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7. Elefantengedächtnis

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Der Himmel war bedeckt, als Emma am frühen Nachmittag mit ihrem Korb aus dem Haus ging. Ein eisiger Wind wirbelte Schnee von den Bäumen in ihr Gesicht, an den Hals und unter den Rock die Strümpfe hoch. Sie schloss die Knöpfe ihres Mantels, schlang sich ein Wolltuch um die Schultern, zog ihre Fäustlinge an und ging den Kirchrain entlang. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, als ihr Nachbar Röbi hinter einer Holzbeige hervorsprang, direkt vor ihre Füsse, und fröhlich «Guguseli, guguseli!» krähte. Dabei klatschte er in die Hände. «Jesses Röbi, hast du mich erschreckt!», rief Emma lachend, dabei hatte sie eigentlich schon mit ihm gerechnet. Es war so etwas wie ein Spiel zwischen ihnen.

Röbi Vetterli war neunzehn, aber seit er als 5-jähriger einen Unfall mit einem Fuhrwerk gehabt hatte, war er geistig stehengeblieben und hatte ein Holzbein. Die Vetterlis waren Nachbarn, nette Leute, fand Emma. Röbi war ihr einziges Kind.

Emma hatte von einer anderen Nachbarin gehört, Röbi habe damals seinen Vater auf einem Fuhrwerk voller Holz vom Wald nach Hause begleitet. Der Gaul hatte gescheut und der Wagen war gekippt. Röbi war mit dem Kopf aufgeschlagen und hatte sein Bein eingeklemmt. Zu allem Elend starb Röbis Mutter nur wenige Monate danach an einer Grippe. Seither war die ledige Schwester der Mutter im Haus und schaute zum Rechten. «Schon traurig, wie viel Unglück manche brave Familie zu ertragen hatte», dachte Emma.

Röbi war ein herzensguter Bursche geworden, sie mochte ihn sehr gerne. Bei all seinem Schwachsinn hatte er eine erstaunliche Gabe: Röbi erinnerte sich an jeden einzelnen Tag der letzten ungefähr zehn Jahre. Man konnte ihn fragen, was man wollte, zum Beispiel: «Röbi, was hast du am 10. August 1899 gemacht?» Und Röbi antwortete ohne gross nachzudenken: «Am frühen Morgen regnete es kurz, aber am Nachmittag war es heiss. Unten an der Thur haben wir Weizen geschnitten. Die Tante hat uns Kuchen aufs Feld gebracht. Apfelkuchen mag ich am liebsten.»

Unglaublich!

Röbi schaute Emma in seiner ungenierten Art lachend an und rieb sich die kalten Hände. Dabei gab er glucksende Laute von sich. Er liebte Emma, sie war immer so nett zu ihm. Er wurde zwar nicht ausgelacht von den Leuten im Dorf, aber mit ihm abgeben wollte sich auch niemand so richtig. Dabei mochte Röbi vor allem die Frauen gerne. Sie waren so weich und rochen so gut, ganz anders als die Männer. Das hatte er schon früh herausgefunden. Er wollte doch einfach ein bisschen Nähe, das gab ihm ein gutes Gefühl und erinnerte ihn an seine Mutter. Manchmal, wenn er seinen Vater am Sonntag ins Restaurant Kreuzstrasse begleiten durfte und sich die Wirtin oder eine Serviertochter kurz zu ihnen setzte, schmiegte er sich vorsichtig an sie. Meist wurde das von den Frauen geduldet. Das war schön. Seine Tante war da nicht so freigiebig mit Zärtlichkeiten. Aber Emma war seine allerbeste Freundin. Mit ihr konnte er sich sogar unterhalten. Wenn er sie traf, wurde ihm immer ganz warm ums Herz. Manchmal umarmte er sie auch, und sie schob ihn nicht gleich weg.

Emma nahm seine rechte Hand. «Wie geht es dir Röbi?», fragte sie. Er entwand ihr seine Hand und begann wieder zu klatschen. «Gut. Gut. Gut», sang er.

«Trägst du denn keine Handschuhe? Du wirst den Kuhnagel bekommen», tadelte Emma. Als Röbi schwieg, sagte sie: «Ich gehe zu Anna, ich muss noch Eier und ein paar andere Sachen kaufen. Möchtest du ein Stück mit mir gehen?»

Anstelle einer Antwort nahm Röbi einfach Emmas Hand und folgte ihr wie ein kleines Kind der Mutter. Dabei summte er «Weisst du wie viel Sternlein stehen …»

«Wir gehen jetzt aber noch nicht ins Bett, Röbi», lachte Emma. «Jetzt wird gearbeitet, es ist ja noch heiterheller Tag.»

«Vater macht Mittagsschlaf. Nachher müssen wir noch Holz aufbeigen.»

«Prima. Solange dein Vater schläft, kannst du mich zu Anna begleiten. Vielleicht können wir die Eier gleich selber aus dem Hühnerstall holen. Hättest du Lust?»

«Ja ja ja, Hühner», rief Röbi und sprang mit seinem Holzbein ungelenk neben Emma her.

Gemeinsam gingen sie nun zur Rickenbacher Strasse und dann abwärts das kurze Stück zum Dorfplatz. Sie trafen auf ein paar Kinder, die versuchten, aus dem trockenen Pulverschnee Schneebälle zu formen. Von Weitem hörte man das gedämpfte Rattern eines Fuhrwerkes, das sich dem Dorf näherte. Die Kirchturmuhr schlug zwei.

Gleich unterhalb des Dorfplatzes war die Wirtschaft zur Kreuzstrasse. Emma sah vor dem Haus ein Velo an die Hausmauer gelehnt. «Das wäre sicher ein tolles Gefühl», dachte sie, «mit so einem Velo herumzufahren.» Aber das Geld dafür hatte ein einfaches Pfarrmädchen natürlich nicht. Ausserdem, wofür brauchte eine Frau ein Velo? Sie hatte zwei gesunde Beine und kam auch ohne Fahrrad überallhin.

Zu Röbi sagte sie: «So ein Velo wäre schon nobel, gäll. Fahren müsste man damit natürlich auch noch können …»

«Velo fahren! Ich kann Velo fahren. Soll ich es dir zeigen?» Röbi riss sich los und lief auf das Fahrrad zu.

«Nein, sicher nicht. Untersteh dich!», rief Emma erschrocken. «Das darfst du nicht! Und überhaupt: Wer braucht schon so ein Vehikel? Reiner Luxus ist so etwas. Und jetzt bei dem Schnee …» Emma konnte ihren Neid trotzdem nicht ganz verbergen.

Mörderhölzli

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