedi ein Geldstück. Sie schien höchst zufrieden mit dem Batzen. Jedenfalls machte sie ein fast unterwürfig freundliches Gesicht. Sie lud den Mann mit einer Geste ein, ihr in die Wirtschaft zu folgen. Kurz war Lärm von drinnen zu hören, dann schlug die Tür zu. Stille.