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Donnerstag, 22. Februar 1906 11. Modenschau

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Der Morgen war von einem lichten Blau, die Sonne liess von einem wolkenlosen Himmel die winterliche Landschaft blendend glitzern. Emma war mit Abstauben in der Wohnstube beschäftigt. Ab und zu schaute sie zum Fenster hinaus und freute sich über das gleissende Licht. Altikon war häufig in Nebel gehüllt, Tage wie diesen musste man schätzen.

Im Laufe des Vormittags rief ein Bote aus, dass am Nachmittag der Stoffhändler Brandenberger beim Schulhaus haltmachen werde. Emmas Herz hüpfte. Endlich würde sie ihn wiedersehen. Wie oft hatte sie an ihn gedacht!

Als Frau Wartmann den Kopf zur Tür hereinstreckte, nahm Emma allen Mut zusammen und fragte: «Haben Sie gehört, Frau Pfarrer? Herr Brandenberger kommt am Nachmittag mit seinen Waren.» Emma hoffte, dass ihre Bemerkung unverfänglich klang.

«Warum fragst du? Hast du etwa frei heute Nachmittag?» Frau Pfarrer zog ihre Augenbrauen hoch, der unvermeidliche Rosenölduft kam Emma falsch in die Nase.

«Äh, nein, natürlich nicht …» Emmas Wangen wurden augenblicklich von Röte überflutet. «Bitte, lieber Gott, lass mich Simon treffen!»

«Hast du denn überhaupt Geld?», fragte Frau Wartmann verächtlich.

«Ja, Frau Pfarrer, ich habe einen kleinen Batzen gespart.» Emma musste sich zusammennehmen, damit ihre Stimme nicht weinerlich klang.

«Ich werde auf alle Fälle hingehen. Ich könnte nämlich gut ein richtiges Umstandskleid gebrauchen …»

Emma brach verzweifelter Schweiss aus. Ihr Herz verzehrte sich noch mehr nach dem jungen Vertreter, allein schon deshalb, weil sie ihn vielleicht gar nicht sehen durfte.

«Andererseits könntest du dir wirklich mal ein anständiges Kleid kaufen oder auch einen rechten Mantel.» Frau Wartmann verzog angewidert ihre schmalen Lippen. «Nicht dass die Leute noch denken, wir würden dich schlecht bezahlen.» Dann durchstreifte sie gemächlich die Stube und fuhr mit den Fingern über die Oberfläche der Möbel. «Emma, hier muss es glänzen!», kritisierte sie. Eine Ewigkeit schien zu vergehen.

«Aber ich will mal nicht so sein», sagte Frau Wartmann selbstgefällig. «Obwohl: Verdient hast du es nicht, dass das klar ist. Einzig weil ich so grosszügig bin, werde ich dir eine Stunde freigeben. Aber», und dabei hob sie den rechten Zeigefinger, «nach dem Mittagessen wirst du noch den Abort­ putzen, und zwar gründlich, der stinkt nämlich wie ein Schweinestall. Das sollte ich eigentlich gar nicht extra sagen müssen. Vorher gehst du nicht!»

«Vielen Dank, Frau Pfarrer, das ist sehr nett von Ihnen», hauchte Emma.

Sie hasste das Reinigen des Abortes. Aber sie würde Simon wiedersehen, das war das Einzige, was zählte.

Frau Wartmann verliess die gute Stube und Emma versuchte, ihre freudige Erregung im Zaum zu halten. Sie arbeitete nicht mehr viel an diesem Vormittag.

Nach dem Mittagessen legte sich Frau Pfarrer noch ein Weilchen hin, dann verliess sie aufgeräumt das Haus. Der Pfarrer arbeitete im Studierzimmer und Emma machte sich ans Putzen. Wenigstens war der Gestank im Winter erträglich. Von wegen Schweinestall! Diese Schnepfe war einfach überempfindlich, das war alles. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Simon machte die Arbeit dann fast zum Vergnügen.

Als sie fertig war, ging sie auf ihr Zimmer und machte sich sorgfältig zurecht. Gerne hätte sie ihr Haar offen getragen, aber das ging natürlich nicht. So wusch sie sich das Gesicht, kämmte sich und flocht die Zöpfe frisch. Dann holte sie den Sonntagshut und ihre Sonntagsstola. Vielleicht kam ja Anna auch.

