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DEDE HEISST GROSSVATER

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Ich war eingeschlafen, als der Bus zum Stehen kam. Der Busfahrer rüttelte mich wach. Draußen war alles weiß. „Wir sind da“, sagte er. Ich starrte wie benommen auf seine gelb-braunen Zähne. „Das ist das Haus deines Großvaters“, fügte er hinzu, während der Motor selbstständig aufheulte. Der Motor hatte es satt, in der Hitze, in dieser staubigen, trockenen Luft über die unzähligen Schlaglöcher getrieben zu werden.

Ich schaute wieder aus dem Fenster, gegen das mein Kopf im Rhythmus der Straße gehämmert war. Am unteren Rand der weißen Fläche liefen einige Hühner entlang. Jetzt erkannte ich, dass wir vor einer weißen Mauer standen. Mein Blick wanderte nach oben, wo ich die Holzbalken am Rand einer breiten Terrasse sah.

Ich kannte diese Mauer, die sich übergangslos in das Haus einfügte. Ja, wir waren angekommen im Dorf meiner Ahnen, angekommen bei meinem Großvater – meinem dede.

Das Haus war aus Lehm gebaut; von der Wand bis zur Treppe, von der Terrasse bis hin zu den Zimmern, den Schränken, die nichts anderes waren als zurechtgeknetete Innenwände. Es schien unter einer weißen Haut zu leben, zu atmen, sich seinen Bewohnern anzupassen, über Jahre und Jahrzehnte hinweg sich um ihre Bedürfnisse herum geformt zu haben.

Mein Vater, Bert-Alis Sohn, würde sich einmal ein Haus aus Marmor bauen, direkt am Meer – starr, eiskalt und tot.

Schlaftrunken spürte ich die schwere Hand des Busfahrers auf meiner Schulter. Er führte mich wie eine Trophäe aus dem Bus. Ich warf einen letzten, flüchtigen Blick auf seine erstaunlichen Zähne. Kaum aus dem Bus ausgestiegen, brüllte er:

„Allliiiii, Allliii, Bert-Allliiiiiiiiiii!!!

Allliiii, Allliiii, Bert-Allliiiiiiiiiii!!!

Schau her, wen ich dir mitgebracht habe!!!

Allliii, Allliiii, Bert-Allliiiiiiiiiiii!!!

Schau heeeeeeeer!!!!“

Doch niemand antwortete. Keine Reaktion, kein Empfangskomitee, gar nichts.

Dann bewegte sich etwas hinter dem hölzernen Tor am Ende der weißen Mauer. Das Tor öffnete sich und ein kleines Mädchen kam heraus. Sie hatte volles, schwarzes Haar, das unkämmbar zu sein schien, und trug eine viel zu große Hose, darüber ein dunkelgrünes Kleid.

Als wir auf sie zugingen, fiel mir eine Besonderheit in ihrem Gesicht auf. Aus dem dunkelbraunen, ungewaschenen Gesichtchen schaute mir links ein hellblaues und rechts ein honigbraunes Auge entgegen. Das Mädchen fühlte sich wohl ertappt und rannte kichernd ins Haus. Es trug an den Füßen dunkelgrüne Gummischläppchen, die jeden ihrer flinken Schritte mit einem hellen Knall an die Ferse kommentierten.

Der Busfahrer verabschiedete sich von mir mit einem letzten, kräftigen Druck auf meine Schulter, so als ob er mir sagten wollte, dass all dies kein Traum war, dass ich nun meinen Mann zu stehen hatte. Dann verließ der Bus das Dorf. Eine Weile war der vertraute Klang des Motors und der gequälten Reifen noch zu hören, bis er übergangslos verstummte. Nichts regte sich mehr. Ich stand wie angewurzelt vor diesem Torbogen und fragte mich, warum ich hier sein musste.

Meine Situation erinnerte mich an einen Western, den ich vor einigen Jahren im Kino gesehen hatte. Ein Junge trug seinen Vater zwischen einem Torbogen auf den Schultern; der Vater hing am Galgen, unter einer Glocke. Ein schwarzgekleideter Mann drückte dem Jungen eine Mundharmonika in den Mund. Die Beine des Jungen wurden immer schwächer, er wankte, stürzte, sein Vater starb.

„Selcuk.“ Eine müde, gebrechliche Stimme holte mich aus meiner Erinnerung; eine Stimme, die trotz oder gerade wegen ihrer Gebrechlichkeit eine ungeheure Anziehungskraft auf mich ausübte.

Ich ging durch den Torbogen in den Innenhof und sah oben auf der Terrasse einen sehr alten Mann stehen; groß, schlank und, obwohl am Stock gehend, stolz und aufrecht. Er hatte einen weißen Vollbart, trug eine lustige, weite, grau-schwarze Hose, die ihm im Schritt fast bis zu den Kniekehlen reichte, darüber eine graue Weste und ein blaues Sakko und auf dem Kopf eine flache, grau-weiße Mütze.

War das der Held, der Bären und Wölfe vertreiben konnte? War das mein Großvater, mein dede?

