Читать книгу Das Kronjuwel der Unterscheidung - Shankaracharya - Страница 17

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Wahres geistiges Leben

Vers 8

So möge der Weise nach Erlösung streben, indem er dem Wunsch nach Glück aus äusserlichen Dingen entsagt, einen wahren geistigen Meister aufsucht und sich auf die von Ihm verkündeten Lehren konzentriert.

Weise ist, wer zwischen Vergänglichem und Ewigem zu unterscheiden vermag. Das Glück aus äusserlichen, durch die Sinne und das Denken wahrgenommenen Dingen, ist vergänglich. Dazu die einprägsamen Worte des Erhabenen Kṛṣṇa in der Bhagavad-Gītā:

Denn der Genuss der Sinnenwelt,

O Arjuna, gebiert den Schmerz.

Was anfängt und zu Ende geht,

Erfreut niemals des Weisen Herz! (Bh.G. 5,22)

Weil Sinnesfreuden kurzlebig, teuer und schädlich sind, entsagt der Weise dem Glück aus äusserlichen Dingen. – Anders als in den westlichen Kulturen hat das zentrale Erfordernis des vollendeten geistigen Lehrers in der östlichen Tradition tiefe Wurzeln. In der Kātḥaka-Upaniṣad spricht Yama, der Todesengel, folgende Worte zum wissbegierigen Jüngling Naciketas:

Wenigen ist es gegeben, von der Seele der Seele, vom Selbst zu hören. Viele, die davon hören, begreifen es nicht. Rar und wunderbar ist der Verkünder, begnadet der Empfänger. Wunderbar, wer es – von einem Meister gelehrt – erfasst. (Kā.U. 1,2,7)

Nicht leicht ist das Selbst – von einem Geringeren verkündet – zu verstehen. Es wird auf mancherlei Art erdacht. Von einem Meister aber kundgetan, der eins ist mit dem Selbst, bleibt kein Zweifel mehr bestehen. Denn unausdenkbar ist das Selbst und feiner als des Atomes Kern. (Kā.U. 1,2,8)

Der springende Punkt sind die nagenden Zweifel. Selbst wenn jemand, der wie Naciketas nach Erkenntnis lechzt, ein Leben lang die Heiligen Schriften erforschte, käme er ohne Gottes Gnade, ohne die Hilfe einer vollendeten Seele, nicht ans Ziel. Zuviele Aussagen der Vedas sind rätselhaft kurz oder mehrdeutig lang. Nur wer das dualistische Bewusstsein überwunden hat, kann den Gottsucher aus der Finsternis heraus ins Licht emporführen. Hat dann dieser Gottsucher das Glück des Lebens, einem wahren Meister zu begegnen, soll er dessen Lehren gesammelten Geistes zuhören, darüber nachdenken, meditieren – manana, śravaṇa, nididhyāsana –, mit Gleichgesinnten darüber sprechen, vor allem aber sie zu Herzen nehmen und befolgen.

Vers 9

Fest gegründet im Yoga, verwurzelt in der vollendeten Einsicht, soll er die im Ozean des Geburtenkreislaufs versunkene Seele mit dem reinen Selbst emporheben.

Was heisst “festgegründet im Yoga”? Der Erhabene Kṛṣṇa erklärt es in der Bhagavad-Gītā wie folgt:

Wer weder an Sinnesobjekten noch an Taten haftet, wer allen Wünschen entsagt, der gilt als im Yoga fest gegründet. (Bh.G. 6,4)

“Wer nicht an Taten haftet”, ist einer, der selbstlos dient, seine Arbeit ohne Anspruch auf Entgelt verrichtet! Der Kreislauf von Geburt und Tod wird hier mit dem Ozean verglichen: Kummer und Leid, Unwissenheit, Ichsucht, Bindungen und Angst vor dem Tod sind die stürmischen Wogen, Irrtum und Verblendung die gefährlichen Strudel, Familie, Freunde, Verwandte und Reichtum die See-Ungeheuer, Lust und Zorn die Netze, in die sich der Mensch verstrickt.

In Śaṅkarācāryas Buch der Hymnen, im Lakṣmī-Nṛsiṁha-karuṇā-rasa-stotram, gibt es ein wunderschönes Gebet an Lakṣmī und Viṣṇu als Verkörperungen der Liebe und Barmherzigkeit, worin der Autor namens der im Ozean der Seelenwanderung Versunkenen um die rettende Hand Gottes fleht. Die Strophen 9 und 10 dieser ergreifenden Gebetshymne lauten:

O Lakṣmi-Nṛsiṁha, reich’ mir Deine rettende Hand, mir, der ich von den Wellen der Leidenschaft fortgerissen und von Angst gelähmt bin, dessen Körper gefangen ist, gepackt von den Reisszähnen des Krokodils, von der gewaltigen, unaufhaltsamen Zeit im Ozean der Seelenwanderung!

Schau mich an, o Herr, o Meer des Erbarmens, der ich im Ozean der Seelenwanderung versunken und verloren bin, den Elenden, o Höchste Verkörperung der Freude, der Du mich von Kummer und Leid befreist! O Lakṣmi-Nṛsiṁha, reich’ mir Deine rettende Hand!

