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HELMUT SCHMIDT

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Meine Mutter sagte immer, dass ich alles im Leben erreichen könne, wenn ich es nur aus tiefstem Herzen wolle und fest an mich glaube. Viel später erst, am dritten Geburtstag meiner eigenen kleinen Tochter, wurde mir klar, dass sie mit mir stets wie mit einem Erwachsenen gesprochen hatte.

Ich hörte meine Mutter in der Küche, wie sie sich mit jemandem unterhielt, und lauschte vorsichtig an der Tür. Sie sprach über das Leben, über das Schöne und das weniger Schöne daran; über all das, was man in seinem Leben erreichen könne, wenn man es nur wirklich aus tiefstem Herzen wolle.

Ich fragte mich, mit wem sie da wohl redete, und öffnete langsam die Tür. Ihr gegenüber saß meine kleine Tochter, die ihren Ausführungen mit großen, aufmerksamen Kinderaugen folgte.

Als kleines Kind durfte ich mit meiner Mutter bis spät in die Nacht fernsehen. Und zwar alles. Von Nachrichten bis Bonanza, von Raumschiff Enterprise bis Aktenzeichen XY … ungelöst. Aktenzeichen XY … ungelöst verpassten wir nie, da meine Mutter mir mit dieser Sendung beweisen konnte, was Menschen anderen Menschen anzutun imstande waren. Wir verpassten auch keine der zahlreichen amerikanischen Filme, besonders mit „Girri-Girripek“, „Jämmes Stäwwart“ und „Jonn Weiner“ – es waren Gregory Peck, James Stewart und John Wayne. Über Frauen sprach meine Mutter kaum, mit einer Ausnahme: Sophia Loren. Ob es Zufall ist, dass meine Tochter Sophia heißt? Zwar schlug meine Frau diesen Namen vor, aber warum gefiel er mir sofort?

Der Fernseher bildete neben meinem Hund Ben den Mittelpunkt meiner Kindheit. Ich lebte ganz in meiner eigenen Gedankenwelt, in sehr lebendigen Träumen, die sich meist aus den Nachrichten, Filmen und Geschichten speisten, die der Fernseher mir allabendlich erzählte.

Kurz vor meinem fünften Geburtstag passierte etwas Sonderbares: In den Nachrichten war ständig von Willy Brandt, dem deutschen Bundeskanzler, die Rede. Man sprach von Spionen, von der DDR, von den USA und von der Sowjetunion, der UdSSR. Wochenlang nur dieses eine Thema.

Bald träumte ich von dem Nachrichtensprecher, dann von Willy Brandt, der mir geheimnisvoll zuraunte, wie er Bundeskanzler geworden war, und dann erschien mir im selben Traum meine Mutter, die mir sagte, dass ich alles im Leben erreichen kann, wenn ich es denn nur wirklich wollte. Am nächsten Morgen erinnerte ich mich an jedes Wort von Willy Brandt, aber auch an die Worte des Nachrichtensprechers, der wieder und wieder von Willy Brandts Nachfolger sprach:

„Helmut Schmidt ist mit 267 Stimmen zum Bundeskanzler gewählt worden. Mit 267 Stimmen!“

An diesem Tag beschloss ich, Bundeskanzler von Deutschland zu werden. Meiner Mutter sagte ich nichts davon, denn ich wollte sie damit überraschen. Doch bereits nach wenigen Tagen stellte sie eine eigenartige Verhaltensauffälligkeit an mir fest, die ihr gar nicht gefallen wollte. Ihr Sohn saß seinem Hund Ben gegenüber und redete mit nie zuvor gehörten Stimmen auf ihn ein; mal mit einer tiefen, mal mit einer hohen Stimme; mal versuchte er, wie ein Roboter zu sprechen, ein anderes Mal sang er mit einer fürchterlich dumpfen Stimme lange monotone Melodiebögen.

Zu meiner eigenen Überraschung konnte ich bald die höchsten und tiefsten Töne halten, um dann sofort wieder mit einer Roboterstimme ganz kurze, abgehackte Geräusche zu erzeugen.

Meine Mutter gewöhnte sich irgendwann an meine neue Passion. Zwar spürte ich ihren verwirrten Blick auf mir ruhen, wenn ich wieder eine neue Stimme für mich entdeckte, doch sie stellte keine Fragen.

Vormittags und nachmittags arbeitete sie in unterschiedlichen Grundschulen, während ich, so oft es ging, mit Ben unterwegs war. Am Abend kochte sie für uns und wir genossen, Mutter und Sohn, vor dem Fernseher die wenigen gemeinsamen Stunden, die uns ihr nicht besonders kinderfreundlicher Arbeitsrhythmus erlaubte.

Die Nachbarschaft hatte sich an mein auffälliges Verhalten ebenfalls längst gewöhnt. Noch immer hatte ich niemandem gesagt, warum ich Tag für Tag mit den skurrilsten Stimmen zu mir oder meinem Hund sprach. Eines Tages wollte ich meine Mutter überraschen, sie sollte stolz auf ihren Sohn sein, auf den ersten türkischen Bundeskanzler.

Der Nachrichtensprecher hatte gesagt, dass Helmut Schmidt mit 267 Stimmen Bundeskanzler von Deutschland geworden war und ich fragte mich, wann Helmut Schmidt diese Stimmen endlich darbieten würde. Ich wartete geduldig, wurde aber leider von ihm enttäuscht. Niemals bekam ich eine Kostprobe seiner vielen Stimmen zu hören. Da schwor ich mir, dass, wenn ich jemals Bundeskanzler werden sollte, ich jedermann meine Stimmen vormachen würde; ganz gleich, ob Kind oder Erwachsener.

Bundeskanzler von Deutschland wurde ich nicht, doch das jahrelange Training und Bemühen um Aneignung verschiedenster Stimmen sollte mich auf einen anderen, auf einen künstlerischen Weg führen.

Türke - Aber trotzdem intelligent

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