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2.2.3 Neuere und ältere Literaturwissenschaft
ОглавлениеAuch in der Literaturwissenschaft entwickelt sich ein eigener Begriff des Performativen resp. von Performativität und einige der oben beschriebenen Diskurse haben sich auf das literaturwissenschaftliche Verständnis ausgewirkt: „In der Literaturtheorie ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass das, was Literatur tut, mindestens genauso viel Beachtung verdiene wie das, was sie sagt […].“1 Jonathan Culler vergleicht die literarische mit der performativen Äusserung und stellt fest, dass beide sich nicht auf eine bereits gegebene Situation beziehen und beide weder wahr noch falsch sind. Zusammenfassend parallelisiert Culler:
Kurzum, das Performative lässt einen Sprachgebrauch mit einem Mal zentral erscheinen, der bis dahin immer nur als marginal gegolten hat – einen aktiven, weltentwerfenden Sprachgebrauch, der Ähnlichkeiten zur literarischen Sprache aufweist –, und es bringt uns dazu, Literatur als Handlung oder Ereignis aufzufassen.2
Auf den Aspekt der Literatur als Ereignis wird später zurückzukommen sein. Es stellt sich zuerst die Frage, inwiefern die literarische Sprache performativ ist bzw. im Sinne von Austins Sprechakttheorie glücken oder nicht glücken kann. Durch das Modell des Performativen wird nach Culler die Aufmerksamkeit auf die Konventionen gelenkt, die es einer Äusserung ermöglichen, ein Versprechen oder eben Literatur (z.B. ein Sonett) zu sein: „Das Glücken einer literarischen Äusserung könnte somit auch von ihrem Verhältnis zu den Konventionen einer literarischen Gattung abhängen. Fügt sie sich den Regeln und gelingt dementsprechend als Sonett oder geht sie daneben?“3 Weitergedacht könnte das bedeuten, dass ein literarisches Werk erst dann geglückt ist, „wenn es durch Veröffentlichung, Lektüre und allgemeine Anerkennung in vollem Umfang zu Literatur geworden ist, genauso wie eine Wette erst dann zur Wette wird, wenn sie als solche anerkannt wird.“4
Das Glücken eines Sprechaktes hängt laut Austin u.a. davon ab, ob er in einem angemessenen Kontext gesprochen wird und z.B. durch die Institution der Kirche oder des Gesetzes legitimiert ist. In gleicher Weise funktionieren auch Texte, die institutionell eingebunden sind (bspw. Gesetzestexte oder Urkunden). Geht man davon aus, dass ein Text das tut, wovon er handelt bzw. die darin thematisierte neue Wirklichkeit auch aussertextuell herstellt (also performativ ist), so stellt sich die Frage, ob und inwiefern auch literarische Texte, die institutionell nicht gebunden sind, die Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erschaffen.
