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Vers 7
Оглавление“Es gibt keine Hoffnung auf Unsterblichkeit mit Hilfe von Macht und Reichtum”, verkündet die Heilige Schrift. Es ist daher offensichtlich, dass Werke nicht die Ursache der Erlösung bilden können.
‘Macht und Reichtum’ stehen hier für unbeschränkte Sinnesfreuden. Sie lenken den Menschen ab und hindern ihn am Erforschen der Absoluten Wirklichkeit. Taten wiederum schaffen neues Karma, wenn ihnen der Gedanke an ein Entgelt innewohnt. Nur selbstlose Taten erzeugen kein Karma. Sie läutern Herz und Gemüt und bereiten den Gottsucher für höhere Einsichten vor. Sie führen ihn aber nicht zur Selbsterkenntnis, wie wir in Vers 11 sehen werden.
Warum sagt Śaṅkarācārya: “Man muss die Heiligen Schriften rezitieren, den Göttern opfern, Rituale feiern, den Gottheiten huldigen: doch ohne Erkenntnis der Einheit von Seele und Absoluter Wirklichkeit gibt es auch in Hunderten von Zeitaltern keine Erlösung”? Die Antwort liegt im Wesen von Advaita-Vedānta. Die Lehre von der nicht-dualen Absoluten Wirklichkeit unterscheidet sich fundamental von allen anderen Glaubensbekenntnissen.
Das Sanskritwort für die sechs philosophischen Schulen des Hinduismus heisst ‘Darśana’, abgeleitet von der Verbalwurzel ‘dṛś’, sehen. ‘Darśana’ ist soviel wie Gesichtspunkt, Standpunkt, Ansicht, Vision. Vereinfachend kann man paarweise drei verschiedene Denksysteme unterscheiden:
1. Die logisch-analytischen Denkordnungen der Seher Gotama und Kaṇada, auf Sanskrit die Nyāya- und Vaiśeṣika-Darśanas.
2. Die metaphysisch-synthetischen Denkordnungen der Weisen Kapila und Patañjali, auf Sanskrit die Sāṁkhya- und Yoga-Darśanas.
3. Die Abhandlungen über vedische Liturgie von Śrī Jaimini, das Pūrva-mīmāṁsā-Darśana und das Uttara-mīmāṁsā- oder Vedānta-Darśana über vdisches Wissen von Vyāsa (Badarāyana) mit ihren sechs Schulen und Exponenten.
Aus den fünf Nicht-Vedānta-Darśanas und den sechs Schulen des Vedānta ragt als einsame Spitze die Lehre vom reinen nicht-dualen Bewusstsein des Erhabenen Śaṅkarācārya hervor, die Doktrin vom Kevala-Advaita-Vedānta. Sie ist in ihrer kompromisslosen Strenge revolutionär und von atemberaubender Kühnheit.
Alle anderen Denksysteme, selbst die bedingt nichtduale Schule von Rāmānuja-Ācārya, der Viśiṣṭa-Advaita-Vedānta, unterscheiden das menschliche Selbst und die Höchste Göttliche Seele als zwei verschiedene, voneinander getrennte Realitäten. Die menschliche Seele muss sich der Höchsten Seele schrittweise nähern und schliesslich mit Ihr vereinigen. Je nach dem Grad der Läuterung seines Herzens erreicht der Mensch einen Zustand der Glückseligkeit, indem er:
• in der Nähe Gottes wohnt (samīpatā),
• am gleichen Ort wie Gott lebt (salokatā),
• eine ähnliche oder dieselbe Gestalt annimmt wie Gott (sarūpatā) und schliesslich
• sich mit Gott vereinigt (sayujyatā).
