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1 Einleitung 1.1 Vorbemerkungen

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Die mittelalterliche altisländische Literatur zeichnet sich durch eine aussergewöhnliche Vielfalt an volkssprachlichen Formen aus. Im Vergleich zu kontinentaler volkssprachlicher Literatur reflektiert sie bereits sehr früh und in vielschichtiger Weise in Dichtung (Skaldik und eddische Helden- und Götterlieder) und Prosa (Sagas und Sachtexte wie z.B. grammatische Traktate) die eigene Sprache und die damit verbundenen Möglichkeiten des Erzählens in der Volkssprache.

Dabei werden traditionell mündliche Literaturformen neuen schriftlichen Modellen von Erzählen und Sprachverständnis angepasst. Das Medium Schrift wird von Beginn seines Aufkommens im 11. Jahrhundert mit aktivem und selbstreflexivem Interesse verwendet. Ganz grundsätzliche Fragen werden angesprochen: Wie schreibt man in der Volkssprache? Was kann Erzählen leisten? Wie legitimiert man schriftliche Dichtung und Erzählung? Man könnte annehmen, derartige Fragen würden vor allem in gelehrter Literatur diskutiert. Doch die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache sind implizit und explizit immer auch Thema in der eddischen und skaldischen Dichtung sowie in der Sagaliteratur.

Besonders deutlich zeigt sich das altisländische Sprachinteresse in der sogenannten Prosa-Edda, dem wichtigsten sprach- und dichtungstheoretischen Text des skandinavischen Mittelalters. Auf sehr komplexe Weise werden in diesem vielschichtigen Werk eine traditionelle Beschreibung der heidnischen Götterwelt und eine christliche Stil- und Verslehre mit weiteren Inhalten zu einem umfassenden Sprach-Experiment verflochten.1

Die Prosa-Edda (von nun an P-E) wird in Einführungen und allgemeinen Überblickswerken meist als aus vier Teilen bestehend beschrieben, wobei diskutiert wird, welcher Teil zu welchem Zeitpunkt entstanden ist. Das Werk wird dem Isländer Snorri Sturluson (1178/9­­–1241) zugeschrieben, allerdings ist keine der erhaltenen Handschriften der P-E auf ihn zurückzuführen.2 Der Überblick von John Lindow in Old Norse-Icelandic Literatur. A Critical Guide fasst die allgemein anerkannten Annahmen in Bezug auf den Gehalt und die Entstehungsgeschichte der P-E zusammen:

Snorri apparently began the Edda, his first literary work, within a few years of his return to Iceland. It is well known that he intended it as a handbook of poetics, primarily of the meter and diction of skaldic verse. […] it began with a creative act, Snorri’s composition of his Háttatal (enumeration of meters), an elaborate skaldic poem honoring King Hákon Hákonarson and Jarl Skúli. […] The next stage of composition, resulting in the section entitled Skáldskaparmál (poetic diction), concentrates on the metaphoric and metonymic explanation and clarification of skaldic verse, the kennings and heiti. It is largely a series of lists of kennings and heiti for various concepts, but in explanation of some of the kennings Snorri recounts the mythical or heroic narrative behind them. […] In Gylfaginning (Deluding of Gylfi), the section now thought to have been composed next, the emphasis is shifted: here is only narrative, and indeed only mythic narrative, without reference to skaldic verse. […] In the extant manuscripts these three sections occur in reverse order from that just given and are preceded by a prologue which provides a euhemeristic view of the Norse gods, deriving them from men of Asia.3

Es gibt einige vergleichbare mittelalterliche Poetiken, die P-E unterscheidet sich von ihnen in einem wichtigen Punkt: Sie ist in der Volkssprache, d.h. in Altisländisch, verfasst und nicht in Latein.

Das aussergewöhnliche Werk steht seit mehreren Jahrhunderten als wichtiges Zeugnis im Zentrum der Beschäftigung mit der altnordischen Literatur. Forschungsgeschichtlich ist der P-E seit dem 19. Jahrhundert meist ein philologisch ausgerichtetes Interesse an altertumskundlichen Fragen beschieden. Es geht hauptsächlich um die Frage nach den Quellen des Werks und damit zusammenhängend um die nordische Mythologie. Daneben entwickelte sich ab den 1980er Jahren ein sprach- und dichtungstheoretisches Forschungsinteresse, das sich auf die Skaldik, eine besondere Gattung der nordischen Dichtung, richtet. Diese beiden Forschungsbereiche wurden und werden zumeist getrennt betrachtet, weil sie als nur lose miteinander verbunden gedacht werden. Der Ansatz der vorliegenden Arbeit ist ein anderer: Der Ausgangspunkt ist ein Versuch, das Werk als Form kultureller Sinnstiftung in seiner Vielfältigkeit – und damit auch in seiner Uneindeutigkeit – ernst zu nehmen und so die verschiedenen Inhalte und Formen zusammen zu lesen. Momente der Sinnstiftung finden sich in der P-E da, wo das Verhältnis zu ihrem „Untersuchungsobjekt“, der skaldischen Dichtung oder allgemeiner zur Sprache und Erzählen in Volkssprache, ausgelotet wird.