(LNKRS 9-10)

In Vers 9 des Kronjuwels der Unterscheidung mahnt Śaṅkarācārya den Gottsucher, der zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem zu unterscheiden weiss und nicht den Körper mit dem Selbst verwechselt, die im Ozean der Seelenwanderung versunkene Seele durch wahre Gotterkenntnis herauszuziehen. Allein kann er es nicht, wohl aber mit der Hilfe seines Meisters und der Göttlichen Mutter, denn Lalitā Devī1) ist, wie einer Ihrer tausend Namen im Śrī Lalitā-sahasra-nāma-stotram lautet:

Geschickt im Herausziehen der im Schlamm der Wiedergeburten Versunkenen. (SLS 880)

Vers 10

Um sich von den Fesseln der Seelenwanderung zu befreien, müssen die Weisen, die fest Entschlossenen und dazu Bereiteten, ständig nach Selbstbesinnung streben und den Früchten aller Arbeit entsagen.

Dass die Weisen auf die Früchte der Arbeit, auf den Gedanken an Lohn für geleistete Dienste verzichten sollen, haben wir schon bei der Definition des Ausdrucks “fest gegründet in Yoga” gesehen. Fest entschlossen sind diejenigen, welche vom Feuer der Sehnsucht nach Gotterfahrung (mumukṣutvam) beseelt sind. “Dazu bereitet” sind Menschen, welche die grundlegenden Voraussetzungen für das geistige Leben erfüllen. Davon ist im nächsten Abschnitt die Rede. Unter Selbstbesinnung ist gemäss dem ‘Pañcadaśī’ von Śrī Vidyāraṇya Svāmin die Regel gemeint, ständig über das Selbst und die Absolute Wirklichkeit nachzudenken, darüber zu reden und einander zu belehren, kurz: sich intensiv mit dem Selbst zu beschäftigen.

Vers 11

Werke dienen der Läuterung des Herzens, führen aber nicht zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Wahrheit erschliesst sich durch kritisch unterscheidendes Nachdenken und Abwägen (Vicāra) und nicht im Geringsten durch Millionen von Werken.

In Vers 7 haben wir den Satz gelesen: “Es ist daher offensichtlich, dass Werke nicht die Ursache der Erlösung sein können.” Und jetzt heisst es, die Wahrheit erschliesse sich nicht im Geringsten durch Millionen Werke.

Worauf es ankommt, ist Besinnung auf das Selbst, ständig überlegen, erforschen, durchdenken, prüfend hinterfragen, was mit dem Selbst, der Seele der Seele, zu tun hat. Werke – gemeint sind hier Zeremonien, Rituale, Feueropfer – stimmen die Gottheit gnädig, erzeugen kein nachteiliges Karma, reinigen das Herz vom Unrat, der die Kanäle göttlicher Eingebung verstopft, und schaffen die Voraussetzungen, unter denen höheres Wissen aufdämmert. Letzte Erkenntnis aber kommt durch Meditation über das Selbst zustande.

Vers 12

Die Feststellung der Tatsache, dass man es mit einem Seil zu tun hat, kommt durch sorgfältiges Überprüfen zustande. Sie beseitigt Angst und Schrecken vor der grossen Schlange, die durch eine Verwechslung entstanden sind.

Das Beispiel vom Seil und der Schlange benützt Śaṅkarācārya immer wieder als einprägsames Bild, um die ‘Kraft der Projektion’ (vikṣepa-śakti), eine der beiden schwer ergründbaren Kräfte, zu deuten, die zusammen mit der ‘Kraft der Verhüllung’ (āvaraṇa-śakti) das Phänomen der kosmischen Täuschung (māyā) begründet:

Zwei Wanderer gehen bei anbrechender Dunkelheit und leichtem Nieselregen auf einem Waldweg einher. Unversehens reisst einer den anderen entsetzt am Arm zurück. Quer über dem Weg bemerkt er ein schwarzes, gekrümmtes Etwas, das er – keine Seltenheit in dieser Gegend und Jahreszeit – für eine gefährliche Giftschlange hält. Auch dem anderen ist mittlerweile der Schreck in die Glieder gefahren. Aus respektvoller Entfernung starren beide wie gebannt auf das krumme Etwas und überlegen, was zu tun sei. Das verdächtige Ding bewegt sich nicht. Schliesslich nimmt einer einen langen Ast und schiebt es zur Seite. Noch immer rührt es sich nicht. Ist es am Ende eine tote Giftschlange? Sie fassen Mut und treten näher. Nach sorgfältiger Prüfung stimmen die beiden überein, dass es keine Giftschlange, sondern ein halb verrottetes Seil ist, das jemand verloren oder weggeworfen hat. Was ist passiert? Die beiden müden Wanderer haben auf das harmlose Seil die irrige Vorstellung einer Giftschlange projiziert. Sie haben das Seil mit einer Schlange verwechselt. Sie sind der ‘Kraft der Projektion’ zum Opfer gefallen.

Vers 13

Sicherheit in Bezug auf Wahrheit erlangt man durch intensives Nachdenken und aus den Lehren des Meisters, nicht durch Baden in heiligen Wassern, nicht durch Almosen, nicht durch Hunderte von Atemübungen.

Man ist geneigt hinzuzufügen: “und auch nicht allein durch das Studium der Heiligen Schriften”. Letzte Sicherheit geben uns der Meister und meditative Versenkung.

1) die Göttliche Mutter

Das Kronjuwel der Unterscheidung

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