Der Begriff des Performativen in der Literaturwissenschaft entwickelt sich vom Sprechakt hin zu Schreib- und Leseakten. Einer der Gründe dafür ist die ursprüngliche Eingrenzung des Begriffs des Performativen auf „realweltliche“ Äusserungen (Austin sieht in der Literatur und im Theater nur „parasitäre Formen“ von Sprache). Roland Barthes und Jacques Derrida sind für diese Entwicklung prägend: „Roland Barthes […] setzt Performativität mit Selbstreferentialität gleich. Im Akt des Schreibens, den er als ein Performativ (im Sinne Austins) auffasst, habe die Äusserung keinen anderen Inhalt (keinen anderen Äusserungsgehalt) […] als eben den Akt, durch den sie sich hervorbringt.“5 Barthes sieht das Schreiben als ursprungslos und als Gewebe, bestehend aus unzähligen Zitaten an.6 Auch bei Derrida besteht ein Text aus Zitaten und der Fokus rückt vom Schreiben auf das Lesen: im Leseakt werden diese Zitate in den Leser eingeschrieben.7 Um nochmals mit Culler zu sprechen:
Aber das, argumentiert Derrida, was Austin im Verweis auf so genannte „Normalbedingungen“ ausgrenzt, sind genau die vielfältigen Möglichkeiten, sprachliche Elemente zu wiederholen – und zwar „unernst“, aber auch ernsthaft wie etwa in einem Beispiel oder einem Zitat […] Die Wiederholbarkeit ist ein Grundmerkmal von Sprache, und gerade Performative funktionieren nur dann, wenn sie als Versionen oder Zitate regelgeleiteter Formeln erkannt werden wie etwa: „Ja, ich will“ oder: „Ich verspreche es“.8
Derrida spricht von einer Grundeigenschaft der Sprache, die er als „generelle Iterabilität“ bezeichnet. Erst durch die Möglichkeit der Wiederholung bekannter Handlungsgewohnheiten (in ernsten wie auch unernsten Kontexten) kann Sprache Handlungen vollziehen und ist nicht nur Übermittler von Informationen.9
Silvia Sasse unterscheidet zwischen zwei möglichen Herangehensweisen in der Literaturwissenschaft: Einerseits spricht man von Performativität oder der Performanz literarischer Texte:
[…] und bezieht sich auf das Konzept literarischer Performativität bzw. Performanz: auf die Literarizität oder Rhetorizität von Sprache. Oder man bezieht sich auf Texte in Performanz, wobei es sich dann um das mediale, situative Bewegen von Texten in Aufführungssituationen, beim Lesen, in Installationen, Aktionen, Filmen handelt – also in künstlerischen Prozessen oder in Prozessen, in denen diese literarischen Texte auftauchen, etwa in den Medien, in der Literaturwissenschaft oder auch vor Gericht.10
Zum ersten Punkt (literarische Performativität bzw. Performanz) führt Sasse die von der Sprechakttheorie inspirierte Forschung „zur Wirkungsästhetik und Rezeptionsästhetik literarischer Texte“ an. Auf der anderen Seite kann man von Performance und Performanz in Verbindung mit literarischen Texten sprechen, wenn Texte in bestimmte Kontexte, die den Text kommentieren, gestellt werden. Es geht dann nicht mehr um ihre Textualität, sondern um den Prozess des Aufführens, Ausstellens und Lesens:
Dann erscheint die Ereignishaftigkeit von Texten in konkreten Lesesituationen, Installationen oder Aufführungen mit der Ereignishaftigkeit des Textes, seine Performanz mit einer anderen Performanz oder Performance konfrontiert. Dabei trifft das raumzeitliche Verhältnis des Textes auf den Raum und die Zeit des Vortrags (konkret erzählte Zeit auf Erzählzeit), die Stimmen des Textes auf die Stimme, die den Text spricht.11