Die P-E ist für die Überlieferung und das Verständnis der Skaldik von zentraler Bedeutung. Ein kurzer Exkurs zu dieser aussergewöhnlichen nordischen Dichtung hilft zu sehen, weshalb. Bergsveinn Birgisson beschreibt das skaldische Gedicht als wichtiges Medium einer (vormittelalterlichen) Elite. Die Fähigkeit, skaldische Verse dichten zu können, ermöglicht den Produzenten, den Skalden, einen hohen gesellschaftlichen Rang:

The genre of skaldic poetry seems to have been developed in some courtly milieux of Norway in the ninth century, but it is mostly promoted by Icelandic poets, the so-called skalds, after the conversion in Scandinavia around 1000 AD. The Old Norse skald was highly valued in society, primarily because of his skills in making poems on the heroic deeds of kings and royalty, thereby rendering them persistent in the memory of the Scandinavian oral society. The skald is frequently shown as the king’s closest adviser, both in personal and political affairs.4

Skalden übernehmen mit ihrer Dichtung eine Erinnerungsfunktion in der mündlichen Gesellschaft. Diese Funktion beschränkt sich jedoch nicht nur auf Preisdichtung, denn es kann in den verschiedensten Situationen gedichtet bzw. vorgetragen werden: Es gibt skaldische Gedichte, die einen Feind durch spöttische Behauptungen angreifen, solche, die als Gegengeschenk für materielle Geschenke dienen oder Gedichte, die Trauerarbeit um verlorene Söhne leisten. Heiko Uecker fügt weitere Möglichkeiten an:

[…] schildbeschreibende und genealogische Gedichte sind ebenso überliefert, heidnisch-mythologischer Stoff wird ebenso gestaltet wie christliche Lehre. Könige und Helden der Vorzeit konnten besungen werden, mit einem gut gemachten Gedicht konnte man sein Leben retten, man drückte seine Träume aus, man gab politischen Rat.5

Skaldische Gedichte (und damit die Skalden) haben eine Wirkmacht in der Welt. Das lässt bereits der Begriff „Skalde“, der etymologisch wohl mit dem deutschen „schelten“ verwandt ist, vermuten.6 Deutlicher wird es, wenn man sog. nið-Dichtung, d.h. Schmähdichtung betrachtet. Schmähdichtung gibt dem Skalden die Möglichkeit, durch bestimmte Arten von Versen Feinde öffentlich zu verspotten und zu diffamieren. Die damit zusammenhängenden gesetzlichen Verbote solcher Verse zeigen, was für eine starke pragmatische Funktion der Dichtung zugesprochen worden ist.7

Glauser fasst die formalen Besonderheiten dieser wirkmächtigen Dichtung wie folgt zusammen:

Es handelt sich bei der Skaldik um eine Dichtung, deren wichtigste formale Charakteristika die Strophenform (in der Regel acht Zeilen, die in zwei Hälften aufgeteilt werden), der in aller germanischen Dichtung verbreitete Stabreim und die ebenso raffinierte Verwendung rhetorischer Mittel wie Synonyme, Metaphern, Metonymien (kenningar, heiti) sind.8

Die Skaldik-Forschung beschäftigt sich eingehend mit den komplexen und herausfordernden poetischen Umschreibungen, den kenningar und heiti. Erstere sind zwei- oder mehrgliedrige Umschreibungen, die meist auf mythologischem Wissen aufbauen und damit spielen:

Die skaldische Variationskunst besteht darin, dass in den Texten ein Spiel mit bekannten Erzählungen stattfindet, auf welche in ausgeklügelten Verfahren verwiesen wird. Diese Allusionen sind zum einen rein inhaltlicher Art […]. Häufiger kommt jedoch vor, dass die Anspielungen Teile der Kenningar sind und in diesen Fällen beruht das skaldische Erzählen auf dem komprimierten Abrufen von Stoffen und Texten, so dass in den Kenningar eigentlich Kürzestnarrationen entstehen. Indem die Kenning immer auf Texte ausserhalb der konkret vorliegenden Strophe hindeutet, erhält das Dichten der Skalden etwas grundlegend Grenzüberschreitendes.9

Die Entschlüsselung der Anspielungen und Wortspiele in den Versen haben für den Rezipienten wohl ebenso ihren Reiz, wie der Akt der Verschlüsselung derselben für den Skalden.

