Читать книгу Türke - Aber trotzdem intelligent - Selcuk Cara - Страница 15
DER ESEL
ОглавлениеAm darauffolgenden Tag stand ein Esel gesattelt für meinen ersten Ausritt bereit. Ich eilte die Terrasse hinunter, um den Esel zu streicheln. Als ich ihn zwischen den Ohren kraulen wollte, drehte er verschreckt seinen Kopf zur Seite, um mir seine Zähne im Profil zu zeigen. Er hätte mit dem Busfahrer verwandt sein können, so sehr glichen sich die Eselszähne mit denjenigen des Fahrers. Fröhlich rief ich meinem Großvater entgegen:
„Er hat die gleichen Zähne wie der Busfahrer!“
Doch Großvater reagierte nicht. Das Tor ging langsam auf, und das kleine Mädchen huschte an mir vorbei, die Treppe hinauf, in die Arme meines Großvaters.
„Steig schon auf! Worauf wartest du?“, rief er hinunter, während er und das Mädchen anfingen zu kichern.
„Aber wie denn, wie soll ich auf den Esel steigen?“
Das Mädchen vergrub seinen Kopf im Schoß meines Großvaters. Er schob es sanft zur Seite und kam, sich an der Wand abstützend, ohne Stock die Treppe hinunter:
„Steig auf! Der Esel wird dich zu unserem Bach bringen. Wenn er erst aus dem Dorf ist, wird er bald seinem Durst folgen und dich direkt zum Wasser bringen.“
Zögernd und umständlich kletterte ich auf den klobigen, hölzernen Sattel des mir riesenhaft erscheinenden Esels. Der Sattel erinnerte mich an eine Seifenkiste, die in der Garage eines Klassenkameraden stand. Damals durften wir sie nur anschauen, weil sie nicht ihm, sondern überraschenderweise seinem Vater gehörte. Jetzt endlich durfte ich in einer Seifenkiste sitzen, die schwankend auf einem Esel balancierte.
Mein Großvater öffnete das Tor, führte den Esel auf die Straße und blickte in die Ferne:
„Denk dran, du musst gar nichts machen. Nur mit dem Stock rechts auf den Hals klopfen, wenn du nach links willst, und links auf den Hals klopfen, wenn du nach rechts willst. Aber er macht auch alles von alleine. Der Esel hat Charakter.“
Prompt lief der Esel los, ohne weitere Vorwarnung, als ob mein Großvater gerade zu ihm und nicht zu mir gesprochen hätte. Mein Großvater blieb lächelnd am Tor zurück.
Ich fühlte sofort, dass ich auf diesem Esel wie ein Vollidiot aussah, und bald würden die Dörfler, an denen ich vorbeireiten musste, es auf ihre sehr eigene, einfühlsame Art und Weise bestätigen.
Der Esel trottete so gemächlich durchs Dorf, dass die alten Männer und Frauen, die vor jedem Haus Wache standen, mich in Ruhe mustern konnten. Sie hatten nur eine Aufgabe: das lautstarke Verkünden all der Dinge, die gerade auf der Straße oder im Dorf passierten. Ohne zu zögern taten sie auch jetzt, wofür sie hier abgestellt wurden; sie machten zwei Schritte ins Haus und riefen die neueste Kunde in die Zimmer.
Ausnahmslos aus jedem Haus stürmten Grüppchen von Kindern, die mich mit lautem Geschrei erbarmungslos umzingelten. Doch der charakterstarke Esel lief unbeeindruckt weiter, bis wir das letzte Haus des Dorfes erreichten. Dort blieb er abrupt stehen.
Die wenigen Minuten bis hierher hatten sich wie Stunden angefühlt, und jetzt plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mir das Blut aus Armen und Beinen in den Kopf schoss und ich mich nicht mehr auf dem Esel halten konnte.
Die Erwachsenen hatten ihre Neugier nach kurzer Zeit befriedigt. Die Kinder jedoch frohlockten erbarmungslos. Ich klopfte dem Esel, so wie mein Großvater mir es gezeigt hatte, rechts auf den Hals, doch nichts passierte; ich klopfte etwas stärker links, aber auch diesmal zeigte das Tier keine Regung. Mit der Geduld und den kindlichen Nerven am Ende, schlug ich ihm mit voller Wucht auf sein Hinterteil. Endlich bewegte er sich wieder, und ich hoffte auf das Ende der Blamage. Aber er machte nur einen Schritt vorwärts, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen und dann in Blickrichtung zum Dorf endgültig stehen zu bleiben. Ich beschimpfte ihn auf Deutsch, wechselte aber sofort ins Türkische, als mir einfiel, dass es sich hierbei um einen türkischen Esel handelte. Die Kinder starrten auf den deutschen Städter, der auf „deutschländischem“ Türkisch einen Esel beschimpfte, und schrien vor Lachen.
Ich sprang herab, ließ den Esel stehen, wo er war, und rannte durch das Dorf zurück zum Haus meines Großvaters.
Noch Tage danach amüsierte sich das ganze Dorf über diese Geschichte. Eines der grölenden Kinder von damals arbeitete später bei meinem Vater in Deutschland und erzählte diese Geschichte seinen Kollegen. Alle lachten um die Wette, so wie Jahrzehnte zuvor die vielen Kinder aus dem Dorf gelacht hatten – über mich, den Esel.
* * *