Obwohl Erika Fischer-Lichte in ihrer Einführung in die Performativität klar einen Schwerpunkt auf den Aufführungsbegriff setzt, widmet sie einen Teil ihrer Ausführungen dem Performativen in der Literatur. Sie grenzt dabei literarische Texte von institutionell gestützten Texten wie z.B. Gesetzestexten oder heiligen Texten ab, ebenso von sog. „verkörperten Texten“ wie slam poetry etc., denen eine Aufführungssituation zugrunde liegt.12 Fischer-Lichte sieht in der Literaturwissenschaft die Hauptfrage in Bezug auf das Performative darin, „inwiefern literarische Texte etwas zu erzeugen vermögen, was sie selbst noch nicht sind.“13 Sie fasst zusammen – und daran lässt sich auch für eine Lektüre der Prosa-Edda anschliessen – was sie unter darunter versteht, literarische Texte unter der Perspektive des Performativen zu betrachten:
[das] heisst also, ihre Verfahren offenzulegen, mit denen sie eine neue, ihre eigene, Wirklichkeit konstituieren, und den Möglichkeiten nachzuspüren, wie sie durch diese Wirklichkeit auf ihre Leser einzuwirken vermögen, und vermittelt über die Leser ein kulturelles Wirkpotenzial zu entfalten. Wie sich gezeigt hat, sind literarische Texte – auch in dieser Hinsicht Sprechakten, symbolischen körperlichen Handlungen und Praktiken und Aufführungen vergleichbar – von Unvorhersehbarkeit der Lektüre, Ambivalenzen und transformativer Kraft gekennzeichnet, die den Leser für die Zeit der Lektüre und vielleicht sogar über sie hinaus nachhaltig zu verwandeln vermag.14
In ihrer Einführung fasst Fischer-Lichte zwei Prämissen für die Untersuchung zur Performativität von Texten zusammen: Einerseits wird Lesen als ein Akt der Inkorporation vollzogen und kann damit als Verkörperungsprozess begriffen werden. Weil der Leser in die Welt des Textes eintaucht, kommt er in einen liminalen Zustand, der verschiedene Transformationen ermöglicht.15
Zusammenfassend kann man den Diskussionsverlauf in den Literaturwissenschaften als eine Verschiebung der Perspektive weg von der Textbedeutung hin zur Textwirkung beschreiben. Es geht nicht mehr um die Repräsentations- oder Bedeutungsfunktion von Texten, sondern um ihre Handlungs- und Erzeugungsfunktion. Gleichzeitig richtet sich der literaturwissenschaftliche Blick auf die Inszenierung, die Medialität sowie die Selbstreferentialität von Texten.16 Mittlerweile wird die Performativität von Texten auf zwei Ebenen analysiert, die weiter unten genauer beschrieben werden: Die sogenannt strukturelle Performativität fokussiert darauf, wie der Text macht, wovon er spricht, oder gegebenenfalls etwas Anderes macht, als er behauptet. Die funktionale Performativität hingegen untersucht, was ein Text beim Rezipienten auslöst.
Auch in der mediävistischen Literaturwissenschaft hat das Begriffsfeld des Performativen grossen Einfluss gewonnen. Es werden ebenfalls verschiedene Ansätze verfolgt und wiederum lässt sich keine allgemeingültige Theorie bestimmen. Im Folgenden werden wichtige Schritte in der Entwicklung der verschiedenen Ansätze vorgestellt. Diese tragen ihren Teil zum Zugang bei, der in dieser Arbeit verfolgt wird. Sie greifen in einzelnen Abschnitten bereits auf weiter unten vorgeschlagene Verbindungen in die mediävistische Skandinavistik vor. Viele der hier angeführten Gedanken werden für die Lektüre der P-E von Bedeutung sein, auch wenn sie hier erst unter einer allgemeinen Übersicht vorgestellt werden.
Das Performative wird einerseits als wichtige neue Perspektive in unterschiedlichen mediävistischen Philologien akzentuiert, andererseits wird die Arbeit mit dem Begriff gerade für Phänomene der Vormoderne als problematisch angesehen. Im Zug des performance turn der Kulturwissenschaften in den 1990er Jahren wird das Mittelalter verstärkt als eine performative Kultur bzw. eine Kultur der Performanz angesehen. Im Gegensatz zur Moderne/Postmoderne, die dabei als Sinnkultur mit einem Fokus auf den Verstand und die Zeit beschrieben wird, kann man das Mittelalter auch als eine Kultur der Präsenz bezeichnen. In einer derartigen Kultur ist die Wahrnehmung durch die körperlichen Sinne die Zugangsform zu Welt bzw. zu Gott. Wichtige Aspekte sind dabei Räumlichkeit, Unmittelbarkeit und Körperlichkeit.17 Manuele Gragnolati und Almut Suerbaum untersuchen in ihrem Sammelband von 2010 Aspekte des Performativen in der mittelalterlichen Kultur und heben dabei sog. Präsenzeffekte als wichtig hervor.18 Verhandlungen der performativen „Präsenz-Kultur“ kann man in kulturellen Erzeugnissen wie z.B. in Texten finden. Die Bedeutung von Körper und Raum als Mittel über und durch das man kommuniziert, wird für und in den neu aufkommenden medialen Möglichkeiten des Mittelalters aktualisiert. Ein Text sollte dieselbe Präsenz haben wie der menschliche Körper:
