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5. Strenge Sitten

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«Oh! Guten Morgen, Herr Pfarrer.» Eine verlegene Röte schoss Emma ins Gesicht.

Pfarrer Karl Wartmann war ein sehr schlanker, gross gewachsener Mann von einunddreissig Jahren mit dichten, dunklen, welligen Haaren und einem modischen Schnauz. Seine Brille sass immer etwas schief auf der Nase. In Emmas Augen war er der attraktivste Mann weit und breit. Er war ein bisschen ein Schussel und oft etwas zerstreut. Aber das fand Emma herzig. Nicht, dass sie etwa keinen Respekt vor ihm gehabt hätte, das nicht, er war schliesslich der Pfarrer und ihr Herr. Aber sie lebte bald fünf Jahre mit ihm unter einem Dach. Sehr viel länger, als Frau Pfarrer mit ihm zusammenlebte.

«Komm, gib mir das Wasser, ich möchte es meiner Frau bringen.»

Kurz darauf setzte sich der Pfarrer mit einem Blick ins Leere an den Küchentisch. Gewiss war er in Gedanken schon wieder bei seinen geistlichen und diakonischen Pflichten. Tigi miaute inzwischen schon ziemlich gereizt und strich Emma auffordernd um die Füsse. Er war eindeutig der Meinung, dass das Restchen gefrorene Milch für einen hungrigen Kater nicht reichte, besonders nach einer langen und kalten Winternacht.

Aber Emma hatte jetzt nur Augen für den Pfarrer. «Das Frühstück ist fast parat, Herr Pfarrer … äh … kommt Frau Pfarrer auch?»

«Nein. Sei so gut und bring ihr nachher ihren Tee und zwei Scheiben Brot ans Bett.»

«Selbstverständlich.» Emma senkte den Blick. Sie hasste es, die Schlafkammer der Herrschaft zu betreten, und noch mehr widerstrebte es ihr, die holde Lina im Bett zu bedienen.

«Hast du es heute früh auch gehört, Emma? Irgendjemand hat geschrien.» Der Pfarrer schaute sein Mädchen fragend an.

«Äh, nein … nein, ich habe nichts gehört.»

«So so so. Na, dann habe ich wohl geträumt. Oder es war am Ende gar nur ein Käuzchen …»

Der Pfarrer sass wieder schweigend am Tisch und starrte Löcher in die Luft. Emma beobachtete ihn verstohlen, während sie die heisse Milch in einen Krug goss.

Der Pfarrer war sich ihrer Verehrung bestimmt nicht bewusst, wenngleich Emma mit ihrer Schönheit und Anmut fast jeden Mann in Altikon in Versuchung hätte führen können.

Pfarrer Wartmann hatte nicht besonders viel Erfahrung mit Frauen, er war nämlich erst seit ein paar Monaten verheiratet. Er betete seine Lina an, obwohl sie weder Schönheit noch Anmut zu bieten hatte und auch keine Ahnung von Haushaltsführung hatte. Dafür war sie gebildet. Pah! Als ob das zählte. Vor der Eheschliessung wohnte die Mutter des Pfarrers noch im Haus und leitete den Haushalt. Dass eine junge Frau sich nach ihm verzehrte, durfte sich Pfarrer Wartmann ganz einfach nicht vorstellen. Die häufige Verlegenheit seiner Dienstmagd fiel ihm gar nicht auf. Und da es sich nicht gehörte, dass die Herrschaft mehr als das Nötigste mit ihren Bediensteten sprach, wusste er auch kaum etwas Persönliches über sie.

Der Tisch war fertig gedeckt und Emma legte noch ein Scheit ins Feuer. Als sie den dampfenden Krug mit dem Milchsieb obendrauf auf den Tisch stellte, wäre sie fast über Tigi gestrauchelt, der immer noch um ihre Beine strich. ­«Go­­pfridstutz Tigi!», schimpfte Emma unterdrückt.

«So so so! Komm, setz dich doch heute zu mir an den Tisch. Du hast ja auch noch nichts gegessen, nehme ich jedenfalls an.»

«Aber Herr Pfarrer … Ich kann doch nicht …», stotterte Emma verlegen.

«Keine Ausreden Emma, setz dich zu mir und iss etwas!»

Emma wagte nicht mehr zu widersprechen. Insgeheim freute sie sich sogar über diesen Erfolg. Wenn das Frau Wartmann wüsste! Normalerweise ass Emma frühmorgens zuerst und bediente dann ihre Herrschaft. Mittag- und Abendessen trug sie im feinen Esszimmer auf, sodass sie in Ruhe in der Küche essen konnte. Sie war jeweils ganz froh, ungestört zu sein.

Das Frühstück verlief schweigend. Emma brachte vor Verlegenheit kaum eine Scheibe Brot hinunter. Tigi hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass es vorläufig nichts mehr zu fressen gab und putzte sich nun ausgiebig. Nach dem Essen zog sich Herr Wartmann in sein Studierzimmer zurück. Emma räumte den Tisch ab. Dann richtete sie das Frühstück für Frau Wartmann auf einem Holztablett, ging damit zu deren Kammer und klopfte zögerlich.

