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Am Tag nach dem Telefonat mit Mayumi versuchte Kazumasa, im Internet Informationen zu Tamon zu finden.

Tamon, Hund, Männchen, Schäferhund, Mischling, Hund vermisst, Erdbebenkatastrophe – er gab alle Schlagwörter ein, die ihm in den Sinn kamen, landete aber keinen Treffer.

Kazumasa deutete das als Zeichen, dass niemand nach Tamon suchte. Entweder konnte sich sein ehemaliger Besitzer seit der Katastrophe nicht mehr um den Hund kümmern, oder er war gestorben.

Kazumasa hatte das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, nun konnte er Tamon ohne schlechtes Gewissen behalten. Er beschloss, noch am selben Tag seine Mutter und Schwester zu besuchen.

Die beiden lebten in dem Einfamilienhaus, in dem Kazumasa aufgewachsen war. Es stand in einer Wohngegend südlich des Flusses Natori.

Kurz nach Mayumis Geburt hatte ihr Vater das Haus gekauft. Die letzten Raten des Kredits hatte die Familie nach dem Tod des Vaters von dem Ertrag seiner Lebensversicherung abbezahlt.

Eigentlich hatten Kazumasa und Mayumi das Haus verkaufen wollen, sobald der Gesundheitszustand ihrer Mutter es erforderte, sie in ein Pflegeheim einweisen zu lassen. Die Katastrophe hatte diesen Plan zunichtegemacht.

Vor dem kleinen Grundstück gab es neben ein paar unscheinbaren Blumenbeeten einen Parkplatz für ein Auto. Kazumasa stellte seinen Wagen hinter den von Mayumi. Das Heck ragte auf die Straße hinaus, aber darüber hatte sich noch nie ein Anwohner beschwert.

»Komm, Tamon! Und benimm dich.«

Kazumasa legte Tamon ein neues Halsband und eine neue Leine an, die er zusammen mit dem Hundefutter gekauft hatte, und stieg aus.

»Mayumi, ich habe Tamon mitgebracht!«, rief er ins Haus. Es dauerte einen Moment, bis er eine Antwort bekam.

»Kazumasa?«, hörte er Mayumis Stimme. »Du hast den Hund dabei?«

Bevor er in den Flur trat, putzte er Tamons Füße mit einem feuchten Handtuch ab, das er dafür mitgebracht hatte.

Mayumi kam aus dem Badezimmer.

»Machst du gerade die Wäsche?«, fragte Kazumasa.

Sofort verfinsterte sich die Miene seiner Schwester. »Mama ist mal wieder ein Malheur passiert.«

Mayumis Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte ihre Mutter nicht bloß uriniert.

»Oh, das tut mir leid«, entgegnete Kazumasa.

Er fühlte sich schuldig, Mayumi mit all den Schwierigkeiten alleinzulassen.

»Ans Saubermachen in solchen Fällen habe ich mich schon gewöhnt, aber sie wird immer so ungehalten, wenn ihr das passiert. Bestimmt schämt sie sich, aber … Oh! Hallo, Tamon!«

Mayumi ging in die Hocke und streckte ihre Hand aus. Tamon schnüffelte interessiert daran, dann schleckte er sie ab.

»Er hat ein kluges Gesicht«, meinte Mayumi und kraulte Tamon hinter den Ohren.

»Ein toller Hund, oder?«

»Er ist ganz ruhig und friedlich, wie du gesagt hast. Bestimmt mag Mama ihn auch. Komm, bringen wir ihn gleich zu ihr.«

Kazumasa und Tamon folgten Mayumi den Flur entlang bis zur letzten Tür, hinter der sich das Zimmer ihrer Mutter befand. Es war das sonnigste im ganzen Haus und war mit Tatamimatten ausgelegt.

»Mama, Kazumasa ist hier. Wir kommen rein, ja?«

Sie bekamen keine Antwort, aber Mayumi öffnete die Tür. Der Geruch von Desinfektionsmitteln schlug Kazumasa entgegen. Er nahm die Leine in seine andere Hand und betrat mit Tamon das Zimmer.

»Wie geht es dir, Mama?«, fragte Kazumasa.

Seine Mutter lag seitlich auf ihrem Futon und hatte den Hals in die Höhe gereckt, um die Blumenbeete hinter dem Fenster betrachten zu können.

»Mama?«

Als Kazumasa sie zum zweiten Mal ansprach, drehte sie sich zu ihm um.

»Verzeihung, aber wer sind Sie?«

Kazumasa biss sich auf die Unterlippe. Er war erschüttert. Dass sich ihr geistiger Zustand nach und nach verschlechterte, wusste er, aber bislang hatte sie ihn immer erkannt.

»Was redest du denn da, Mama? Das ist Kazumasa, dein Sohn«, sagte Mayumi mit gespielter Fröhlichkeit. Ihr verkrampftes Lächeln verriet, dass auch sie mitgenommen war.

