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2.2.1 Entwicklungslinien des Performativen

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Ihren Anfang nimmt die Performativitätsforschung wie oben erwähnt in der Sprachphilosophie. John L. Austin ist der Begründer der Sprechakttheorie und des Begriffs performative. Er versucht 1955 seine Einführung des „neue(n) und hässliche(n) Wort(es)“ zu begründen:

You are more than entitled not to know what the word ‚performative‘ means. It is a new word and an ugly word, and perhaps it does not mean anything very much. But at any rate there is one thing in favour, it is not a profound word.1

Das englische Adjektive performative leitet sich laut Austin vom Verb to perform (dt. vollziehen, ausführen, leisten; aber auch aufführen) ab. Austin bemerkt, dass man mit Sprache nicht nur etwas in der Welt beschreiben oder behaupten, sondern auch etwas tun kann. Mit performative bezeichnet er dementsprechend Äusserungen, die im Vollzug des Sprechakts soziale Wirklichkeit herstellen und grenzt sie anfangs von den konstativen Äusserungen ab. Konstative Äusserungen können wahr oder falsch sein, performative jedoch nicht, sie können nur gelingen oder misslingen. Austin macht deutlich, dass jede sprachliche Äusserung immer auch die Möglichkeit des Misslingens bzw. Scheiterns beinhaltet. Schliesslich verwirft er die Zweiteilung von konstativ und performativ, da jeder konstativen Äusserung immer auch eine performative Dimension eigne und umgekehrt bei performativen Akten auch der Wahrheitsgehalt bedeutsam sei.2 Deshalb nennt er schliesslich nur eine kleine Klasse von Äusserungen (explizite) performative Äusserungen. Diese vollziehen gleichzeitig das, was sie besagen und ändern dementsprechend die Wirklichkeit. Dazu müssen sie jedoch in den Kontext formaler oder informeller Institutionen eingebettet sein, sonst tritt keine Veränderung ein. Ein bekanntes Beispiel für eine durch einen institutionellen Kontext gestützte performative Äusserung, ist: „Sie sind jetzt Mann und Frau“ ­– ausgesprochen vom dazu autorisierten Pfarrer bei der Eheschliessung in der Kirche.

Austin konzentriert sich in seinen Überlegungen zum Performativen auf den Gebrauch von Äusserungen in „normaler Sprache“. Er unterscheidet sie von einem „nicht ernsthaften“ Gebrauch: „Es gibt die Auszehrung der Sprache, parasitären Gebrauch unterschiedlicher Art usw.: man kann sie in unterschiedlicher Weise ‚nicht ernsthaft‘ oder ‚nicht ganz normal‘ gebrauchen.“3 Performative Äusserungen können demnach z.B. nicht glücken, wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder auf der Theaterbühne vorgetragen werden. Es ist diese Ausklammerung von bestimmten Äusserungssituationen, die John Searle und Jacques Derrida den Begriff des Performativen weiterentwickeln lassen.4 Während sich Searle auf die von Austin begründete Theorie beruft und eine allgemeine Sprechakttheorie entwickelt, stellt Derrida das Konzept grundsätzlich in Frage:

Denn ist nicht schliesslich, was Austin als Anomalie, Ausnahme, ‚unernst‘ das Zitieren (auf der Bühne, in einem Gedicht oder in einem Monolog), ausschliesst, die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit – einer allgemeinen Iterierbarkeit vielmehr –, ohne die es sogar kein ‚geglücktes‘ performative gäbe? So dass – als paradoxe, aber unvermeidliche Konsequenz – ein geglücktes performative notgedrungen ein ‚unreines‘ performative ist, um das Wort wieder aufzunehmen, das Austin später vorschlägt, wenn er eingesteht, dass es kein ‚reines‘ performative gibt.5

Derrida denkt ausgehend vom Sprechakt über die Sprache als Ganzes nach. Er setzt entgegen Austin voraus, dass jedes Zeichen iterierbar und damit zitierbar und eigentlich graphematischer Natur ist.6 Somit ist jede performative Äusserung nach einem „iterierbaren Muster konform“ und als „Zitat identifizierbar“.7 Dies gilt sowohl für Äusserungen, die Austin als „normal“ bezeichnet, als auch für solche, die gemäss ihm „parasitär oder unnormal“ sind. Für diese Arbeit ist die Bestimmung des Performativen als im Wesen iterierbar zentral. Sybille Krämer arbeitet ein wichtiges Merkmal im Denken der Wiederholung bei Derrida heraus, das für die Lektüren der Prosa-Edda relevant sein wird:

