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INDIANER IM TÜRKISCHEN BUS
ОглавлениеMeine Eltern und ein Onkel mütterlicherseits führten mich an einem unerträglich heißen Wochenende durch ein Labyrinth von Farben und Gerüchen – wir waren mitten im arabischen Markt von Gaziantep. Ältere Männer mit dunkelbrauner Lederhaut saßen mit den Knien an der Brust auf viel zu kleinen Holzstühlen, doch schienen sie stolz auf ihre liebevoll eingerichteten Läden zu sein.
Der Mensch, der Stuhl und der Laden bildeten eine Einheit, so als ob es diese schon seit Anbeginn der Zeiten gegeben hätte. Viel später erst erfuhr ich, dass die Ladenbesitzer nur zu ihrem Vergnügen hier saßen und unermesslich reich waren. Sie lebten nicht von den wenigen Touristen, die grammweise Getreide, Tee und Kräuter kauften, sondern von Bestellungen, die nach Tonnen und Lkw-Ladungen verrechnet wurden. Die Kontakte zu Touristen und türkischen Hausfrauen waren nur eine willkommene Abwechslung, die kleinen, hölzernen Stühle ein Zeichen der Bescheidenheit, der Demut; keiner von ihnen wollte den „bösen Blick“ des Nachbarn auf sich ziehen, doch hingen trotz alledem vorsorglich an jedem dieser Läden zusätzlich mindestens drei faustgroße „Blaue Augen“, die einen zu Unrecht mit Fluch belegten Blick abhalten sollten.
Wir hasteten weiter durch diese unerträgliche Hitze, die qualvolle Enge, die hartnäckigen Gerüche, die übersatten Farben. Ich heftete den Blick auf den Rücken meines Vaters und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Die Welt um mich wurde zu einem verschwommenen Farbenmeer – nur noch ich und der Rücken meines Vaters. Als meine Beine langsam schwächer wurden, hörte ich die Stimme meiner Mutter:
„Mein kleiner Selcuk, wir sind da!“
Mein Vater drehte sich zu mir um und erlöste mich von dem Anblick seines Rückens. Ich bemerkte, dass wir den arabischen Markt verlassen hatten.
„Wir sind da“, wiederholte diesmal mein Vater und hielt seine Hand schützend über meine Augen, als ich zu ihm hoch in die Sonne blinzelte. Er zeigte mit einem mir bis dahin unbekannten Gesichtsausdruck auf einen Bus und begann zu lachen:
„Das ist dein Bus, der wird dich zu deinem Großvater, deinem dede bringen.“
Lachte er über mich? Konnte er von meinen Augen ablesen, was ich über diesen uralten, verrosteten Bus dachte? Ein Bus, der keiner war, an dem ein Seitenspiegel provisorisch angeklebt war, dem Fenster fehlten, der mit Tüten, Säcken und Käfigen überbeladen war. Es fehlte nicht viel, und sein Heck hätte die Straße berührt; aus seinem Motor tropfte eine grün schimmernde Flüssigkeit auf die Straße, die als Rinnsal einige Meter hinter der fehlenden Stoßstange im Nichts verdunstete. Wie konnte meine Mutter es erlauben, mich mit so einem Bus Hunderte von Kilometer durch die Wildnis fahren zu lassen? Wie konnte sie das ihrem einzigen Kind antun, wenn sie es doch liebte?
Während ich mir diese Fragen stellte, startete der Busfahrer den Motor und ich wurde eilig verabschiedet. Ein Kuss auf die eine Wange, ein Kuss auf die andere; von meiner Mutter ein zusätzlicher auf die Stirn. Sie begleitete mich, warum auch immer, nicht bis zum Bus. Ich überquerte die Straße und stieg, verwundert über ihr seltsames Verhalten, ein. Sie lächelte und nickte über die Straße, winkte aber nicht. Der Bus verließ Gaziantep, und mich verließ endgültig die letzte Hoffnung. Meine Mutter war eine Enttäuschung. Sie, die mich sonst immer vor den fixen Ideen meines Vaters geschützt hatte, die mir sonst immer beistand, sie hatte diesmal geschwiegen.
