Читать книгу Tamons Geschichte - Seishu Hase - Страница 11
2
ОглавлениеAls der Strand in Sicht kam, parkte Miguel. Die Küstenlinie war von Schutt übersät, der nach dem Tsunami an Land gespült worden war.
Ein halbes Jahr war seit dem großen Erdbeben vergangen, aber hier in Minami Soma hatten die Wiederaufbauarbeiten gerade erst begonnen.
Miguel ließ Tamon aus dem Auto und legte ihm seine Leine an. Langsam ging er die Küste entlang. Der Hund passte sich seinen Schritten an, ohne an der Leine zu ziehen.
»Good boy«, sagte Miguel.
Tamon zeigte keine Reaktion.
»Wartet im Süden jemand auf dich?«
Natürlich war es sinnlos, einem Hund Fragen zu stellen, aber Miguel konnte nicht anders.
Anstelle einer Antwort hob Tamon sein Bein und pinkelte ins Gebüsch.
»Mach, was du willst«, sagte Miguel. »Irgendwann kannst du mich nicht mehr ignorieren.«
Der Strand war menschenleer. Wahrscheinlich waren die Erinnerungen an den Tsunami noch zu frisch. Sich dem Meer nicht nähern zu wollen, war nur natürlich.
Nachdem Miguel zehn Minuten die Küste entlanggegangen war, sah er das Gebäude, zu dem er unterwegs war. Ursprünglich hatte es einem Fischverarbeitungsbetrieb gehört, doch fast alles, was sich darin befunden hatte, war von dem Tsunami weggespült worden. Nur die Betonwände und das Dach standen noch. Da der Betrieb bankrottgegangen war, kam niemand mehr dorthin.
Zusammen mit Tamon betrat Miguel das Gebäude. Er blieb stehen und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatten sie sich an das Halbdunkel gewöhnt.
Am Ende des Raumes sah Miguel zerstörte Maschinen und einen Berg aus Schutt, der als Absperrung diente. Dahinter befand sich eine Tür zu einem weiteren Zimmer. Er und seine Kumpane hatten bei ihrem ersten Besuch gemutmaßt, dass es einmal die Umkleidekabine der Mitarbeiter gewesen sein musste.
Miguel befestigte Tamons Leine an dem Bein eines umgekippten Tisches und machte sich ans Werk. Den Schuttberg, den sie zu dritt aufgehäuft hatten, allein abzutragen, war anstrengend, doch er arbeitete sich stoisch vor.
Nach einer halben Stunde kam die Tür zum Vorschein. Bei dem Tsunami musste etwas dagegen geprallt sein, denn sie war stark verbeult. Als sich Miguel mit dem Körper gegen die Tür stemmte und den Knauf drehte, ging sie knarrend auf.
Miguel fand die Spinde, die die Angestellten einstmals genutzt hatten, genauso vor wie vor einem Monat. Einer auf der linken Seite hatte seitdem ein nagelneues Zahlenschloss.
Miguel drehte die Rädchen, und das Schloss sprang auf. Im Innern des Schranks befand sich ein kleiner Rollkoffer. Miguel öffnete ihn. Er war bis oben hin voll mit Zehntausend-Yen-Scheinen – der gesamte Lohn ihrer Arbeit in Japan.
Mit so viel Geld hatte man in Miguels Heimat für sein Leben ausgesorgt, aber nur, wenn man alleinstehend war. Um eine Familie durchzufüttern, wäre mindestens das Dreifache nötig, und wenn er mit José und Ricky teilen müsste, fast das Zehnfache.
Für dieses Geld hatten sich die drei von Takahashi in die Präfektur Fukushima locken lassen. Er hatte ihnen eingeflüstert, die Gegend sei jetzt, in den Wirren nach der Katastrophe, ein Selbstbedienungsladen. Tatsächlich war ihnen die Arbeit hier leichter gefallen als in Tokio oder Osaka, aber sie hatte auch einen schalen Beigeschmack gehabt. In den Zeiten zwischen ihren Einbrüchen hatte Miguel die Opfer der Katastrophe gesehen, die ihre Häuser und geliebte Menschen verloren hatten. Sie ließen ihn an seine eigene Kindheit denken.
Miguel war in der Nähe eines Müllbergs aufgewachsen. Die Wellblechhütte, in der er gelebt hatte, hatte kaum die Bezeichnung »Haus« verdient. Seine Familie war so arm gewesen, dass Miguel von klein auf den Müllberg nach Wertsachen durchforsten musste. In seiner von Armut, Härte und Schmerz gezeichneten Kindheit war die Familie seine einzige Stütze gewesen.