Das klassische philosophische Denken der Wiederholbarkeit folgt dabei dem Primat des Universellen: Wiederholung setzt Allgemeinheit voraus. Doch Derridas Denkbewegung führt zu einem anderen Ergebnis: Es ist die Wiederholung, die Allgemeinheit, Identität und Idealität überhaupt erst erzeugt und stabilisiert: ‚…Idealität ist aber nur das gesicherte Vermögen der Wiederholung.‘ Doch insofern jede Wiederholung ein Anderswerden des Wiederholten einschliesst, sind Reproduktion bzw. Repetition nicht bloss als Aktualisierung eines vorgängigen Schemas verstehbar, sondern bergen einen Überschuss, der das Schema verändert und sprengt – doch eben nur, wenn dieses Schema zugleich auch aufgegriffen und bestätigt wird.8

Wie sich in den Lektüre-Kapiteln zeigen wird, ist die Wiederholung und das Zitat ein grundlegendes Prinzip der Textgestaltung in der Prosa-Edda. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten findet in Kapitel 2.4.2 statt.

Der Begriff Performanz findet unabhängig von der sprachphilosophischen Diskussion auch in der Linguistik Verbreitung. Noam Chomsky unterscheidet im Anschluss an Ferdinand de Saussures Konzept von langue und parole „die ‚Performanz‘ (engl. performance) als den konkret-aktualen Gebrauch sprachlicher Äusserungen von der ‚Kompetenz‘ (engl. competence), dem allgemeinen Regel- und Kenntnissystem, das die konkreten Sprachäusserungen determiniert.“9 Diese Linie wird für die vorliegende Arbeit nicht weiterverfolgt.

Auch in den Künsten wurde das Performative in den 1960er Jahren immer zentraler, dazu schreibt Erika Fischer-Lichte:

Ob bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater – alle tendieren dazu, sich in und als Aufführungen zu realisieren. Statt Werke zu schaffen, bringen Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind.10

Der Ereignisbegriff ist zentral für diese Diskurse des Performativen. Weiter fokussiert sich Fischer-Lichte in ihren Ausführungen auf das Theater und den Begriff der Inszenierung und Aufführung. Sie vergleicht:

Was Austins Sprechakttheorie für die Erkenntnis von Sprache leistete, vollbrachte das „untitled event“ im Hinblick auf das Theater. Es liess schlagartig deutlich werden, was Theatermacher und Zuschauer immer schon intuitiv gewusst und praktiziert haben: dass Theater sich nicht in einer referentiellen Funktion erschöpft, sondern immer auch eine performative wahrnimmt. Mit dem besonderen Verhältnis der performativen Funktion zur referentiellen definiert es Theater neu als die performative Kunst schlechthin. Aufgrund dieses neuen Theaterbegriffs konnte Theater nun als ein kulturelles Modell begriffen werden.11

Damit einher gehe auch eine Veränderung der lange Zeit vorherrschenden Vorstellung der „Welt als Text“ hin zu der Vorstellung der „Welt als Performance“: „Unsere zeitgenössische Kultur lässt sich als eine Kultur der Inszenierung beschreiben oder auch als eine Inszenierung von Kultur. In allen gesellschaftlichen Bereichen wetteifern einzelne und gesellschaftliche Gruppen in der Kunst, sich selbst und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene zu setzen.“12 Parallel zu den Entwicklungen in den Künsten vergleicht Richard Schechner13 in seiner Theater-Anthropologie die dramatische Inszenierung mit derjenigen von Ritualen, womit die Wechselbeziehungen zur Begriffsentwicklung in den Sozialwissenschaften deutlich werden.

Die Sprachphilosophie und die Künste sind nicht die einzigen Felder, in denen der Begriff des Performativen mit traditionellem Verständnis bricht. Während – wie eben geschildert – die Vorstellung der Welt als Text durch die Vorstellung der Welt als Performance ersetzt wird, verändert sich auch das Verständnis von Kultur und wird in diesem Sinne neu gedacht. Kultur wird nicht mehr als durch Texte (oder andere Artefakte) geschaffen resp. manifestiert angesehen, sondern eben auch durch „Performances“, die eine ebenso konstituierende Funktion für Kultur besitzen.14 Dadurch rücken neue Gegenstände in den Blick der Forschung. Der amerikanische Ethnologe Milton Singer führt den Begriff der cultural performance ein, den er bestimmt als: „particular instances of cultural organization, e.g. weddings, temple festivals, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“15 Nach Singer formuliert eine Kultur in derartigen cultural performances ihr Selbstverständnis und Selbstbild, das sie so vor ihren Mitgliedern und Fremden dar- und ausstellt:

For the outsider, these can conveniently be taken as the most concrete observable units of the cultural structure, for each performance has a definitely limited time span, a beginning and an end, an organized programme of activity, a set of performers, an audience and a place and occasion of performance.16

Unter anderem diese offene Definition von performance führt in den 1970er Jahren dazu, dass sich die sozialwissenschaftliche und die theaterwissenschaftliche Forschung annähern.