Der Bus roch nach Tier, nach Öl, nach Mensch. Alle schwitzten, aber im Gegensatz zu mir ertrugen es alle mit unglaublicher stoischer Gelassenheit. Selbst ihre Babys und Kleinkinder schienen mehr ertragen zu können als ich. Sie lagen da, fest eingewickelt wie Mumien, und betrachteten mich hartnäckig aus großen Augen. Da ihnen die Arme und Beine fehlten, schienen mir diese Augen wie Gliedmaßen, die nach mir griffen. Ich fühlte mich verloren und allein und spürte voller Pein, dass ich nicht mehr weit davon entfernt war, mich vor diesen seltsamen Menschen mit meinen unaufhaltsam in die Augen steigenden Tränen zu blamieren.
Unvermittelt wurde ich von einer alten Frau mit zerlumpten, abgenutzten Kleidern angesprochen. Ihre gegerbte, tief zerfurchte trockene Haut hatte etwas Schildkrötenhaftes. Ihre kleinen, schiefen Augen waren starr auf mich gerichtet, doch schienen sie durch mich hindurchzuschauen. Eine Schildkröte mit kleinen, stechenden Augen, mit weißen Barthaaren an Oberlippe und Kinn, die mit greller Stimme in grobem Türkisch auf mich einredete. Sie fragte mich aber nicht, wie ich hieß, noch wohin ich wollte, sondern immer nur:
„Wessen Sohn bist du? Wessen Sohn bist du?“
Die Unterhaltungen im Bus verstummten nach und nach; nur die Hühner beklagten sich unverwandt lautstark über ihre festgeschnürten Flügel und ein Ziegenbock schabte sich gänzlich unbeeindruckt an einem zerfledderten Korb, der von einem mannshohen, leeren Kanister herunterhing.
Die Alte kam immer näher auf mich zu, bis sie direkt vor mir stand. Ich spürte die neugierigen Blicke der anderen Insassen auf mir lasten. Plötzlich ergriff sie meine Hand:
„Wessen Sohn bist du?“
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, ich geriet in Panik und antwortete fast schreiend:
„Ich bin der Sohn Süleymans!“
„Welchen Süleymans?“
„Süleyman, der Sohn des Bert-Ali!“
Irgendwie fühlte ich mich wie ein Indianer: „Ich brauner Bär, Sohn des schwarzen Adlers.“
Alle im Bus schauten mich an, wirklich alle, als die Alte daraufhin ihrerseits ungehemmt zu schreien begann:
„Selcuk, Seeeeeelcuuuk, bist du endlich wieder da? – Selcuk, Seeeeeeeelcuk! – Wie bist du groß geworden! – Was für ein schöner, prächtiger Junge bist du! – Was macht dein Vater, wie geht es ihm? Was macht unser Sülo? – Wie geht es deiner Mutter? Was macht deine schöne, gebildete Mutter? – Was für ein schöner, prächtiger Junge! – Seht her! Seht her! Der Enkel von Bert Ali!“
Und dann fingen auch alle anderen an, auf mich einzuschreien und gerieten dabei in eine Art Ekstase. Es kam mir vor wie eine Zeremonie, ein Ritual, vor dem es kein Entkommen gab – ich musste es über mich ergehen lassen:
„Diese Augen, diese Nase, die Augenbrauen, die typischen Bert-Ali Augenbrauen der Familie! – Seht her! Seht her! – Selcuk, Seeeeeelcuuuk, bist du endlich wieder da? Selcuk, Seeeeeeeelcuk! – Ja, die Augenbrauen! – Ist das der Sohn von Sülo? – Ja, der Enkel von Bert-Ali! – Sein Enkel? – Ja, ja er ist es!“
Und die Alte schrie:
„Dein Großvater wartet schon seit Jahren auf dich!“
Alle schienen mich zu kennen, nur ich kannte niemanden. Sie alle schienen selig, mich zu sehen, sich aus tiefstem Herzen über meine Ankunft zu freuen. Doch was meinte die Alte mit „Dein Großvater wartet schon seit Jahren auf dich“? Niemand wartete Jahre auf den Besuch eines anderen Menschen. Doch wenn mir schon wildfremde Menschen so überschwänglich begegneten, wie würde es erst mit meinem Großvater sein? Was wäre, wenn er tatsächlich seit Jahren auf mich wartete?