Hier hatten viele Menschen sogar die verloren, und jetzt raubte Miguel sie auch noch aus. Zwar stahl er nichts direkt von den Opfern der Katastrophe, aber dennoch fühlte es sich genauso an.
Er tat es für seine Familie, hatte er sich gesagt und weitergemacht.
»Gehen wir.«
Miguel löste Tamons Leine vom Tischbein und nahm sie in die linke Hand. Mit der rechten zog er den Rollkoffer hinter sich her und ging nach draußen.
»Ich muss den Familien von Ricky und José ihren Teil des Geldes bringen.«
Tamon stellte die Ohren auf.
»Alles andere wäre nicht fair. Mit dem Geld, das mir bleibt, stelle ich ein Geschäft auf die Beine. Damit unterstütze ich meine große Schwester und kaufe ihr ein Haus. Vom Klauen habe ich genug.«
Tamon drehte sich um. Miguels Auto war im Norden geparkt, aber Tamon wollte gen Süden.
»Komm schon. Sobald wir im Auto sind, fahren wir nach Süden.« Das war gelogen, denn Niigata lag im Westen.
Wahrscheinlich suchten Takahashis Leute noch immer fieberhaft nach Miguel und dem Geld. Er würde die Autobahn meiden und über Landstraßen langsam nach Niigata fahren.
Miguel hob Tamon in den Kofferraum. Er legte sich sofort auf den Boden, und Miguel streichelte seinen Rücken. Das weiche Fell fühlte sich gut an.
»Meine Heimat ist vielleicht zu heiß für dich, aber keine Sorge, ich mache dir die Klimaanlage an.«
Den Koffer stellte Miguel auf den Rücksitz. Er nahm einige Zehntausend-Yen-Scheine heraus und steckte sie in sein Portemonnaie.
»Ich habe ganz schön Hunger«, murmelte er und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
***
Miguel beschloss, die Nacht auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums in einem Vorort der Stadt Kōriyama zu verbringen. Sein Magen beschwerte sich über das dürftige Abendessen, das nur aus einem süßen Brötchen und einem Kaffee aus der Dose bestanden hatte, doch er ignorierte den Hunger. Hunger war seit seiner Kindheit ein ständiger Begleiter gewesen.
Miguel rollte sich im Kofferraum neben Tamon zusammen. Eine Decke vermisste er nicht. Hier zu liegen, war um ein Vielfaches besser, als zwischen Müll schlafen zu müssen.
Miguel legte eine Hand auf Tamons Rücken. Der Hund blieb ganz ruhig. Zumindest schien er Miguel nicht feindlich gesinnt zu sein.
»Suchst du deine Freunde?«
Tamon reagierte nicht.
»Muss ich auf Japanisch mit dir reden? Hast du noch nie eine andere Sprache gehört?«
Tamon schloss die Augen.
Dein Gerede interessiert mich nicht, schien er Miguel sagen zu wollen.
»Du bist wirklich stolz.«
Miguel lächelte.
»Mein allererster Freund war ein Hund, ein Streuner. Er war dreckig und abgemagert, aber genauso stolz wie du«, erzählte Miguel.
Tamon gähnte.
Neben dem Müllberg hatten viele Familien wie die von Miguel gelebt. Alle waren gleich arm und wohnten in Behausungen, die praktisch nur aus einem Dach bestanden. Sie waren zugleich Leidensgenossen und Konkurrenten, denn um zu überleben, mussten sie die im Müll verborgenen Wertsachen schneller als die anderen finden.
In der Gruppe Kinder aus der Nachbarschaft war Miguel der Jüngste gewesen. Nur Säuglinge und Kleinkinder, die noch nicht richtig laufen konnten, hatten unter ihm gestanden. Normalerweise waren die älteren Jungen und Mädchen seine Spielgefährten, doch sobald es um die Arbeit ging, verwandelten sie sich in eiskalte Plünderer. Wenn jemand davon Wind bekam, dass Miguel etwas Wertvolles gefunden hatte, wurde es ihm sofort weggenommen.
Er wehrte sich verzweifelt, kam gegen die Größeren aber nicht an. Nachts weinte er sich in den Schlaf. Wenn er seinen Eltern oder seiner älteren Schwester davon erzählte, schimpften sie, er solle seine Fundstücke rechtzeitig mit nach Hause bringen.
Mit der Zeit wurde Miguel immer schweigsamer. Statt mit den anderen zu spielen, durchforstete er stoisch den Müllberg. Das machte ihn zum Außenseiter, woraufhin er noch erbarmungsloser ausgeplündert wurde. Man schlug, beschimpfte und bespuckte ihn.