Es war nicht mehr so kalt, die Sonne zeigte sich ab und zu am winterlichen Himmel und es roch nach Tauwetter. Schon von Weitem sah Emma das Automobil mit einem Anhänger vor dem Schulhaus parkiert stehen. Darum herum drängten sich zahlreiche Frauen zum Eingang. Emmas Herz klopfte: Was, wenn er sie nicht wieder erkannte? Oder wenn sie ihn etwa gar nicht zu Gesicht bekäme?

Emma drängte sich durch eine Schar Kinder. Sie ging die paar Stufen zum Haupteingang hinauf und betrat das Schulhaus. Im Singsaal lagen schön präsentiert auf zusammengestellten Tischen Hüte für Damen und Herren, Schuhe und Stiefel, Handtaschen, Stoffballen und Nähutensilien. An einer Reihe von Ständern hingen Damenkleider und Anzüge. Emma blieb in der Nähe des Eingangs stehen und schaute sich verlegen um.

Da war er. Simon. Hinter einem Kleiderständer unterhielt er sich mit einer Frau. Musste das sein? Die Frau war jung und schön und trug ein smaragdgrünes Seidenkleid mit Spitzenkragen und schicke Schnürstiefel mit Absätzen. Ihr braunes Haar war hochgesteckt. Emma stand wie angewurzelt da, starrte auf Simon und die schöne Frau und wäre am liebsten gleich wieder gegangen. Doch da wandte sich die Frau ab und kam auf die Tür zu. Als sie an Emma vorbeiging, grüsste sie höflich. Simon hatte Emma ebenfalls entdeckt und kam lächelnd auf sie zu. «Guten Tag, Fräulein Bachmann.» Emma wäre fast in Ohnmacht gefallen. Er wusste sogar noch ihren Namen! «Schön, dass Sie kommen konnten. Darf ich Ihnen etwas zeigen?»

Emmas Wangen waren schon wieder flammend rot vor Erregung. Nun war sie doch nicht vorbereitet und völlig überrumpelt. «Äh, ich schaue mich gerne ein bisschen um.»

«Gerne. Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich bitte einfach.» Simon lächelte Emma freundlich an. Er trat einen Schritt zurück, zögerte und wandte sich dann ab.

Emma ging scheinbar interessiert zu den Tischen und Ständern. Sie ärgerte sich, dass sie das Gespräch mit dem Vertreter abgebrochen hatte und wünschte sich sehnlichst, seine Aufmerksamkeit wieder zu gewinnen.

Die unbekannte Frau kam in den Verkaufsraum zurück und ging mit einem kleinen Paket in der Hand auf Brandenberger zu. Emma zog sich etwas hinter einen Kleiderständer zurück. Die Frau sprach auf Brandenberger ein. Dieser hörte ihr offensichtlich interessiert zu, sein Blick ruhte aufmerksam auf ihrem Gesicht. Die beiden schienen sehr vertraut miteinander. «So sollte ein Ehemann seiner Frau zuhören», dachte Emma sehnsüchtig und der Gedanken versetzte ihr einen Stich.

In dem Moment sah sie Anna den Raum betreten und registrierte­ erstaunt, dass diese ihr Haar offen trug. Emma wollte sich schon bemerkbar machen, als Anna schnurstracks auf Brandenberger und die fremde Frau zuging. Brandenberger lächelte Anna erfreut an und begrüsste sie mit der galanten Verbeugung, die er bereits bei der ersten Begegnung hingelegt hatte. Hatte sich Simon vor ihr ebenfalls verbeugt?, fragte sich Emma irritiert. Anna nahm den Vertreter im Handumdrehen in Beschlag. Sie plauderte sichtlich angeregt mit ihm, und wenn sie lachte, warf sie ihren Kopf ein bisschen in den Nacken, sodass ihr blondes Haar anmutig um ihre Schultern floss. Und Simon Brandenberger schien nur noch Augen für Anna zu haben. Obwohl Emma Tränen in die Augen traten, konnte sie ihren Blick dennoch kaum abwenden. Anna benahm sich so damenhaft, so … verführerisch. Jetzt fiel ihr sogar noch das Taschentuch zu Boden. Brandenberger bückte sich rasch und gab es ihr galant zurück. Anna bedankte sich überschwänglich, berührte Brandenberger dabei sogar kurz am Arm und schaute ihm tief in die Augen. Die unbekannte Frau schien von allem nichts mitbekommen zu haben; sie hatte sich inzwischen im hinteren Teil des Raumes an eine Nähmaschine gesetzt, um etwas für eine Kundin zu ändern.