Als er die Treppen zu mir hinuntergestiegen kam, fragte ich mich, wie es sein konnte, dass mein Vater mindestens eineinhalb Köpfe kleiner war als dieser alte, geschrumpfte Mann. Er griff nach meinen Händen und drückte mit einer für einen fast Neunzigjährigen ungewöhnlichen Kraft zu. Niemand wusste genau, wie alt mein dede war, aber man leitete es von den Dingen ab, die er in seiner Kindheit und Jugend erlebt hatte.

Damals ließ man sein Kind nicht sofort nach der Geburt in der Stadt registrieren; man wartete, bis sich die Schule oder das Militär meldete. So konnte es leicht geschehen, dass der älteste Sohn der Familie plötzlich zehn Jahre jünger war als der Jüngste; dieser wiederum konnte einige Jahre älter sein als seine eigene Mutter. Gern gab man den Kindern auch denselben Namen, denn so war es möglich zu behaupten, dass der Sohn Mehmet schon längst seinen Wehrdienst geleistet hatte und man nicht verstehen konnte, warum Mehmet, eigentlich Mehmet-Ali, wieder vom Militär angeschrieben wurde. Dadurch gelang es den Familien mitunter, nur einen Sohn zum Wehrdienst zu schicken; die Familien brauchten ihre Söhne auf ihrem lebendigen Acker und nicht weit weg auf dem toten Boden eines Exerzierplatzes der türkischen Armee.

Mein dede beugte sich zu mir, als ob er mir ein Geheimnis ins Ohr flüstern wollte. Doch anstatt sich einem meiner Ohren zu nähern, küsste er mir unvermittelt die Stirn, während sein Bart mich an der Nase kitzelte. Die Farbe seiner Augen ließ sich einfach nicht bestimmen, sie schwankte zwischen dunkelbraun und graugrün; erst später erfuhr ich, dass er fast blind war. Trotzdem bewegte er sich so geschickt wie ein junger Mann.

Wir setzten uns im Schneidersitz auf eine alte, blaue Decke, die auf dem Lehmboden ausgebreitet war. Aus allen Winkeln beobachteten uns die Kinder des Dorfes. Alle Mädchen hatten diese unkämmbaren, verfilzten Haare; die Jungen hatten gar keine Haare auf dem Kopf und sahen aus wie die jungen Shaolin-Mönche aus meinen geliebten Jackie-Chan-Filmen.

Kaum lehnte sich mein Großvater mit dem Rücken an die Wand, da erschien eine Frau und brachte uns auf einem großen Tablett hauchdünne Brote, die in mehreren Lagen übereinandergestapelt waren. Dann rief sie nach dem kleinen Mädchen, das bei meiner Ankunft plötzlich hinter dem Tor verschwunden war. Das Mädchen kam mit einen Teller Joghurt und einer Schale Wasser auf die Terrasse und stellte beides vor uns ab. Als ich nach der Wasserschale griff, um aus ihr zu trinken, lachte es auf, wurde aber sogleich von der Frau zischend zurechtgewiesen. Es rannte ins Haus zurück.

Die Frau nahm eine Lage Brot vorsichtig in die eine Hand, griff mit der anderen in die Wasserschale und ließ das Wasser durch ihre gespreizten Finger auf das Brot rinnen, das sich bald weich um ihre Hand legte. Das kleine Mädchen kam erneut auf die Terrasse, jetzt mit einem Schälchen schwarzer Oliven und einem Teller mit gewürfelten, blutroten Melonenstücken. Sie stellte beides vor meinem Großvater ab, um kichernd wieder im Haus zu verschwinden. Die Frau lachte für sich und schüttelte nachsichtig den Kopf.

Mein Großvater, der währenddessen das weiche Brot zusammengefaltet in die Schale mit Joghurt tunkte, gab einen einzigen, gehusteten Laut von sich: „Ha!“

Die Frau streichelte ihm über den Kopf und sprach zu mir in einem mir unbekannten osttürkischen Dialekt:

„Er hat lange auf dich gewartet, mein Sohn, sehr lange. Er ist glücklich, sehr glücklich!“

Mir fiel es nach wie vor nicht leicht, das zu glauben, aber ich begann ernsthaft darüber nachzudenken; schließlich behaupteten fremde Menschen, die hundert Kilometer entfernt von hier aus dem Bus gestiegen waren, dasselbe.

Die Frau ging in das Haus zurück, und ich sah sie für diesen Tag nicht wieder.

Ich nahm das weiche Brot in die Hand und begann, da ich nichts damit anzufangen wusste, es zu zerpflücken. Mein Großvater nuschelte:

„Iss Joghurt, iss Joghurt, dann wirst du alt!“

Ich lächelte verschmitzt zu ihm herüber. Jetzt schauten wir uns wirklich in die Augen – ohne Schielen, ohne Kitzeln. Keiner sagte etwas, er lächelte mich an, und plötzlich war ich mir sicher, dass er tatsächlich die vielen Jahre auf mich gewartet hatte.

* * *

Türke - Aber trotzdem intelligent

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