Eines Tages fand Miguel ein altes Klappmesser. Der Griff war abgenutzt und die Klinge so verrostet, dass er sie nicht einmal mehr ausklappen konnte. Mit Lumpen und Sandpapier aus dem Müll befreite er das Messer geduldig vom Rost. Nach einem Monat glänzte die Klinge wieder. Er schliff sie mit einem Stein, und um den Griff band er ein halbwegs sauberes Stück Stoff. Dann wickelte er das Messer in Zeitungspapier ein und versteckte es unter seiner Kleidung.
Einige Tage später täuschte Miguel beim Arbeiten auf dem Müllberg mit einem lauten Ausruf vor, er habe etwas Wertvolles gefunden. Sofort kamen Plünderer und befahlen ihm, ihnen den Fund zu geben. Miguel zog sein Messer und griff die Jungen damit an. Sie schrien, und Blut spritzte.
Während Miguel wie ein Verrückter mit dem Messer herumfuchtelte, packte ihn ein Kind am Arm und stieß ihn zu Boden. Man nahm ihm das Messer weg, und unzählige Schläge und Tritte prasselten auf ihn ein.
Als seine Eltern ihm zu Hilfe kamen, blutete Miguel und war voller Schwellungen. Eine Woche lang musste er das Bett hüten. Als er wieder aufstehen und arbeiten konnte, wurde er nicht mehr ausgeraubt. Die Kinder behandelten ihn von nun an wie Luft. Niemand sprach mit ihm oder sah ihm in die Augen. Wenn er sich einer Gruppe Kinder näherte, gingen sie ihm eiligst aus dem Weg.
Miguel war ein Geist – ein kleiner Geist, der auf dem Müllberg umherirrte.
Tagein, tagaus pflügte er allein durch den Müll. Er stürzte sich auf die Arbeit und schenkte den lachenden und spielenden Kindern keine Aufmerksamkeit.
Irgendwann würde er diesen Ort verlassen. Er würde keinen Hunger mehr leiden und in einem richtigen Haus wohnen. Das war sein einziger Gedanke.
Eines regnerischen Tages, als Miguel bis auf die Knochen durchnässt im Müll wühlte, merkte er auf einmal, dass jemand direkt hinter ihm stand. Ruckartig drehte er sich um. Seit dem Vorfall mit dem Messer kam ihm außer seiner Familie niemand mehr so nah.
Vor ihm stand ein Hund.
Es war ein Mischling mit kurzem Fell. Er musste in etwa dasselbe wie Miguel wiegen, und er war genauso dünn wie er. Der Hund betrachtete ihn aus neugierigen Augen.
»Ich habe nichts zu fressen für dich. Ich habe selbst Hunger«, sagte Miguel. »Verzieh dich!«
Der Hund wedelte mit dem Schwanz.
Miguel wandte ihm den Rücken zu und machte sich wieder an die Arbeit. In den letzten Tagen hatten seine Eltern und seine Schwester nichts Lohnendes gefunden, und langsam war der Hunger nur noch schwer auszuhalten. Er musste etwas auftreiben, das Geld einbrachte.
Der Hund blieb. Er beobachtete Miguel beim Arbeiten, ohne sich ihm zu nähern oder wegzulaufen.
»Was ist denn?«
Miguel hielt inne. So unter Beobachtung verlor er die Konzentration.
»Was willst du von mir?«
Der Hund kam näher, und Miguel wappnete sich für einen Angriff. Schon oft hatte er Geschichten über ausgehungerte Streuner gehört, die Kinder attackierten. Doch der Hund sprang ihn nicht an. Er näherte sich langsam, aber mit selbstsicheren Schritten. Dann schnupperte er die Gegend ab, die Miguel gerade durchsucht hatte.
»Hier gibt es nichts zu fressen«, sagte Miguel und dachte, dass dieser Streuner so hungrig wie er selbst sein musste.
Der Hund fing an, flink mit den Vorderbeinen im Müll zu graben. Es sah fast so aus, als hätte er sich die Technik von Miguel abgeguckt.
»Du willst mir helfen?«
Auf einmal fühlte er sich dem Hund verbunden, wie er da so konzentriert im Müll wühlte.
»Gut, dann machen wir das zusammen.«
Miguel nahm die Arbeit wieder auf. Er fand nichts Brauchbares, wo er auch suchte, aber er grub weiter, als würde er mit dem Hund um die Wette eifern. Obwohl es dieselbe Arbeit war, machte sie ihm auf einmal viel mehr Spaß.