Auch der britische Ethnologe Victor Turner beschäftigt sich mit cultural performances, d.h., mit einer bestimmten Art davon. Er untersucht die Parallelen, die das Ritual mit dem Theater hat und definiert das Ritual als Schwelle oder Übergang „zwischen zwei stärker gefestigten Feldern kultureller Aktivität.“17 Die Eigenschaft der Liminalität ist für die Definition der Performativität in verschiedenen Bereichen sehr wichtig geworden18 und wird auch in der altnordischen Mediävistik diskutiert.19 In Singers und Turners Nachfolge entwickelt sich ein breites neues Forschungsfeld, das sich mit je unterschiedlichen Arten von cultural performances auseinandersetzt: Alle kulturellen Praktiken, denen eine bestimmte Aufführungsdimension eigen ist – z.B. Feste und Spiele, aber auch Vorträge oder Filmvorführungen – werden in diesen performance studies in den Blick genommen. Ganz gemäss der eigenen Definition beschäftigen sich die performance studies jedoch nicht nur auf einer Reflexionsebene mit solchen kulturellen Praktiken, sondern auch auf einer ausführenden bzw. selbsttätigen Ebene. Künstlerische und wissenschaftliche Herangehensweise überkreuzen sich.20

Die Philosophin Judith Butler interessiert sich ebenfalls für die performativen Sprechakte und könnte daher gut auch bei den sprachphilosophischen Theorien genannt werden. Sie dehnt ihren Gebrauch allerdings auch auf nichtsprachliche Akte aus und bringt den Körper, Politik und Gesellschaft in den Blick:

[Es] zeigt sich, dass die Frage, wie das komplexe Verhältnis von Sprechen und Handeln zu denken ist, immer auch auch ein körperliches Subjekt impliziert, das geschlechtlich und ethnisch kodiert ist und das durch Formen der Anrufung und der Adressierung gleichermassen konstituiert und bedroht wird.21

Im Rahmen der gender studies analysiert sie „[…] unter Bezugnahme u.a. auf Austin, Turner, Derrida und Jacques Lacan – mit der Kategorie der ‚Performativität‘ die kulturelle Konstitution des sozialen und des biologischen Geschlechts (gender vs. sex).22 Butler untersucht Performativität unter einer diskurstheoretischen Perspektive „als die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkung erzeugt, die er benennt.“23 Damit schliesst sie an demselben Punkt in Austins Theorie an wie Derrida. Allerdings fokussiert sie nicht auf sprachliche Äusserungen, sondern auf körperliche Handlungen:

Sprechen selbst ist ein körperlicher Akt, der von körperlichen Gesten begleitet, durch diese ersetzt oder konterkariert werden kann. So kann der mit einer performativen Äusserung vollzogene Sprechakt durch die Körpersprache oder begleitende Handlungen unterminiert oder in sein Gegenteil verkehrt werden. Umgekehrt reicht manchmal eine einfache körperliche Geste, um einen wirkungsvollen Sprechakt zu vollziehen. In diesem Sinne markiert der Körper nach Butler „die Grenze der Intentionalität des Sprechaktes“: Als ein grundlegend körperlicher Akt sagt der Sprechakt immer mehr oder sagt es in anderer Weise, als er es sagen will, wobei es nicht nur das Subjekt, sondern auch der Körper ist, der „spricht“.24

Wie Derrida sieht Butler die Möglichkeit des Misslingens als notwendige Möglichkeit eines jeden Sprechaktes. Sie führt weiter aus, dass gerade dadurch, dass jeder Sprechakt ein körperlicher und damit teils unbewusster Akt ist, sich dieser auch immer einer intentionalen Kontrolle entzieht. Butler interessiert sich für die Gewalt, die mit Sprache ausgeübt werden kann und kommt so in das Feld der politischen Sprache. Auch hier schliesst sie an Derrida an und übernimmt den Begriff der Iterabilität und entwickelt ihn weiter im Hinblick auf seine ethischen und politischen Konsequenzen.25