Doch solche poetischen Verfahren machen die Lektüre von skaldischer Dichtung noch anspruchsvoller als sie bereits ist: Die Überlieferungssituation ist komplex, anders als z.B. in eddischer Dichtung wird zwar bei zahlreichen skaldischen Gedichten der Namen des Dichters genannt, doch die zeitliche Einordnung ist sehr schwierig. Es existieren keine Originalhandschriften der bis in vorschriftliche Zeit zurückreichenden Dichtung. So können zwischen der Entstehung eines Gedichts und seiner schriftlichen Fixierung mehrere Jahrhunderte liegen.10 Skaldische Verse sind häufig in Sagatexten als Zitate bestimmter Figuren überliefert. Gedichte werden dazu auseinandergenommen und nur die passenden Verse in den Prosatext eingefügt, was die Rekonstruktion eines Gesamtgedichts erschwert. Diese kleinteilige Überlieferungssituation macht die Prosa-Edda zu einem so wichtigen Werk für die Erforschung der Skaldik. In der P-E sind auf engstem Raum ein grosser Teil der überlieferten skaldischen Dichtung und der zugehörigen Namen von Skalden zusammengetragen. Diese Sammlung sowie die dichtungstheoretischen Aspekte machen die P-E zu einer der zentralen Quelle für das heutige Wissen über die Skaldik.

Doch die P-E erweist sich auch als ein Werk, das zeigt, welchen Wandel die skaldische Dichtung von ihren (angenommenen) Ursprüngen im 9. Jahrhundert bis ins späte Mittelalter unterliegt. Die P-E wird häufig als ein Hinweis auf das schwindende Interesse an der komplexen Dichtung verstanden: Das Wirkungspotenzial der Skaldik scheint im 13. Jahrhundert nicht mehr in der gleichen Stärke vorhanden wie in vorliterarischer Zeit. Neue Medien kommen auf und übernehmen gewisse Funktionen, die bislang der Skaldik zugesprochen worden sind, wie u.a. Faulkes schreibt:

But as means of preserving the memory of historical events, as well as an organ of royal propaganda, skaldic poetry was being superseded by the written prose saga – had indeed been since the time of King Sverrir – and as a part of the ritual and entertainment of the court was being superseded by various kinds of prose narrative, including translated romances; taste in poetry was moving to favour the ballad and its derivatives; in Iceland a new genre, the rímur, was to replace skaldic verse as a medium of entertainment both written and oral.11

Die P-E wolle die Skaldik erhalten und an die neuen medialen Möglichkeiten anpassen, so die gängige Erklärung dafür, dass so spät in der Entwicklungsgeschichte der skaldischen Dichtung noch ein Lehrbuch dazu verfasst worden sei.12

Aber die P-E ist nicht nur an poetischer Sprache und deren Machtpotenzial interessiert, sondern viel allgemeiner an den Möglichkeiten, die sich aus dem verständigen Umgang mit Sprache ergeben. Im wahrscheinlich bekanntesten Abschnitt der P-E, in Gylfaginning [dt. Gylfis Täuschung], geht es um die tiefgreifende Frage, ob der gesamte nordische Kosmos in einer Erzählung erfasst werden kann, bzw. ob diese Welt gar erst durch eine Erzählung erschaffen wird.

Liest man die P-E unter einer gesamtheitlichen und sprachzentrierten Perspektive, so zeigt sich, wie durchwoben das Werk von solchen poetologischen Momenten ist. Mit einer derartig ausgerichteten Lektüre wird auf verschiedenen Werkebenen sichtbar, in welch komplexer Weise hier über Sprache, Dichtung und das Erzählen als Möglichkeit der Sinnstiftung nachgedacht wird. Wie spielerisch und produktiv dieses Nachdenken ist, zeigen die zahlreichen verschiedenen Um- und Neusetzungen der Inhalte der P-E. Das Werk wird bis in die frühe Neuzeit (und in gewisser Weise durch wissenschaftliche und populäre Bearbeitung bis heute) als Autorität für Sprach- und Dichtungsfragen wahrgenommen und dabei immer wieder an aktuelle Voraussetzungen angepasst.

Eine dieser Umsetzungen, die man auch als Momentaufnahme einer Sprachreflexion bezeichnen könnte, steht in dieser Arbeit im Vordergrund: Es ist die Version der Prosa-Edda im Codex Upsaliensis DG 11 4to. Diese Handschrift von ca. 1300 bietet einen besonders interessanten Einblick in das Selbstverständnis mittelalterlicher Literatur. Sie ist deshalb ausserordentlich spannend, weil sie die Vielfältigkeit der Sinnstiftung mit und in Sprache medial variantenreich reflektiert: Das Potenzial von Schrift und Bild wird explizit und implizit demjenigen der mündlichen Vermittlung gegenübergestellt, was ein differenziertes Medienbewusstsein sichtbar macht.

Eine systematische und gesamtheitliche Lektüre der P-E soll dieses Medienbewusstsein besser fassen und so eine neue Perspektive auf das Sprachdenken des mittelalterlichen Islands ermöglichen. Das bedeutet auch, die P-E nicht nur fragmentarisiert zu lesen: Wie oben zitiert, werden „kanonisch“ bloss vier Teile zur P-E gezähltdiese Arbeit schlägt vor, den Begriff Prosa-Edda zu öffnen und auf zusätzliche Inhalte auszuweiten.

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