»Ach, Kazumasa, du bist aber groß geworden«, sagte seine Mutter jetzt.

Während Kazumasa noch nach Worten suchte, machte Tamon bereits einige Schritte auf sie zu und schnupperte an ihrem Gesicht.

»Ein Hund? Bist du das etwa, Kaito?«, fragte Kazumasas Mutter. Sie streckte ihre Hand nach Tamon aus und kraulte ihn an der Brust.

»Kaito!«, rief sie freudig. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, Kaito?« Sie klang wie ein kleines Mädchen.

»Kaito?«, fragte Kazumasa.

»Noch nie gehört«, gab Mayumi zurück. »Vielleicht hieß so der Hund, den sie als Kind gehalten hat.«

»Kaito, Kaito!«

Kazumasas Mutter hörte gar nicht auf, Tamon zu streicheln. Nicht nur ihre Stimme, ihr ganzes Verhalten wirkte jetzt wie das eines kleinen Mädchens.

»Seit wann ist es so schlimm mit ihr?«, fragte Kazumasa mit einem Seitenblick auf seine Mutter.

»Seit zwei, drei Wochen vielleicht«, erwiderte Mayumi. »Mich erkennt sie manchmal auch nicht.«

»Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Ich wollte dir keine Sorgen bereiten. Natürlich war mir klar, dass ich es dir irgendwann sagen müsste.«

Mayumi senkte betrübt den Blick.

»Hört mal«, rief ihre Mutter und richtete sich auf. »Wir müssen mit Kaito Gassi gehen!«

»Gute Idee. Gehen wir eine Runde spazieren«, antwortete Kazumasa sofort.

***

Kazumasa beobachtete angespannt, wie seine Mutter mit Tamons Leine in der Hand fröhlich vor ihm und seiner Schwester herlief. Mayumi schien sich ebenfalls Sorgen zu machen, sie sah angestrengt aus.

Ihre Mutter merkte nichts davon und war bester Laune. Sie redete ununterbrochen mit Tamon und blieb immer wieder stehen, um ihn zu streicheln.

»Mama ist wie ein kleines Kind«, sagte Mayumi.

»Ja, wirklich.«

Kazumasa nickte. Seine Mutter schien sich regelrecht zurückentwickelt zu haben. Wenn wir nicht aufpassen, tut sie etwas Verrücktes, dachte Kazumasa sorgenvoll.

Nur Tamon ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Obwohl er sich in einer für ihn ganz neuen Umgebung befand, wirkte er gelassen. Im Notfall würde er Kazumasas Mutter beschützen, das strahlte er aus.

»Was trödelst du so, Kazumasa? Beeilung!«

Seine Mutter hatte sich umgedreht und winkte ihm zu. Jetzt erinnerte sie sich wieder an seinen Namen.

»Du läufst zu schnell, Mama!«

Kazumasa beschleunigte seine Schritte und schloss zu seiner Mutter und Tamon auf.

»Kaito ist ein braves Kind. Er zieht gaaar nicht an der Leine und läuft immer neben mir her.« Selbst die Sprache seiner Mutter war kindlich geworden.

»Ja, Kaito ist schlau«, meinte Kazumasa und kraulte Tamon dankbar am Kopf.

»Schon als Welpe war er ein ganz braves Hündchen.«

Mayumi hatte wohl recht. Ihre Mutter verwechselte Tamon mit dem Hund aus ihrer Kindheit. Sie wirkte jetzt zwar viel jünger und wacher, aber natürlich hatte die Demenz sie noch immer fest im Griff.

Der Fluss Natori kam in Sicht. Reisfelder säumten das Ufer.

An einer Stelle ohne Ampel oder Zebrastreifen wollte Kazumasas Mutter, ohne nach links oder rechts zu sehen, einen Fuß auf die Straße setzen. Kazumasa war kurz davor, laut »Achtung!« zu rufen, verkniff sich die Warnung aber im letzten Moment.

Tamon war stehen geblieben, und da sich seine Leine spannte, hielt auch Kazumasas Mutter an.

»Was ist denn, Kaito?«, fragte sie verwundert.

Eine Sekunde später donnerte ein großer Lastwagen direkt an ihnen vorbei.

»Du kannst doch nicht einfach auf die Straße laufen, das ist gefährlich, Mama!«, rief Mayumi, die, blass im Gesicht, herbeigeeilt war.

»Ist es gar nicht. Kaito passt doch auf mich auf«, antwortete ihre Mutter und lachte arglos.

Die Geschwister sahen sich an. Ein kühler Windzug, der den Anfang des Herbstes erahnen ließ, fegte an ihnen vorbei.

***

»Heute hast du uns gerettet, Tamon«, sagte Kazumasa, während er Tamon, der wieder auf dem Beifahrersitz saß, streichelte. »Du hast meine Mutter aufgehalten, als sie auf die Straße rennen wollte. Mayumi meinte, du seiest ein Schutzgott.«

Während er sich streicheln ließ, blickte Tamon die ganze Zeit durch die Windschutzscheibe.

