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Kapitel 1 - Khyra

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May the road rise up

to meet you.

May the wind be

always at your back.

May the sun shine warm

on your face

and the rain falls soft

upon your fields.

And until we meet again,

may God hold you

in the palm of his hand.

- Irish Blessing -

Es waren die ersten warmen Tage in diesem Jahr. Dabei hatte der Sommer nicht einmal Einzug erhalten. Es war April, doch die Sonne schien schon um 9 Uhr morgens angenehm warm.

Khyra nahm die gleichmäßigen, schabenden Geräusche nicht mehr wahr, die ihre Inlineskates auf dem glatten Asphalt des Fahrradweges hervorriefen. Sie fuhr seit einer Viertelstunde in immer schnellerem Tempo in der Nähe des River Shannon. Schon in aller Frühe hatte sie beschlossen, den freien Vormittag zu nutzen, um ein wenig Sport zu treiben. Endlich wieder Bewegung an der frischen Luft, nach den vielen düsteren Wintertagen.

Khyra hatte sich darauf gefreut. Doch dann war dieser verheerende Anruf dazwischen gekommen. Und nun liefen ihr unaufhaltsam die Tränen über das Gesicht. Sie konnte nichts dagegen tun. Die Ränder des schmalen Asphaltweges nahm sie nur verschwommen wahr. Sie spürte die Kälte des Fahrtwindes an ihren tränenfeuchten Wangen.

Sie konnte Nadeyas Stimme noch immer hören, die in ihrem Kopf widerhallte.

»Bitte fang nicht gleich an zu weinen, okay?«

Erneut entstieg ein Schluchzen ihrer Kehle. Bald würde sie nicht mehr weiter fahren können. Ihr Inneres krampfte sich zusammen.

»Mom ist gestern Abend etwas... zugestoßen...«

Sie keuchte, als die Worte ihrer Schwester erneut ihre Gedanken durchströmten. Der erschreckend tiefe Schmerz fraß sich durch ihr Inneres. Nein... das war einfach... nicht möglich...

Sie rief sich das Gesicht ihrer Mutter in Erinnerung. Die feinen Lachfältchen, das rote, von grauen Strähnen durchzogene Lockenhaar, die blauen Augen, die sie ihren Töchtern vererbt hatte... Es konnte einfach nicht wahr sein. Jemand erlaubte sich einen üblen Scherz mit ihr.

In der Ferne sah sie einen Jogger herannahen. Peinlich berührt wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Sie hatte gehofft, um diese Uhrzeit niemanden zu treffen. Doch vielleicht hatte der Mann Kopfhörer im Ohr und achtete ohnehin nicht auf eine junge Frau, die in raschem Tempo an ihm vorbei sauste. Khyra konnte nur erkennen, dass er blaue Kleidung trug, doch fast sofort schossen neue Tränen in ihre Augen und die noch weit entfernte Gestalt verschwamm erneut.

»Sie ist tot, Khyra...«

Ein schmerzerfüllter Schrei entstieg ihrer Kehle und fast zeitgleich spürte sie die kleinen Steinchen der Bankette unter den Rädern ihres rechten Fußes. Sie verlor das Gleichgewicht. Der Tränenschleier trübte ihre Sicht und nur undeutlich nahm sie wahr, dass der Boden näher kam. Sie spürte den Aufprall, den harten Schlag an ihrer Schläfe und stieß einen neuerlichen Schrei aus. Vertrocknete Pflanzen stachen ihr in die Haut, während sie die Böschung hinab rutschte und sich dabei um sich selbst drehte. Sie keuchte erschrocken, während auf einmal jeder Zentimeter ihres Körpers schmerzte. Die feinen Zweige eines noch blätterlosen Busches zerkratzten ihr das Gesicht, als sie darin hängen blieb. Der Abhang war nicht tief. Zwei oder drei Meter vielleicht. In der Mulde blieb sie reglos liegen und konnte sich nicht rühren. Und sie wollte es auch gar nicht. Es war zu schmerzhaft. Nicht nur ihr Körper, sondern vor allem ihre Seele fühlte sich an, als wäre sie entzwei gerissen.

Alles war still um sie herum, nur Nadeyas Stimme dröhnte in ihrem Kopf.

»Khyra bist du noch dran? Ich sagte doch, du sollst nicht gleich weinen. Beruhig dich erst mal.«

»Ich gehe jetzt skaten«, hatte sie gesagt und einfach aufgelegt. Wie in Trance hatte sie ihre Inlineskater angezogen und war hinaus in die Morgensonne gerollt. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, sich ausgerechnet dann auf die Straße zu begeben, wenn einen jeden Moment der Schock übermannen konnte.

»Miss? Hey Miss!«

Eine tiefe, männliche Stimme drang an ihr Ohr. Der Jogger vielleicht. Er musste ihren Sturz gesehen haben, war er doch kaum einen halben Kilometer von ihr entfernt gewesen.