Study of the performative aspects of medieval culture allows a focus on the ways in which medieval texts, but also medieval forms of recording human behaviour and action, manage to convey both presence and absence simultaneously, thereby creating a space which is open to interpretation. In other words, medieval culture could be thought of as a culture in which the written text is endowed with potential to create presence or indeed as a culture of presence that is at the same time aware of the fact that it is liable to be given meaning through interpretation.19
Eine performative Perspektive auf mittelalterliche Texte bedeutet dementsprechend zu sehen, inwiefern ein schriftlicher Text über seine paradoxe Wirkkraft reflektiert oder über die Unterschiede zur mündlichen Äusserung nachdenkt. Die Macht des geschriebenen Wortes muss sich erst über die Zeit hin entwickeln. In Gebrauchstexten wie z.B. Urkunden etc. bedarf es lange der gleichzeitigen Machtpräsenz oder Machtdemonstration (z.B. durch Siegel).
Ebenfalls mit dem Präsenzbegriff arbeitet Hans Rudolf Velten. Er verbindet ihn mit dem Begriff der Aufführung: Weil im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die Schriftkultur und die mündliche Kultur eng verwoben sind und die Schrift dazu dient, mündliches und körperliches Wissen zu fixieren und für die neuen medialen Möglichkeiten anzupassen, kann man die mittelalterliche Kultur als eine Aufführungskultur bezeichnen.20 Velten führt aus:
Das Performative spielt als wesentlicher Bestandteil von Präsenz in zahllosen kulturellen Akten wie repräsentativen Herrschaftszeichen, Zeremonial- und Symbolhandlungen, ritualisierten Gesten, Spiel und Wettkampf, in den Inszenierungen von Ritualen religiöser und weltlicher (etwa politischer) Prägung, und eben auch in den verschiedenen Formen der Dichtung und künstlerischen Darstellung eine grosse Rolle.21
In literarischen und gelehrten Texten – und damit auch in der P-E – bietet sich die Möglichkeit, derartige kulturellen Bedeutungsverschiebungen zu thematisieren.
Als problematisch wird eine performative Perspektive auf vormoderne Phänomene manchmal deshalb angesehen, weil keine eigene mittelalterliche Theoriebildung zu Fragen des Performativen besteht und mit moderner Theorie an die Kultur des Mittelalters herangegangen wird. Wie alle Disziplinen, die historische kulturelle Praktiken zum Gegenstand haben, kann die mediävistische Literaturwissenschaft keine kulturellen Performances mehr beobachten. Es bleibt für immer unklar, wie diese ausgesehen haben, da weder Ton- noch Bildaufnahmen davon existieren. Erhalten sind einzig Texte, in denen mögliche Spuren solcher Performances enthalten sind – quasi zur Schrift erstarrte Performances. Das Problem einer solchen Auffassung ist, dass immer danach gefragt werden muss, inwiefern sich etwas durch eine Performance Aufgeführtes durch Schrift vermitteln lässt (bzw. auch durch Film- oder Tonaufnahmen). Zwar ermöglicht die Schrift eine Fixierung der flüchtigen Aufführung, sie erlaubt aber auch, die Aufführung umzudeuten und ihr neue Bedeutung zu verleihen. Inwiefern eine verschriftlichte Aufführung eine „reales Aufführungsereignis“ exakt abbildet, kann also nicht mehr bestimmt werden. Wie sich in den hier vorgestellten