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DAS MORGENGEBET

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Mir waren im Schneidersitz die Beine eingeschlafen, aber ich versuchte, es meinem Großvater nicht zu zeigen.

„Ha! … du bist wie dein Vater!“, hustete er wieder auf, während er weiter entspannt im Schneidersitz saß.

„Als dein Vater aus Italien zurückkam, konnte er auch nicht mehr auf dem Boden sitzen; als er aus Frankreich zurückkam, brauchte er schon ein Kissen; als er dann endlich nach Jahren aus Deutschland wiederkam, brachte er gleich einige Stühle mit. Ha! Du bist der Sohn Süleymans!“

Er lachte, und ich lachte mit ihm, doch war ich mir nicht sicher: Machte er sich über mich lustig? War ich für ihn ein Weichei, ein verweichlichter „Städter“ – ein verweichlichter, deutscher Städter? Ich würde in den nächsten Wochen erfahren, dass er nichts Schlechtes über Deutschland dachte, sondern über Städte an sich, dass Deutschland für ihn kein Land, sondern eine einzige, riesengroße Stadt war.

Trotzdem schien er meinen Ärger zu genießen. Irgendwoher musste mein Vater es haben; von seiner tiefgläubigen, stillen Mutter, meiner Großmutter, sicher nicht: Nie habe ich sie sitzend gesehen. Sie fastete bereits Wochen vor dem Fastenmonat, obwohl sie eine sehr kleine, besonders zierliche Frau war; ihr Körper konnte diese Aufopferung über die Jahre hinweg nicht tragen, sie wog am Ende fast nichts mehr und starb, trotzdem für alle unerwartet, kurz nach dem Fastenmonat, wenige Tage nach dem heiligen Fest.

Mein Großvater blickte in die untergehende Sonne, stand auf und ging, ohne etwas zu sagen, ins Haus. Ich blieb zurück, bis die Sonne endgültig untergegangen war. Niemand kümmerte sich um mich. Ich warf einen Blick über die weiße Mauer; nichts regte sich, kein Mensch, kein Tier – Totenstille.

Müde war ich geworden, sehr müde.

Ich ging ins Haus und sah meinen Großvater auf einer matratzenartigen Unterlage liegen, neben sich eine Kerze. Es gab keinen einzigen Schrank in diesem Zimmer, nur fenstergroße Vertiefungen in den Wänden, die als Ablage dienten. Neben meinem Großvater lagen zwei übereinandergelegte dicke Decken, die das Bett und das Kopfkissen ersetzten, ein Laken ersetzte die Bettdecke. Das war mein Bett?

Ich lag auf dem Rücken und konnte nicht schlafen. Es war zu still – kein Laut, an dem man sich festhalten konnte. Kaum hatte ich das steinharte Kopfkissen beiseitegeschoben, wurde mir im Liegen schwindelig; mein Kopf fiel mir in den Nacken, die Brust wölbte sich nach oben, die Hände drehten sich nach außen, meine Zehen wurden eiskalt.

Ich war eingeschlafen, träumte von Deutschland, von meiner Schule, spielte mit meinen Klassenkameraden auf dem Schulhof, als mir jemand etwas zuflüsterte. Eine immer heller werdende Wand riss mich aus dem Schlaf. Ich richtete mich benommen auf und sah meinen Großvater beten.

Eine unglaubliche Ruhe ging von ihm aus, man ahnte die aufgehende Sonne in seinem Gesicht, während er den Kopf wieder und wieder zur Seite neigte und mit halb geschlossenen Augenlidern vor sich hin flüsterte. Wenn man ihn so sah, immer wieder in die Knie gehend, sich bis zum Boden neigend, diesen mit der Stirn berührend, da konnte man kaum glauben, dass es sich hier um einen Neunzigjährigen handelte. Die Kraft, die er anbetete, gab ihm zugleich die Kraft für diese körperliche Anstrengung, die Kraft zum täglichen Gebet. So friedlich und im Einklang mit sich selbst hatte ich einen Menschen noch nie gesehen.