«Herein», kam es gedämpft von drinnen.

Emma hielt den Atem an und öffnete die Tür. «Guten Morgen Frau Pfarrer.» Der gewohnt penetrante Duft von Rosenparfüm schlug ihr entgegen.

Frau Wartmann sass aufrecht in ihrem Bett und schaute missbilligend drein. Ihr Gesicht war bleich, die Nase wirkte noch spitzer als sonst und ihre Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst. Aber ihre Nachthaube sass ordentlich auf dem Kopf, darunter lugte ihr langes braunes Haar hervor. Wortlos verfolgte sie Emmas Bewegungen, die ein kleines Holztischchen über ihren Beinen platzierte. Als sie etwas zögernd das Tablett mit dem Frühstück daraufstellen wollte, entglitt ihr der Teller mit den Brotscheiben. «Oh, Entschuldigung», stammelte sie. Eilig legte sie das Brot wieder zurück auf den Teller, doch blieben auf der Decke ein paar Brotkrümel zurück. Frau Pfarrer sagte keinen Ton, schaute dem nervösen Treiben nur abschätzig zu.

Emma wollte sich rasch zurückziehen, als Frau Wartmann schneidend sagte: «Emma, es schickt sich überhaupt nicht, dass du mit dem Herrn Pfarrer zusammen am Tisch sitzt. Das kommt nicht noch einmal vor, verstanden!»

Anders als ihr braver Ehemann hatte seine Gattin rasch bemerkt, dass Emma für ihren Herrn mehr empfand, als schicklich war, und die heimliche Leidenschaft des Mädchens reizte natürlich ihre Eifersucht.

Emma fühlte, wie Ohnmacht in ihr aufwallte, der Zorn trieb ihr die Röte ins Gesicht. Was hätte sie denn machen sollen? Dem Pfarrer widersprechen? Woher wusste diese Zwetschge das überhaupt?

Widerworte waren undenkbar. So blieb Emma ihrer Herrin eine Antwort schuldig, was fast ebenso unverschämt war. Mit gesenktem Blick verliess sie rasch die Kammer. Hinter ihr fiel die Tür krachend ins Schloss.

«Dass du mir so schnell wie möglich diese Bettwäsche wechselst. Und vergiss die Nachttöpfe nicht!», rief ihr Frau Pfarrer noch nach.

Emma litt wie ein geschlagener Hund, seitdem ihr Herr seine junge Gemahlin ins Haus gebracht hatte. Früher, mit der Mutter des Herrn Pfarrer, war es so harmonisch gewesen. Mutter Wartmann war fast ein bisschen ein Mutterersatz geworden und jetzt vermisste sie die ältere Frau schmerzlich. Damals lebte Emma in der Illusion, dass ihr Herr Pfarrer niemals heiraten würde. Und falls doch irgendwann, dann sie, Emma Bachmann. Besser gesagt Emma Wartmann … Das tönte doch gut. Sie hätte ihm so gerne eine Schar gesunder Kinder geschenkt und nur ihm persönlich sein Mittagessen gekocht. Die Eifersucht frass Emma manchmal fast auf. Sie wusste nicht, ob sie unter diesen Umständen noch lange hier bleiben konnte.

Emmas Eltern waren einfache Bauersleute aus dem Zürcher Oberland und sie hatte sechs Geschwister. Das heisst, als sie ihre Familie vor ein paar Jahren verlassen hatte, waren es sechs. Gut möglich, dass es inzwischen noch ein paar mehr waren. Sie hatte alle schon lange nicht mehr gesehen. Es gab nicht viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit. Am liebsten dachte sie nicht über die Schläge und die Demütigungen nach, die sie zu Hause erlitten hatte. Der Vater hatte oft dem Schnaps zugesprochen. Darob hatte er seine Arbeit auf dem Hof und die Familie vernachlässigt. «Aber irgendwann muss man seinen eigenen Weg einschlagen», dachte Emma. Ihre Mutter hatte kaum eine Wahl gehabt. Emma schon. Wie es ihrer Mutter wohl ging? Emma war bereits mit vierzehn in einen Haushalt am Zürichsee gegangen. Sie hatte viel gelernt bei dieser Stelle, aber fast noch mehr gelitten. Ein Jahr später ging sie dann nach Zürich, wo sie blieb, bis sie 1901 zu Pfarrer Wartmann kam.

Am besten wäre es wohl, dachte Emma zum x-ten Mal, wenn sie bald heiraten würde. An Freiern mangelte es ihr ja beileibe nicht. Bisher hatte sie in ihrer Hingabe zum Pfarrer aber alle Avancen aus dem Dorf zurückgewiesen. Auch gab es jetzt nicht gerade einen, der Emma wirklich überzeugt hätte. Schon gar nicht Fritz, der ihr seit Langem nachstellte. «Ein bisschen Niveau sollte er schon haben», dachte sie hochmütig.­

Der restliche Vormittag verlief wie gewohnt mit Hausarbeiten. Frau Pfarrer bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Erst zum Mittagessen erschien sie, verlor aber kein weiteres Wort mehr über den Vorfall am Morgen.

Mörderhölzli

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