Eine Hand berührte ihr Gesicht und sie öffnete die Augen, während ein schmerzerfüllter Laut ihre Lippen verließ. Der Fremde hielt sich ein Handy ans Ohr, während er sie erleichtert anlächelte.

»Ja... Ja, sie ist wach. Beeilen Sie sich bitte... Ja ich bewege sie nicht... Gut... Gut das mache ich.«

Ihr Kopf dröhnte. Sie hob langsam die Hand, presste sie an ihre Schläfe und kniff die Augen wieder zusammen, als sie der Schmerz übermannte.

»Nicht bewegen«, sagte die sanfte Stimme des Fremden, »Wie heißen Sie?«

Sie reagierte nicht. Eine große, raue Hand massierte leicht ihre Finger.

»Miss?«

»Khyra...«, presste sie hervor.

»Freut mich, Khyra«, sagte der Fremde und lächelte sie an. »Ich bin Kian.«

Tiefbraune Augen schauten sie an und einige lange, braune Haarsträhnen hingen in seinem Gesicht. Er schwieg einen Moment, während er behutsam ihre Hand drückte.

»Wo haben Sie Schmerzen?«

Wieder brauchte sie einen Augenblick, um zu reagieren.

»Mein Kopf«, antwortete sie und versuchte verzweifelt, sich auf den Rest ihres Körpers zu besinnen. Doch es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.

»Noch irgendwo?«

Khyra stöhnte leise und schloss die Augen.

»Überall«, antwortete sie und griff sich an die Brust. In ihrem Innern schien etwas zu brennen. Sie krallte die Finger in ihren dünnen, verschwitzten Pulli und spürte, wie erneut Tränen über ihre Wangen liefen. Sie schluchzte.

»Es wird alles gut. Der Krankenwagen kommt bald und dann wird es Ihnen besser gehen.«

Khyra schüttelte den Kopf und stützte sich mit der freien Hand auf dem Boden ab. Sie wollte sich in eine aufrechte Position befördern, doch ihre dichten, roten Locken verfingen sich hinter ihr in den Zweigen des Busches.

»Au«, jammerte sie und versuchte sich zu befreien. Lange Finger griffen an ihr vorbei und lösten behutsam ihre Haarsträhnen aus den Ästen.

»Kommen Sie«, sagte Kian leise und schob seine Hände unter ihren Körper. Khyra schnappte nach Luft, als er sie mit Leichtigkeit auf seine Arme hievte und die Böschung erklomm.

»Geht es?«

»Ja«, gab sie zurück, doch urplötzlich traf sie der Schwindel und sie klammerte sich unwillkürlich am Hals des Fremden fest. Ein leises Keuchen entwich ihrer Kehle, während er sie sanft auf dem aufgewärmten Asphalt absetzte.

»Sie haben sich ganz schön den Kopf angeschlagen«, sagte Kian mit besorgter Miene, während er ihren Rücken stützte. Khyra schloss die Augen und presste sich erneut die Hand an die Schläfe. Doch das machte es nicht besser. Tränen rannen ihr über die Wangen. Ihre Mom... die Frau, die sie aufgezogen hatte, zu der sie es nie geschafft hatte, eine gute Beziehung aufzubauen... Sie war tot... Wie war das möglich? Und wieso war sie so leichtsinnig gewesen? Verzweifelt schluchzte sie auf.

Da spürte sie, wie die Finger des Fremden sanft ihre Hand umschlossen. Sein warmer Körper war dicht neben ihr, während er ihren Kopf auf seine Schulter bettete und ihr übers Haar strich.

»Ganz ruhig«, flüsterte er, »es wird alles gut.«

»Nichts wird gut«, brachte sie verzweifelt hervor. »Sie ist tot. Was soll schon gut werden?«

»Scht«, machte er, während er sie einfach in den Armen hielt. In diesem Augenblick ertönten entfernt die Sirenen des Krankenwagens.

»Sie sind gleich da«, sagte Kian leise. Er hob die Hand und legte sie an ihre Wange. Mit dem Daumen strich er ihr die Tränen fort. Ihre Blicke begegneten sich und Khyra verlor sich für einen Augenblick in diesem warmen Braun. Ihr Mund war leicht geöffnet, während sie ihn unentwegt ansah. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einem Fremden so in die Augen gesehen zu haben - überhaupt jemandem so nah gewesen zu sein, wie sie sich diesem Mann im Augenblick fühlte. Und das absurde an dieser Situation war, dass es dafür keine plausible Erklärung gab. Als er ihren Mund mit seinen warmen, weichen Lippen verschloss, fühlte es sich an, wie das Natürlichste auf der Welt. Sie würde es nicht in Frage stellen. Es war einfach so.

Unequally Love

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