Wenn ich ansonsten an den Islam dachte, dachte ich zwangsläufig an meine Lämmer, die bei dem Opferfest geschlachtet worden waren; wenn ich an den Islam dachte, dachte ich an türkische Kinofilme, in denen Muslime mit dem Schwert ihren Glauben gegen die Christen verteidigen mussten.

Als ich noch klein war, bei einem meiner ersten Besuche in der Türkei, sah ich einen Kinofilm, in dem ein griechisch-orthodoxer Priester einem Muslim bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust riss, weil der Muslim nicht bereit war, das Kreuz zu küssen. Die Eltern dachten sich nichts dabei, ihre Kinder so etwas Brutales sehen zu lassen, keiner dachte an die Kinderseelen. Genauso wie die christlichen Eltern sich nichts dabei denken, wenn ein Mann, fast nackt, blutüberströmt, mit einem Schnitt unterhalb der Brust, am Kopf von Dornen zerstochen, durchbohrt von Nägeln an Händen und Füssen, aus schmerzerfüllten Augen als ein einziger großer Vorwurf auf diese Kinderseelen hinabblickt.

„Jesus ist für uns gestorben. Er ist für unsere Sünden und unsere Schuld gestorben; Kind, er ist für dich und deine Sünden gestorben!“

Ich beobachtete lange meinen Großvater und wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als mit ihm zusammen zu beten – das erste Mal in meinem Leben wie ein Muslim zu beten. Ein nie gekanntes, übermächtiges Gefühl erfasste mich. Hatte ich all dies vielleicht schon einmal erlebt? Alles erschien mir vertraut, so, als ob ich mein ganzes Leben hier verbracht hätte – so, als ob ich wirklich hierhergehörte.

Als wir am Morgen gemeinsam auf dem Lehmboden sitzend frühstückten, lächelten wir beide unentwegt vor uns hin.

„Wann gehen wir zu unserem Bach?“, fragte ich ihn.

Meine Frage schien ihn nicht zu überraschen, und er antwortete so, als ob wir tagtäglich darüber gesprochen hätten:

„Morgen, wenn der Esel zurück ist.“

Der Esel? Hatte er nicht ein wunderschönes, weißes Pferd mit grauschwarzen Flecken?

„Wo ist dein Pferd?“, fragte ich, und er antwortete mit leiser Stimme:

„Mein stolzes Pferd ist schon den unausweichlichen, von Allah vorbestimmten Weg gegangen.“

„Mit wem?“, fragte ich neugierig.

Er schaute mich still und verklärt an, zögerte einen Augenblick und lachte übermütig wie ein junger Mann.

„Mit wem denn nun?“, fragte ich eindringlicher und lachte ebenfalls.

Er schrie nun lauthals vor Lachen.

„Dede, hör doch endlich auf zu lachen! Wo ist denn nun dein Pferd wirklich?“, wiederholte ich, mich seiner Lautstärke anpassend.

Als zu seinem Lachen noch ein donnernder Husten dazukam, rief jemand über die Mauer hinweg:

„Bert-Allliiiiiii! Bert-Alllliiii? Ist mit dir alles in Ordnung?“

Mein Großvater beruhigte sich allmählich, indem er nach meinem Arm griff und voller Lebensfreude fest zudrückte, sodass mir die Tränen in die Augen stiegen:

„Der Sohn meines Sohnes fragt, mit wem mein Pferd den unausweichlichen, von Allah vorbestimmten Weg gegangen ist! Selcuk fragt, mit wem mein Pferd vorausgegangen ist!“

Jetzt lachten beide um die Wette.

Es eilten immer mehr Männer herbei, und meine Frage wurde mit großer Theatralik wieder und wieder durch das Dorf gerufen und mit einfallsreichen Gesten zum Besten geben. Alle lachten, und ich war zufrieden, meinen Beitrag dazu geleistet zu haben; ich lachte mit ihnen, doch wusste ich nicht, worüber.

* * *

Türke - Aber trotzdem intelligent

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