Überlegungen zum Performativen in vormodernen kulturellen Phänomenen zeigt, muss das aber auch nicht das Ziel sein. So sagt z.B. Jutta Eming (ähnlich wie bereits oben Gragnolati und Suerbaum), dass sich Untersuchungen mit einer performativen Perspektive durchaus lohnen, denn performative Kulturen zeichnen sich immer auch durch ein Reden über performative Phänomene bzw. deren Gestaltung aus. Derartige selbstreflexive Momente sind spannend und lohnen eine genaue Untersuchung. Eming sagt zum wichtigsten vormodernen performativen Turn und dessen Reflexion in textuellen Medien:
Der zentrale performative turn des 11. und 12. Jahrhunderts, die Etablierung einer Handschriftenkultur in der Volkssprache, kann beispielsweise nicht ohne Rekurs auf die körpergebundene mündliche Kommunikationssituation erfasst werden. Im Vordergrund steht damit die Frage, wie eine auf Visualität, Mündlichkeit und Performanz basierende Kultur mit textuellen Medien vermittelt wird. Zu den Formen, die sich aus mittelalterlichen Text- und Bildquellen ermitteln lassen, gehören Phänomene inszenierter Körperlichkeit, simulierter Akustik und Visualität, Strategien der Wahrnehmungssteuerung und der affektiven und sinnlichen Beteiligung von Rezipienten.22
Inszenierte Körperlichkeit und simulierte Akustik bzw. Visualität können z.B. als ein Reden über das Performative gedeutet werden. Ebenso verschiedene Strategien der Wahrnehmungssteuerung oder der Beteiligung des Rezipienten (sowie auf der nächsten Beobachtungsebene die Verhandlung solcher Wahrnehmungssteuerung).
Eine forschungsgeschichtliche Wurzel des Performativen in der Mediävistik ist die Oralitätsforschung, die in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm und stark von Milman Parry und seinem Schüler Albert Bates Lord geprägt wurde.23 Untersuchungen in ihrer Tradition stellen die Mündlichkeit vormoderner Gesellschaften als alleinige Medialität dar und beschränken ihre Perspektive darauf. Mit Walter J. Ong erlebte der Begriff der Oralität in den 1980er Jahren wieder einen grossen Aufschwung. In seinem Aufsatz Orality, Literacy, and Medieval Textualisation fordert er die methodische Bearbeitung mündlicher Überlieferung.24
Mit dem Begriff der Medialität wird diese Diskussion aktuell wieder aufgenommen und auch in der skandinavistischen Mediävistik untersucht.25
Im Anschluss an Ong finden sich Positionen, die das enge Neben- und Miteinander von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Mittelalter herausstellen und die Untersuchungen abseits vom reinen Text ermöglichen. Almut Suerbaum und Manuele Gragnolati bezeichnen die mittelalterliche Kultur denn auch als „betwixt and between“:
On the one hand, medieval culture is seen as dominated by the transition from orality to literacy, by a focus on writings, signs, signification, and hermeneutics. On the other hand, aspects of ritual, gesture, and process are at the forefront of current interest. […] Yet the question arises whether such polar oppositions really capture the characteristics of a culture which so often favoured tripartite rather than bipartite structuring, and whether in fact medieval culture is best understood as inhabiting the liminal space, in other words, whether it should, in the title of a recent study, be seen as situated ‚between body and writing‘.26
In der skandinavistischen Mediävistik beschäftigte eine ähnlich gelagerte Frage: Nämlich die, ob die nordische Literatur ein einheimisches oder ein durch eine Obrigkeit wie die Kirche oder den Adel eingeführtes Produkt sei. Im selben Zusammenhang steht die Frage, ob es sich bei der Sagaliteratur um Geschichtsschreibung (resp. -erzählung) oder um Fiktion handelt. Die sogenannte Frei- vs. Buchprosa-Debatte zog sich über viele Jahrzehnte hin und sorgt teilweise noch heute für Diskussionen.27
