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„MEIN SOHN, KANNST DU BETEN?“
ОглавлениеEine Woche war vergangen.
Mein Großvater und ich saßen auf der mir nun vertrauten blauen Decke, angelehnt an die Wand der Terrasse. Ich fragte mich, ob ich vor Jahren schon einmal auf dieser Decke gesessen hatte, und bemerkte währenddessen, dass mein Großvater mich von der Seite nachdenklich betrachtete:
„Wann kommst du endlich zurück?“, fragte er.
Ich antwortete irritiert: „Was meinst du damit, dede? Ich bin doch hier. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat …“
Er unterbrach mich: „Wann kommst du endlich zurück?“
„Dede, ich weiß nicht, was du meinst“, sagte ich ratlos und bemerkte dabei, dass er durch mich hindurchschaute:
„Wann kommst du endlich zurück in dein Dorf? Es ist nicht gut, in der Stadt zu leben, es ist unnatürlich, sein Haus auf das Haus eines anderen zu bauen und seine Notdurft jeden Morgen auf dem Kopf seines Nachbarn zu verrichten. Kein Mensch kann in der Stadt glücklich werden!“
Sein Blick wurde klarer, und er begann, in einem anderen, gutmütigeren, erschöpfteren Ton zu mir zu sprechen:
„Das habe ich deinem Vater schon vor dreißig Jahren gesagt. Er ist einfach, ohne mich zu fragen, nach Italien gegangen, einfach so. Und was ist aus ihm geworden? Ein Vater, der seinen Sohn jahrelang nicht zu seinem dede schickt. Das ist aus ihm geworden. Ist das Respekt und Achtung vor dem eigenen Vater? Keinen Respekt hat er auch vor Allah. Möge Allah ihm verzeihen!“
Ich wollte meinen Vater irgendwie verteidigen, aber mir fehlte der Mut und noch viel mehr fehlten mir die Argumente. Mein Großvater schien wirklich sehr aufgebracht. Es war nichts Aufgesetztes oder Gespieltes in dieser Wut, die aus einer Ohnmacht heraus entstanden war – im Gegensatz zu meinem Vater, der auf Knopfdruck schreien oder weinen konnte oder beides gleichzeitig.
„Mein Sohn, kannst du beten?“, fragte Großvater mich, und mir stockte der Atem, denn mein Vater hatte es mich nie gelehrt.
„Mein Sohn, kannst du beten? Oder hast du es schon längst verlernt? Betest du zu Allah? … Das habe ich deinen Vater gefragt, und dein Vater hat gelacht! Er lachte! … Lachst du über mich oder über Allah?, drohte ich ihm, und er lachte lauter. Da wusste ich, dass er sich an die Stadt verkauft hatte, er war keiner mehr aus unserem Dorf.“
Großvater rang nach Atem und machte eigenartige, rollende Bewegungen mit seinen Augen. Ein leerer, etwas irrer Blick eines gebrochenen Mannes, der Blick eines Mannes, dem ich dreißig Jahre später erneut begegnen sollte: Mein Großvater war längst tot – mein Gegenüber war jetzt mein eigener, gealterter Vater.
* * *