Frau Pfarrer trat mit ein paar Kleidern über dem Arm zu Emma: «So, Emma, hast du schon etwas gefunden?»

«Nein, leider nicht.» Emma blinzelte ihre Tränen weg. Sie hoffte, dass Frau Wartmann sie nicht bemerkte.

«Na dann … Denk dran, eine Stunde und nicht mehr.» Frau Wartmann wandte sich ab.

Hastig verliess Emma den Singsaal. Das Geschwätz der vielen Frauen, die Wärme und die Präsenz von Anna wurden ihr auf einmal zu viel. Vor der Tür standen weitere Kundinnen, manche mit Paketen und Schachteln. Kinder spielten lärmend mit dem nassen Schnee, der sich so wunderbar zu Schneebällen formen liess. Emma bahnte sich einen Weg und ging vorsichtig die Treppe hinunter, als ein Schneeball sie direkt ins Gesicht traf. «Hexe, Hexe, Hexe», hörte Emma irgendwo singen.

Es kam immer wieder mal vor, dass Emma Hexe geschimpft wurde, aber meist kümmerte sie sich nicht um solcherlei Beleidigungen. Und eigentlich, ja, eigentlich hatten die Leute ja gar nicht so Unrecht. Emma spürte mehr, als mit blossem Auge zu sehen war. Wie oft hatte sie Träume oder auch Visionen, die später tatsächlich wahr wurden. Diese Dinge machten ihr aber auch Angst. Wie sie mit dieser seltsamen Gabe umgehen sollte, wusste sie immer noch nicht so recht. Als Kind dachte sie, alle Menschen könnten Dinge sehen, die noch nicht passiert waren. Erst als Jugendliche wurde ihr klar, dass die anderen kaum ahnten, wovon sie sprach. Also sprach sie fortan nicht mehr darüber.

Angesichts des Angriffs mit dem Schneeball schossen ihr nun aber die Tränen hemmungslos in die Augen. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres alten Mantels über das nasse Gesicht. Dann straffte sie ihre Schultern, raffte die Röcke zusammen und ging so aufrecht wie möglich davon. Als sie die Rickenbacherstrasse überqueren wollte, musste sie wegen eines Fuhrwerkes kurz warten. Und jetzt, wie war das möglich, stand Simon unmittelbar neben ihr. «Fräulein Bachmann. Sie gehen schon?», fragte er unsicher.

«Ja.» Emma schniefte und hoffte, dass ihre Tränen nicht zu sehen waren. «Ich habe nichts gefunden.» Sie versuchte, ihrer Stimme Kraft zu verleihen.

«Das ist jetzt aber schade», sagte Brandenberger zögernd.

Emma schaute sich um. Wo war Anna?

«Darf ich Sie vielleicht einmal zu einem Glas Süssmost einladen?» Brandenberger schaute sie auffordernd an. Sein Augenzwinkern kam ihr jetzt schäbig vor.

«Laden Sie doch Anna ein!» Emma wandte sich brüsk ab. Dann ging sie über die Strasse.

«Emma!» Brandenbergers Ruf verhallte in der klaren Winterluft. Emma drehte sich nicht mehr um. Als sie kurz darauf durch die Tür des Pfarrhauses trat, wischte sie sich mit der Schürze die Tränen ab und machte sich wieder an ihre Arbeit. Sie sollte Simon Brandenberger vergessen. Und Anna konnte ihr auch gestohlen bleiben, dieses unverschämte Weibsbild! Sich so in den Mittelpunkt zu spielen. Pfui! Emma war nicht entgangen, dass Brandenberger sie bei ihrem Vornamen genannt hatte. Das hatte gerade noch gefehlt.

Mörderhölzli

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