Der Romanist Paul Zumthor ist in den 1970er Jahren einer der frühesten Verfechter des Performanzbegriffs in der Mediävistik. Er widmete sich dem Begriff von literaturwissenschaftlicher Seite her, versuchte aber ethnologische, theaterwissenschaftliche und sprachphilosophische Ansätze miteinander zu verbinden, um so mittelalterliche Liedvorträge systematisch analysieren zu können. Hans Rudolf Velten sagt über seine Studien: „Zumthor griff bereits 1972 in seinem Essai de poétique médievale, basierend auf der Grundannahme der Theatralität mittelalterlicher Dichtung, auf den Begriff der performance zurück, um damit die Vokalität und multisensorische Wahrnehmung von künstlerischen Aufführungen zu beschreiben.“28 Zumthor schläg den Begriff der vocalité anstelle von oralité für die mittelalterliche Kultur vor. Obwohl die Schrift bekannt ist (und mittelalterliche Literatur heute nur noch als Schriftstück existiert), wird die volkssprachliche mittelalterliche Kultur von der Mündlichkeit bestimmt und die meisten Texte werden vor einem Publikum aufgeführt. Die menschliche Stimme ist das zentrale Medium, die Schrift kommt nur für ausgewählte Zwecke zum Einsatz. Für die Speicherung und Weitergabe von Wissen ist man sowohl auf die Mündlichkeit wie auf die Schriftlichkeit angewiesen. Mit dem Begriff der vocalité wird dieses mediale Miteinander bezeichnet. Deshalb ist es für die Mediävistik zentral, nicht nur den Text zu untersuchen, sondern auch dessen Aufführungsdimension.29 Jan-Dirk Müller sagt über Zumthor:
Er hat […] die Materialität literarischer Kommunikation ins Zentrum der Forschung gerückt, angefangen von Stoff und Gestaltung der einzelnen Manuskriptseite über die Überlieferungsgeschichte bis hin zu der den Texten immanenten Theatralität. Er hat schliesslich das Konzept von mittelalterlicher „Literarität“ von den Vorgaben moderner Schriftkultur befreit, die bislang dominantes Modell philologischer Praxis war, hat zentrale literaturwissenschaftliche Begriffe wie ‚Text‘, und ‚Werk‘ für das Mittelalter historisch neu bestimmt und damit auch einer neuen Editionspraxis vorgearbeitet, die unter dem Titel ‚New Philology‘ auf eine Revision der Ausgaben mittelalterlicher Texte abzielt.30
Das Handbook of Medieval Studies fasst die Auswirkungen des von Zumthor eingeführten Begriffs mouvance zusammen:
Mouvance remains valid as principle, in theory, but impractical as textual methodology. In hermeneutics, however, it continues to define our conception of medieval textuality. Mouvance serves as a critical tool to be applied sparingly in recognizing and confronting the complex representation and interpretation of individual medieval works which are so rarely fixed in a single textual form other than as an always artificially reconstructed, pseudo-authorial archetype or as a sometimes arbitrarily selected, nominally best manuscript. For those who want „the whole story until now“, mouvance alone can accurately tell the tale through its ideal of respect for the multiple textual versions of a work in progress with all their variants, medieval and post-medieval, modern and now post-modern.31
Zumthors Arbeiten sind wegweisend für die Mediävistik und prägen sie bis heute.32 Er griff den Entwicklungen der new philology vor, deren Herangehensweise an vormoderne Texte auch hier für den Umgang mit der P-E von grosser Bedeutung ist. In den beiden Lektürekapiteln wird das weiter thematisiert werden. Die Grenzen von Zumthors Begriffen liegen jedoch darin, dass sie in den uns überlieferten Texten nur eine Art Reduktionsform einer ursprünglichen Aufführung sehen und ein Text so nur noch eine Dokumentationsfunktion hat. Wie weiter unten beschrieben, fokussieren aktuelle Performativitätstheorien auf den Text selbst und seine Inszenierungs- resp. Vollzugsdimension.