Alle zwanzig bis dreißig Kilometer hielt der Bus und jemand stieg aus. Der Busfahrer kletterte mal von vorn, mal von der Seite aufs Dach, reichte einen Sack oder einen Schlauch herunter. Manchmal waren auch lebendige Tiere dabei, die stundenlang der Sonne, dem Wind und dem feinen Staub ausgesetzt waren. Aber schließlich waren wir hier ja auch in der Wildnis, oder, wie viel später einmal ein US-Präsident sagen sollte: Fern der „zivilisierten Welt“.
Und plötzlich war ich allein im Bus.
Ein Vater mit seinen vier Söhnen, die jeder ein schwarzes Zicklein auf den Schultern trugen, waren als Letzte ausgestiegen. Ich wandte mich in alle Richtungen und staunte, weil weder ein Haus, geschweige denn ein Abholkomitee zu sehen war. Die fünf liefen aber ohne zu zögern querfeldein auf einen Berg in der Ferne zu, den ich zuvor gar nicht wahrgenommen hatte.
Der Busfahrer nickte mir zu, während wir nun die Straße verließen und im Schritttempo über eine Piste aus Schlaglöchern und Steinen fuhren, die am Unterboden des Busses schleiften und den Reifen besorgniserregende Geräusche entlockten. Vor uns entdecke ich die Silhouette eines Dorfes und fragte den Busfahrer, ob es das Dorf meines Großvaters sei.
„Nein, das ist außerdem kein Dorf, das ist eine Stadt. Es gibt einen Arzt, eine Poststelle, einen Friseur. Das Dorf deines Großvaters liegt weit hinter der Stadt.“
Wir fuhren durch die Stadt hindurch, über die einzige, notdürftig asphaltierte Straße, die die Stadt zur Stadt machte. Hinter ihr wurde sie wieder zur holprigen Schotterpiste, die sich bis zum Horizont erstreckte. Aber etwas hatte sich grundlegend geändert: die Landschaft. Vorher war sie grau-braun, jetzt rot. Wir fuhren durch eine ganz und gar rote Wüste mit roten Felsen und Bergen, auf denen ab und zu Schafe oder eine Ziege weideten.
Der Busfahrer wühlte eine Kassette unter seinem Sitz hervor und bald darauf drangen wehmütige Laute durch den Bus. Ein Sänger klagte die Welt an. Diese Musik, die ich sonst in Deutschland nicht ertragen konnte – hier ergab sie einen Sinn. Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück und schaute aus dem Fenster, sah die Landschaft, spürte die trockene Hitze, in mir wurde es still. Plötzlich konnte ich mir vorstellen, hierherzugehören. Ja, jetzt verstand ich diese Musik. Der Sänger klagte gar nicht die Welt an, sondern er war eins mit seiner Welt!
Heimat, nimm mich auf,
ich gehöre mit Leib und Seele nur dir.
Zerbrochen bin ich an der Leere der Armut,
zerbrochen an der Einsamkeit
ohne die Liebe einer treuen Frau.
Eine Frau und ein Kind
sind mir von Allah nicht bestimmt.
Ich würde dieses Lied auch einmal singen; viel später in einer Oper. Ich würde dieses Lied, diese Arie, nicht auf dem Boden dieser roten, trockenen, sonnenversengten Wüste, der Heimat meines Vaters, singen, sondern auf einer Bühne, im grellen Rampenlicht:
Dich frage ich, gepries’ner Engel Gottes,
der meines Heils Bedingung mir gewann;
war ich Unsel’ger Spielwerk deines Spottes,
als die Erlösung du mir zeigtest an?
Vergeb’ne Hoffnung! Furchtbar eitler Wahn!
Um ew’ge Treu’ auf Erden – ist’s getan!
(Richard Wagner: Arie des fliegenden Holländers)
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