Читать книгу Der erobernde Islam - Shafique Keshavjee - Страница 14

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1. Teil

Die Vielfalt der heutigen Muslime

Orientierungsrahmen

„Einspruch!“, werden hier viele Personen sagen: „Der Islam ist nicht zuallererst ein ‚System‘ und noch weniger ein ‚System, das die Welt erobern möchte‘! Der Islam ist vor allem eine Gruppe von vielen Muslimen unterschiedlichster Prägung, die größtenteils friedlich sind und nichts mit den Taliban oder dem islamischen Staat zu tun haben! Alle Muslime unter einem ‚erobernden System‘ zusammenzufassen ist eine unzulässige Verallgemeinerung, ein diskriminierender Angriff. Und dieser Angriff auf die Gläubigen einer Religion müsste eigentlich juristisch verfolgt werden!“

Dem Einspruch wird … teilweise stattgegeben! Der Islam ist zunächst eine Gruppe von Personen und Gemeinschaften, die ihre Grundtexte und Traditionen selektiv auslegen und umsetzen. Aber der Islam ist nicht nur das.

Jede Religion, jede Weltanschauung oder jedes „System“ hat drei Dimensionen: die normative, die effektive und die interpretative. Das gilt für den Islam, den Westen oder das Christentum. Und das gilt auch für den Buddhismus, den Kommunismus, den Kapitalismus und jedes andere „System“.


a. Die normative Dimension

Unter der normativen Dimension verstehen wir die konstitutiven Grundlagen: die heiligen Texte, die Rechtsdokumente (Normenlehre), die Grundwerte … Die normative Dimension ist das Fundament, das stets neu interpretiert und aktualisiert wird.

Die normativen Texte des Islam bestehen in erster Linie aus dem Koran* sowie den als authentisch und normativ angesehenen Sammlungen von Berichten über die Aussagen und Handlungen des Propheten Mohammed (Hadithe*) und den offiziellen Mohammed-Biografien (Sîra*). Mit unterschiedlichen Nuancierungen haben die fünf wichtigsten islamischen Rechtsschulen* (Sunniten* und Schiiten*) diesen normativen Texten eine Form gegeben und ihnen einen Rechtsstatus verliehen, der noch heute als gültig angesehen wird. Diese normativen Texte, die nicht geändert werden können, sind von den verschiedenen islamischen Gemeinschaften je nach Zeit und Ort immer wieder neu interpretiert und aktualisiert worden.

Für die heutigen Muslime ist eines der Hauptthemen derzeit die Festlegung, was im Islam normativ ist (Nur der Koran? Der Koran und die echten Hadithe? Der Koran, die echten Hadithe und die offiziellen Biografien?).

Die normativen Texte des Westens bestehen hauptsächlich aus den Verfassungen und den Rechtsvorschriften (nationalen und internationalen), die im Laufe der Jahre regelmäßig geändert und ergänzt werden. Auch das philosophische, religiöse, literarische, kulturelle und wissenschaftliche Erbe sind fundamentale Bezugsgrößen, die immer wieder von den einen oder anderen neu interpretiert und aktualisiert werden.

Die normativen Texte des Christentums finden sich in erster Linie in der Bibel* (Altes und Neues Testament*). Danach folgen mit weitaus geringerem Einfluss die Schriften der Kirchenväter*, vor allem der apostolischen Väter* aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts und vor allem die Bekenntnisse* der ökumenischen Konzilien*. Für die christlichen Kirchen wurden die Entscheidungen der ersten ökumenischen Konzilien* (vier, sieben oder acht, je nach Kirche) zu Regelwerken und grundlegenden Bausteinen für ihre verschiedenen Identitäten. Auch in diesem Fall wurden die Grundlagentexte von den Gläubigen, die sich auf sie beziehen, immer wieder neu interpretiert und aktualisiert.

b. Die effektive Dimension

Bei der effektiven Dimension geht es um die konkreten Ergebnisse: die religiösen und kulturellen Institutionen, die politischen und wirtschaftlichen Systeme, die familiären und sozialen Beziehungen … Die effektive Dimension ist die Dimension der Umsetzung. Sie ist der „konkrete Ausdruck“ der interpretierten und aktualisierten Normen an vielen verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten.

Für den Islam, den Westen und das Christentum drückt sich die effektive Dimension in ihrer konkreten Geschichte aus, mit Licht und Schatten, Schönheit und Gewalt, Kriegshandlungen und Friedensaufrufen.

c. Die interpretative Dimension

Die interpretative oder diskursive Dimension beinhaltet die Art der Präsentation durch Personen, die mit ihren Worten, Schriften oder anderen Kommunikationsformen Rechenschaft ablegen. Bei diesen „Interpretationen“ oder „Diskursen“ handelt es sich zwangsläufig um Auswahlverfahren, da jeder Mensch nur im begrenzten Umfang und subjektiv kommuniziert. Je nach Autor können mehrere Ziele damit verfolgt werden: überzeugen, versöhnen, kritisieren, verurteilen, einen Gedankengang entwickeln … Bei der diskursiven Dimension geht es um das Unterbreiten eines Vorschlags, um die „geteilte Hoffnung“ auf der Basis der grundlegenden Regeln und der Umsetzungen von gestern und heute.