Die Diskussion um die Gleichzeitigkeit von Mündlichkeit und Schriftlichkeit dauert dennoch an und Ursula Schaefer macht den Begriff der Vokalität dafür stark. Ihre Überlegungen beruhen auf Zumthors Begriff der vocalité:
Dieser Begriff [von dem, was kommuniziert wurde] muss zum einen der Tatsache Rechnung tragen, dass auf der Senderseite Schriftliches vorliegt, das auf der Empfängerseite hörend aufgenommen wird. Wie – den gelungenen Kommunikationsakt vorausgesetzt – das Schriftliche gestaltet sein muss, um hörend rezipiert und auch verstanden zu werden, bzw. wie der hörend Rezipierende das Schriftliche versteht, kann schon aus diesem Grund mit einem Textbegriff, der Schreiben und Lesen, vokale Vermittlung und Hören nicht unterscheidet, kaum erfasst werden. Es ist deshalb erneut zuerst zu trennen zwischen schriftlichem und mündlichem Diskurs.33
Auch in der Skandinavistik wird der Begriff der Vokalität prägend und zeigt sich u.a. für die Lektüre der skandinavischen Ballade als gewinnbringend. Denn diese können nach Jürg Glauser „geradezu als Texte ‚zwischen den Medien‘ – zwischen stimmlicher und (manuskript- bzw. druck-) schriftlicher Transmission – bezeichnet werden.“34
Unter einer performativen Perspektive interessieren in der germanistischen Mediävistik zu Beginn vor allem literarische Gattungen wie der Minnesang, Sangspruchdichtung oder frühe geistliche Spiele, heute ist aber auch die Epik im Blick.35 Ganz im Sinne Zumthors gibt es mehrere Studien zum performativen Potenzial mittelalterlicher Literatur.36 Im Vordergrund stehen je nachdem Phänomene wie die Stimme und der Klang, bzw. körperliche Sinne wie das Hören. Ebenfalls von Interesse sind die Aufführungsdimensionen mittelalterlicher Texte.37 So werden beispielsweise durch Schrift vermittelte Rituale oder Prozessionen analysiert. Der enge Zusammenhang von Performativität und Medialität kommt auch in den Untersuchungen zur Botenkommunikation oder zum Briefwechsel im Mittelalter zum Tragen.38 Aktuell wird an einer Verbindung zwischen den Feldern der Performativität und der Emotionsforschung gearbeitet, hier sind weitere interessante Fragestellungen zu erwarten.39
Wichtig für diese Arbeit sind zwei weitere Kategorisierungen, die in der (germanistisch-) mediävistischen Arbeit mit dem Performativen vorgenommen werden. Eine davon ist oben bereits kurz angesprochen worden und soll hier vertieft werden: Es hat sich als hilfreich erwiesen, eine Trennung von struktureller und funktionaler Performativität vorzunehmen. Funktionale Performativität fragt nach der Wirkung eines Textes, interessiert sich also für eine aussertextuelle Ebene an der Schnittstelle zum Rezipienten. Der Text stiftet Wirklichkeit durch Handlungsanweisungen (ein Dialog zwischen Handschrift und Rezipient wird aufgenommen), er fördert z.B. Gemeinschaft (durch die Stiftung des gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses) oder er verändert diese durch die iterativen Inszenierungen bestimmter Inhalte. Im Zusammenspiel mit der medialen Gestaltung wird dieser Wirkungsanspruch gestärkt (oder eben nicht). Strukturelle Performativität interessiert sich demgegenüber für „Performanz im Text“, also z.B. für Strategien, die der Inszenierung von Präsenz, von Mündlichkeit und Körperlichkeit dienen. Dazu gehören beispielsweise fingierte mündliche Kommunikation, ereignishafte Ausrufe oder die Inszenierung von Emotionalität.40 Velten macht aber auf einen wichtigen Punkt aufmerksam:
Solche performativen Textstrukturen weisen jedoch weniger auf vorgängige Aufführungen hin, sondern sie sind bewusst gelegte Strategien der Schrift mit der Aufgabe, den Text selbst als Bühne von Aufführungen zu präsentieren. Indem solche Inszenierungen auf ihren eigenen, fingierten und artifiziellen Charakter zurückverweisen, können sie ein distanzierendes, sogar parodistisches Potential entfalten.41
Auch Irmgard Maassen weist darauf hin, dass die genannten Textstrategien keine Spuren von „authentischeren oralen Praktiken“ sind, sondern bewusst gelegte Spuren einer Inszenierung von Oralität und Authentizität in einer Schriftkultur.42 Auch die Lektüren der P-E werden im Hinblick auf diese zwei Dimensionen differenziert. Anschliessend müssen sie jedoch wieder in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden, da die eine Dimension nicht ohne die andere existiert. Es wird auch danach zu fragen sein, inwiefern sich die beiden Dimensionen entsprechen oder (bewusst oder unbewusst) Gegensätzliches bewirken.