Während die sprachphilosophische Strömung der Performanzdiskussion an Fluss verlor, erlebt sie in kulturwissenschaftlicher Ausrichtung seit den 1990er Jahren eine neue Blüte. Die Entwicklungen, welche die Literaturwissenschaft stark mit der Kulturwissenschaft verbunden denken, führen dazu, dass die beiden Disziplinen im Bereich des Performativen eng verknüpft sind. Andreas Hetzel verortet den Aufschwung des Performativen im deutschsprachigen Raum v.a. in dem von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen: „Performativität wird in den entsprechenden Teilprojekten weniger als neues Paradigma beansprucht, denn als offenes Forschungsprogramm, als Konstellation kulturwissenschaftlicher Fragen inhaltlicher und methodologischer Art.“26 Hetzel sieht diese Offenheit als Möglichkeit, sich neueren Kunstformen zu nähern: „Gerade für das Verstehen neuerer Kunst- und Kulturformen erweist sich der performative turn der Kunstwissenschaften dabei als äusserst fruchtbar, scheitern hier doch, wie Fischer-Lichte betont, traditionelle ästhetische Leitunterscheidungen wie die zwischen Werk, Produzent und Rezipient.“27 Dass sich diese Offenheit nicht nur für die Erforschung neuerer Kunstformen als hilfreich erweist, sondern auch bei der Arbeit an vormodernen Kulturphänomenen, zeigt sich in der breiten Annahme des Diskurses.

Die strikte Trennung in ein „vor“ und „nach“ dem performative turn, wie sie u.a. Fischer-Lichte konstatiert, ist aber nicht sinnvoll.28 Zwar treten mit dem performative turn neue Aspekte von Kultur in den Blick und der bisher vernachlässigte Bereich des Performativen rückt in den Fokus. Aber es ist nicht hilfreich, den bisherigen Textbegriff zugunsten eines Performancebegriffs aufzugeben. Besser ist es, das Performative im Rahmen des Textes zu betrachten. So sagt z.B. André Bucher:

Denn der Text hat selbst eine eminent performative Dimension, die sich zwar im Konkreten von derjenigen einer künstlerischen Performance unterscheidet, im Prinzipiellen aber keineswegs. Auch ein Roman muss geschrieben und gelesen werden, auch ein Theaterstück inszeniert und die Inszenierung rezipiert, auch ein Gedicht muss vorgetragen oder still im Fauteuil goutiert werden, und ohne diese Vollzüge sind sie nicht.29

Ein Text existiert nicht ohne Performanz, umgekehrt gibt es keine Performanz ohne Text. Daher lohnt sich die Unterscheidung zwischen einer Kultur des Textes und einer postmodernen Kultur der Performance nicht: „Auch die klassischen Formen der Repräsentation, etwa das aristotelische Drama oder der Entwicklungsroman, sind eminent performativ, sofern sie ihre Inhalte nicht nur bezeichnen oder abbilden, sondern überhaupt erst hervorbringen.“30 Es sollte folglich nicht zwischen dem Text und der Performanz unterschieden werden, sondern zwischen zwei Dimensionen des Textes: Jeder Text hat eine repräsentative und eine performative Dimension. Erstere „qualifiziert den Text hinsichtlich dessen, was er repräsentiert, hinsichtlich der symbolischen Bedeutungen, die er aufgreift aus dem – historisch, topologisch, metaphysisch oder wie auch spezifizierten – Reservoir des Imaginären, die er in je spezifischer Weise akzentuiert oder überhaupt erst als solche hervorbringt.“31 Die performative Dimension jedoch betrifft den Effekt und die Wirkung, die der Text auslöst. Es geht dabei um die Aufführungs- resp. die Vollzugsmomente des Textes sowie die damit verbundenen Veränderungsprozesse. Sowohl die repräsentative als auch die performative Dimension des Textes wirken zusammen, sie sind nicht klar trennbar. Das Was der Darstellung ist notwendig an konkrete Akte und Vollzüge gebunden, die es hervorbringen und immer neu aktualisieren, das Wie wiederum lässt sich nur durch das hindurch fassen, was die Darstellung selbst hervorbringt, oder unter Umständen auch hintertreibt.“32 Mit diesen Beobachtungen wird die enge Verknüpfung des kulturwissenschaftlichen Diskurses mit demjenigen der Literaturwissenschaften deutlich.

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