Nach einem knapp einstündigen Spaziergang war die Familie nach Hause zurückgekehrt. Kazumasas Mutter war so erschöpft gewesen, dass sie sich gleich schlafen gelegt hatte. Mayumi zufolge war es ihr erster Spaziergang seit langem gewesen. Sie verließ kaum noch das Haus.

Nachdem Kazumasa einen letzten Blick auf seine schlafende Mutter geworfen hatte, hatte er sich mit Tamon verabschiedet.

Die Ampel wurde grün. Kazumasa legte beide Hände auf das Lenkrad und trat aufs Gaspedal.

Vor der Katastrophe hatte er einen Wagen mit Gangschaltung gefahren, von Automatik hielt er nichts. Doch sein Wagen war bei dem Erdbeben unter einer Betonwand begraben worden und auf dem Schrottplatz gelandet. Einen neuen hatte er sich nicht leisten können, aber da er für die Arbeit als Lieferfahrer ein Auto brauchte, hatte ihm Numaguchi dieses hier überlassen. Es war ein alter Spritschlucker mit unzähligen Macken. Ihn instand zu halten, kostete ein Vermögen.

»Ich hätte wirklich gern eine neue Karre«, murmelte Kazumasa. Tamon sah ihn an.

»Und ich will Mayumi Geld geben.«

Tamon blickte wieder nach vorn.

»Ich brauche Kohle.«

Tamon gähnte.

Kazumasa parkte in der Nähe seiner Wohnung am Straßenrand. Er stand wie immer im Halteverbot, hatte hier aber noch nie einen Strafzettel bekommen. Seit der Katastrophe war die Polizei derart beschäftigt, dass sie sich um solche Lappalien nicht mehr zu kümmern schien. Doch irgendwann würde alles wieder zur Normalität zurückkehren, und dann müsste Kazumasa einen Parkplatz mieten.

Ein Parkplatz kostete Geld. Alles kostete Geld.

Zurück in seiner Wohnung stellte Kazumasa einen Napf mit Hundefutter auf den Boden. Er selbst aß Instantnudeln.

»Du kriegst besseres Essen als dein Herrchen, weißt du das eigentlich?«, fragte Kazumasa, während er zusah, wie Tamon gierig sein Futter verschlang.

Es ärgerte ihn, dass ihm solche Sätze über die Lippen kamen. Frustriert steckte er sich eine Zigarette in den Mund.

Sein Handy klingelte. Es war Mayumi.

»Was ist los?«, fragte Kazumasa.

»Mama ist aufgewacht und fragt die ganze Zeit nach Kaito.«

»Ich bringe ihn demnächst wieder mit.«

»Es freut mich ja, dass der Hund sie so glücklich macht, aber ich mache mir auch ein bisschen Sorgen. Sie verhält sich immer noch wie ein trotziges Kind. Und als ich ihr erklärt habe, dass du es warst, der Kaito mitgebracht hat, hatte sie es schon wieder vergessen.«

»Du meinst, sie hat mich vergessen?«

Anstelle von einer Antwort hörte Kazumasa nur einen lang gezogenen Seufzer.

»Meinst du, wir sollten doch ein Pflegeheim für sie suchen?«, fragte er.

»Und woher nehmen wir bitte schön das Geld dafür?«

Nachdem sie das Haus abbezahlt hatten, war von der Lebensversicherung ihres Vaters nur noch ein verschwindend kleiner Betrag übrig geblieben. Von diesem Geld und von ihren geringen Ersparnissen lebten Mayumi und ihre Mutter nun. Eine Verwandte mütterlicherseits besaß einen Bauernhof und schickte den beiden regelmäßig Reis und Gemüse, sodass sie gerade so über die Runden kamen.

»Es tut mir leid, Mayumi«, sagte Kazumasa.

»Hör auf, dich zu entschuldigen! Wir sind doch eine Familie.«

Nachdem er aufgelegt hatte, drückte Kazumasa seine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Tamon, ich will’s versuchen«, sagte er zu dem Hund, der sich nach dem Essen an seine Seite gelegt hatte. »Ich will den Job machen, den mir Numaguchi angeboten hat. Die Arbeit ist gefährlicher als die, die ich jetzt mache, aber sie bringt auch viel mehr Geld. Und ich habe das Gefühl, dass du mich beschützen wirst, so wie du meine Mutter heute beschützt hast.«

Tamon hatte die Augen geschlossen, aber seine Ohren zuckten, während Kazumasa sprach.

»Ich brauche Kohle. Dein Futter muss ich auch bezahlen. Ja, ich mache es.«

Tamon öffnete die Augen und sah Kazumasa an.

Einverstanden, schien sein Blick zu sagen.

Tamons Geschichte

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