Die zweite der angesprochenen hilfreichen Kategorisierungen betrifft Hans Rudolf Veltens vier heuristische Ebenen zur Untersuchung von Performativität: Die erste Ebene ist die Darstellungsebene, auf der Performances und Handlungen im Text wiedergegeben und verstetigt werden. In der Oralitätsforschung richtet sich die Untersuchung dieser Ebene auf die Restbestände oder Spuren von Aufführungen oder Mündlichkeit. Mit einer performativen Perspektive aber wird klar, dass der Text nicht nur als Hilfe für eine Rekonstruktion dient, sondern er „wirkt der Flüchtigkeit von Aufführungen und Gesten entgegen, indem er sie fixiert und ihr kulturelles Wissen produktiv verarbeitet.“43 Wichtig ist diese Ebene für die Analyse von Re-Inszenierungen von face-to-face-Kommunikationen, Gesten und anderen Körperinszenierungen in Texten. Auf der zweiten Ebene interessiert der vormoderne Text als Material für und von Performance, d.h. erst durch Aufführung wird er zu einem Werk: „Zentral ist dabei die Frage, inwieweit der Text etwa Regieanweisungen oder im aktionistischen Sprechen mit situativen Aktualisierungen kalkuliert, welche durch die von ihm angeregten Formen des Lesens, Vorlesens, Vortragens oder Aufführens entstehen.“44 Auch die Materialität des Textes an sich und wie er in aussertextuellen Inszenierungen thematisiert wird, steht auf dieser Ebene im Vordergrund.
Für die vorliegende Arbeit wichtiger als die ersten zwei Ebenen sind Veltens dritte und vierte Ebene. Sie wiederspiegeln auf gewisse Weise auch die Kategorisierung von funktionaler und struktureller Performativität. Die dritte Ebene (bzw. im Hinblick auf strukturelle Performativität) befasst sich mit der diskursiven Textebene: „Hier geht es darum, wie Performances in den narrativen oder dramatischen Vollzug integriert und simuliert werden. Dazu zählen sprachliche Inszenierungen, mittels deren der Text tut, wovon er spricht.“45 Auf der vierten Ebene (bzw. im Hinblick auf funktionale Performativität) wird die Erzeugung von aussertextueller Wirkung durch den Text analysiert. Einerseits geht es um die Fähigkeit von Texten, Rezipienten zu affizieren, also Gefühle auszulösen. Weiter gedacht geht es aber auch um die Fähigkeit des Textes Wirklichkeit herzustellen: Adressaten können modelliert werden, Diskurse, Emotionen, soziale Zusammenhänge und Ähnliches können konstituiert oder verändert werden.46 Erst in der Verbindung dieser Ebenen bzw. den in ihnen angelegten Reflexionsmomenten wird das Performative zu einer nützlichen Untersuchungsmethode und ermöglicht neue Zugänge zu vormodernen Texten.