Читать книгу Türke - Aber trotzdem intelligent - Selcuk Cara - Страница 11
DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER
ОглавлениеMein Vater hat mich mitgenommen! Auch wenn seine Welt die Welt der Erwachsenen ist, der Rituale und Traditionen, eine Männerwelt. Trotzdem bin ich glücklich, denn mein Vater hat Zeit für mich – für einen Augenblick, für eine Erinnerung.
Kurz nach Sonnenaufgang hocke ich inmitten einer Herde verspielter Lämmer und weiß nicht wohin mit meiner Liebe. Von allen Seiten drängen sich die zarten Köpfe an mich, umzingeln mich, drücken mich zu Boden, halb schnuppernd, halb knabbernd, und richten mich wieder auf.
Plötzlich teilt sich die Herde, mit lautem Geblöke stieben die Tiere nach links und rechts davon. Dann höre ich die gedämpften Rufe der Männer, die die Lämmer mit ausgebreiteten Armen zusammentreiben, eines nach dem anderen mit einem festen Griff packen und auf ihren Rücken in einen zerfallenen Schuppen schleppen.
Die Tiere wehren sich nicht, ihre Augen schauen schicksalsergeben gen Himmel, in die aufgehende Sonne hinein.
Heute lerne ich den Unterschied zwischen einem lebensfrohen Lamm und einem Opfertier kennen; den Unterschied zwischen einem Tier, mit dem man gerade noch gespielt und herumgetollt hat, und einem Tier, das zu etwas Höherem bestimmt ist, zu etwas Heiligem. Die Lämmer sind auserkoren für ein heiliges Fest – Kurban Bayramı, das Opferfest.
Eben noch zeigten sie mir ihre uneingeschränkte Zuneigung, jetzt müssen sie herhalten für ein blutiges Ritual. Welch eine Ehre für das tote Tier! Welch ein Fest für ein Kind!
Nicht das Meer, die verträumten Buchten, die warmen Sandstrände, nicht die vielen Sehenswürdigkeiten, Amphitheater, Felsengräber habe ich vor Augen, wenn ich an die Türkei denke, sondern Blut und Gebet.
Mein Vater hatte entschieden: Das Urlaubsgeld meiner Mutter sollte diesmal nicht in unsere Firma gesteckt werden, sondern wir wollten in die Türkei fahren, um unsere Familien zu besuchen.
Die erste Station sollte der Geburtsort meiner Mutter sein, Gaziantep in der Südosttürkei. Gazi stand für unbesiegbar – das unbesiegbare Antep. Dort lebte noch immer meine anneanne, die Mutter meiner Mutter. Sie wohnte in einem Stadtteil, wo einst sehr viele Juden lebten, daher hieß das angrenzende Viertel bis vor wenigen Jahrzehnten noch Yahudi Mahallesi – Judenviertel.
In diesem Viertel von Gaziantep wurde meine Mutter geboren, hier ist ihr Vater, mein Großvater, gestorben.
Erst einige Tage nach seiner Beerdigung, die bei Muslimen wie Juden sehr zeitnah geschehen muss, erfuhr sie von seinem Ableben. Auf seinem Grabstein stand das altosmanische Wort für „Geldmacher“, oder, wie man in den USA sagt: „Moneymaker“. Es war der Familienname meiner Mutter.
Ihr Mann hatte ihr in Deutschland nichts vom Tod ihres geliebten Vaters erzählt; nicht um sie zu schonen, sondern weil er glaubte, dass die finanzielle Situation seiner Firma es nicht erlaubte, so kurzfristig eine Reise in die Türkei für Mutter und Sohn zu buchen. Vielleicht dachte er zu Recht, dass es unmöglich war, noch vor der Beisetzung in der Türkei zu sein; doch hätte er ihr die Nachricht vom Tod ihres Vaters niemals vorenthalten dürfen.
Meine Mutter war die Einzige aus der großen „Moneymaker“-Familie, die auf der Beerdigung des Familienoberhauptes fehlte – hauptsächlich aus finanziellen Gründen fehlte. Sie war gefangen im Land des Wohlstandes und der nie enden wollenden Glückseligkeit – gefangen im rücksichtslosen Ehrgeiz ihres Mannes. Sie würde meinem Vater in den folgenden Jahren vieles verzeihen, das jedoch nie.
In den Freilichtkinos von Gaziantep gab es amerikanische Filme mit all den Stars, die ich auch aus Deutschland kannte, nur sprachen sie hier fließend Türkisch und nicht Deutsch. Manchmal sprachen sie auch, ohne die Lippen zu bewegen oder die Lippen bewegten sich, aber man hörte keinen der Stars sprechen.
Man schaute in der Regel zwei Filme hintereinander; meist einen türkischen Film und danach einen Amerikan film. Statt Popkorn wurden Unmengen von Kürbiskernen verzehrt, sodass nach jeder Kinovorstellung der Boden über und über weiß bedeckt war. Schnee im Sommer sagten manche Türken dazu.
Einiges war hier anders.
Man verlangte von mir, ein Nutella-Imitat aus der Tube zu essen, Milch zu trinken, die zu süß und zu fettig war, Käse aus einem heißen Wasserbad auf ein Weißbrot zu legen und Limonade zu trinken, die nach Zitrone und Zucker schmeckte. Ich sollte auf mein Hähnchen verzichten, das ich in Deutschland gewohnt war, jede Woche zu essen. Schließlich warteten ja die besten Dorfhühner bei meinem Großvater väterlicherseits, den ich bald besuchen sollte, auf mich.
Bei meinem Großvater?
Ich hatte ihn erst einmal bewusst gesehen und in der Zwischenzeit war er für mich zu einer verklärten Gestalt geworden.
Wenn ich in Deutschland mit etwas prahlen wollte, so prahlte ich mit meinem Großvater, der Hunderte Kilometer entfernt von der nächsten Großstadt, mitten in der Wildnis, ohne Licht und Strom zu überleben wusste.
Was hatte er nicht schon alles in meiner Phantasie getan! Er hatte sein Pferd vor einem Bären mit einem Messer in der Hand verteidigt, Wölfe mit Steinen verjagt und Fische mit bloßen Händen gefangen – nur fliegen konnte er noch nicht. Und jetzt sollte ich zu ihm ins Dorf? In die Wildnis?
Meine Freude darüber war sehr begrenzt und endete mit einem Wutausbruch, als man mir sagte, dass ich über einen Monat mit ihm allein in seinem Lehmhaus leben sollte; es war eine Sache, von der Wildnis und von aufregenden Abenteuern zu träumen, aber eine ganz andere, einen Monat lang in selbiger zu leben, zumal man mir in Deutschland vor der Reise einen Aufenthalt am Mittelmeer versprochen hatte und nicht in der Wüste.
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