Für den Islam, den Westen und das Christentum ist die interpretative Dimension die Einzigartigkeit jeden Beitrags, bei der aus dem Normativen und dem Effektiven eine Auswahl getroffen wird, um die eigene Sichtweise zu vertreten.

Diese Sichtweisen können natürlich sehr verschieden oder gar diametral entgegengesetzt sein! Da gibt es zum einen die „apologetische“ Sichtweise, die versucht, die Grundlagentexte der eigenen Tradition und der daraus entstandenen Geschichte zu verteidigen. Dann gibt es die „antagonistische“ Sichtweise, die versucht, die Tradition des anderen zu kritisieren. Und schließlich gibt es noch die „akademische“ Sichtweise, die versucht, „neutral“ zu sein (vom lateinischen neuter, weder das eine noch das andere), also weder apologetisch noch antagonistisch. Diese Sichtweise zielt auf ein wertfreies Verständnis ab – auch wenn in Wirklichkeit immer Werte mit hineinspielen und den Blickwinkel beeinflussen, denn eine vollkommene „Neutralität“ gibt es nie.

Diese drei Dimensionen – die normative, die effektive und die interpretative – sind eng miteinander verflochten und können nie völlig voneinander getrennt werden, auch wenn sie unterschieden werden müssen.

Bei Diskussionen entstehen viele Schwierigkeiten, weil diese drei Dimensionen nicht klar unterschieden werden. Nicht selten wird beispielsweise die problematische Umsetzung (das Effektive) des einen den schönen Idealen des anderen (dem Normativen) gegenübergestellt.

Oder um es anders auszudrücken: Es ist wichtig, die normative Dimension einer Weltanschauung mit der normativen Dimension der anderen zu vergleichen, die effektive Dimension einer Tradition mit der effektiven Dimension der anderen, die diskursive der einen mit der diskursiven der anderen.


Wie bereits oben erwähnt, gibt es unzählige Arten, heute ein Muslim zu sein. Und vielen Muslimen sind nur die schönsten Grundlagentexte bekannt. Der Rest wird verleugnet oder außer Acht gelassen. Aber für eine aktive Minderheit müssen die Eroberungsstrategien in Treue zu Mohammed alle in die Tat umgesetzt werden, und zwar von allen Muslimen.

Für diese „integralistischen“ Muslime, d. h. diejenigen, die die gesamte Lehre des Koran und der echten Hadithe leben wollen, sind die „selektiven“ Muslime (die nur einen Teil der Lehre befolgen) schlechte Muslime, die hart bekämpft werden müssen.

Manche Texte des Koran üben scharfe Kritik an den Muslimen selbst, die sich angeblich vom Weg Gottes abwenden, die muslimische Gemeinschaft spalten und die Fitna (Chaos, Unordnung und Verwirrung) herbeiführen. Aus diesem Grund können die Gewalttätigkeiten zwischen Muslimen bisweilen ausgeprägter sein als die Gewalt gegenüber Nicht-Muslimen.


Henri Boulad, syrischer Jesuitenpriester und ehemaliger Direktor der Caritas in Ägypten, hat den heutigen Islam in sechs große Gruppen unterteilt. Seiner Ansicht nach erscheint es angebracht, sechs große Kategorien oder Strömungen („Farben im Regenbogen“) des Islam zu unterscheiden.3


a. Der laizistische und liberale Islam

b. Der mystische Islam der Sufi-Orden

c. Der populäre und kulturelle Islam

d. Der offizielle und staatliche Islam

e. Der radikale Islam der Durchdringung

f. Der radikale revolutionäre Islam

Diese sechs Gruppen lassen sich natürlich nicht ganz klar trennen. Es gibt auch Mischformen.

So haben in der Vergangenheit auch Sufi-Bruderschaften (wie die Naqschbandiya) zu den Waffen gegriffen. Dasselbe gilt für den Emir Abd el-Kader (1808–1883), der gleichzeitig ein großer islamischer Mystiker und gefürchteter militärischer Anführer war, der im Namen des Dschihad* gegen die französische Invasion in Algerien gekämpft hat. Es ist kein Widerspruch, wenn Muslime, die die Scharia* (oder das islamische Recht) auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen wollen, gleichzeitig von mystischer Poesie geprägt sind.

Diese sechs Strömungen können auf einer Achse mit zwei Extremen dargestellt werden: A. die Trennung zwischen Religion und Politik und Z. die Unterwerfung der Politik unter die „islamische Offenbarung“.


Der erobernde Islam

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