Nicht so beim reinen Advaita-Vedānta. Nach der von Tausenden von Gott liebenden Menschen gemachten Erfahrung kann sich das Selbst der Lebewesen nicht mit Gott vereinigen, aus dem ganz einfachen Grund, weil es selbst Gott ist. Alles, was der Mensch zu tun hat, besteht darin, die uranfängliche, unveräusserliche Identität seiner innersten Seele mit der Höchsten Gottheit bewusst zu erleben. Śaṅkarācārya kleidet diese unumstössliche Wahrheit in einen einzigen Satz:
Brahma satyam | – | Gott ist die Wahrheit |
jagan mithyā | – | Die Welt ist ein Trugbild |
jivo brahma | – | Die Seele der Lebewesen ist Gott |
nāparaḥ | – | nichts anderes |
(B.Jñ.A.M., 20)
Jesus Christus sagt:
Denn siehe, das Reich Gottes ist in eurem Innersten. (Luk. 17, 21)
Ich und der Vater sind eins. (Joh. 10,30)
Für den Verstand ist es ein Leichtes, die Gleichung:
Meine reine Seele = Gott
theoretisch nachzuvollziehen. Aber das an Namen und Formen gewöhnte, in unzähligen Leben zementierte dualistische Bewusstsein weigert sich ganz einfach mitzumachen, weigert sich, diese wesenhafte Gleichheit zur Kenntnis zu nehmen. Zu tief sitzt die Vorstellung vom ‘Ich und dem anderen’ in der Seele, einerlei, ob dieses Andere ein Gedanke, ein Gefühl, ein Gegenstand, eine Person oder eine Macht ist.
“Gross ist die Mühe derer, die sich auf das Unoffenbarte konzentrieren. Für die verkörperte Seele ist das transzendente Ziel schwer zu erreichen”,
sagt der Erhabene Kṛṣṇa in der Bhagavad-Gītā (Bh.G. 12,5).
Meister Śaṅkaras Worte in Vers 6: “Man muss die Heiligen Schriften rezitieren, den Göttern opfern, Rituale feiern und den Gottheiten huldigen”, sind ein wichtiges Gebot auch auf dem Pfad des Advaita-Vedānta. Brahma Saguṇa, die Höchste Gottheit mit Eigenschaften, ist das vollkommene, allgegenwärtige, allwissende, allmächtige Symbol, die Personifikation von Brahma-Nirguṇa, der Höchsten Gottheit ohne Eigenschaften, in der offenbarten, relativen, vergänglichen Welt (Raphael: Kronjuwel der Unterscheidung, S. 23 unten). Gott als Person ist der einzige Retter, wenn das Schiff unseres Lebens, von Sturm und Wind geschüttelt, in Seenot gerät. Er ist der treue Begleiter im Kreislauf von Geburt und Tod.
Advaita-Vedānta führt die gottwärts strebende Seele aus der Scheinwelt der Offenbarungen in das transzendente Licht der Wahrheit. Auf diesem Weg verliert das kleine empirische ‘Ich’ jeden äusseren Halt, jede Stütze, und am Ziel angelangt, selbst die personifizierte Gottheit, denn auch SIE ist eine Erscheinung der Zweiheit vom ‘Ich und dem anderen’. Erst wenn der Gottsucher seine wahre Natur, die Einheit mit der unteilbaren unendlichen Absoluten Wirklichkeit begriffen hat, ist er erlöst. Erst dann ruht er im Wesen von Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit, nimmt er – in den Worten der Śvetāśvatara Upaniṣad:
Zuflucht zu jenem unaussprechlichen, reinen, nicht handelnden, friedvollen, untadeligen Gott ohne Teile, dessen Begierden und Leidenschaften wie Brennholz im Feuer verbrannt sind, zur hohen Brücke der Unsterblichkeit. (Śvet.U. 6,18b–19)
Advaita-Vedānta ist der Weg der Vollendung, auf dem sich der geistig strebende Mensch stets höher, stets näher zur göttlichen Vollkommenheit emporschwingt.
Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. (Mat. 5,48)
ruft Jesus Christus seinen Jüngern in der Bergpredigt zu.
Der eine Satz in Vers 6:
“Ohne Erkenntnis der Einheit von Seele und Absoluter Wirklichkeit gibt es auch in Hunderten von Zeitaltern keine Erlösung”
rückt das Grundproblem des Advaita-Vedānta in bewusst provokativen Worten ins Rampenlicht. Die Erkenntnis dieser Identität ist das Alpha und Omega der Lehre vom einen ungeteilten Bewusstsein. Śaṅkarācārya verkündet es gleich am Anfang seiner Unterweisung. Wie diese Erkenntnis zustandekommt, erfahren wir aus dem Studium des Kronjuwels der Unterscheidung.