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Vorwort

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‘Kronjuwel der Unterscheidung’ (im Original: ‘Vivekacūḍāmaṇi’) heisst eines der bekanntesten philosophischen Lehrgedichte der alt-indischen Literatur. Das Werk wird dem grossen Mystiker, Philosophen und Reformator des Hinduismus, Śaṅkarācārya (A.D. 788–820), zugeschrieben. Ihm ist die untenstehende kurze Biographie gewidmet.

Śaṅkarācārya zeigt dem geistig strebenden Menschen, der bestimmte Voraussetzungen erfüllt, den Weg zum Himmelreich im Inneren, zur Selbsterkenntnis, zur Gotterfahrung im Bewusstsein der Absoluten Wirklichkeit und ewigen Glückseligkeit jenseits von Zeit und Raum, Ursache und Wirkung.

Absolut wahr, absolut wirklich ist, was ungeboren, unsterblich, unbeweglich, unveränderlich, unendlich, überall und ewig gleichbleibend ist, was keine Form, keine Merkmale und keine Eigenschaften hat: das ungeteilte, unteilbare, weder mit den Sinnen noch mit dem Gemüt wahrnehmbare, von allem unabhängige, all-umfassende, in sich selbst ruhende homogene SEIN. Es ist vom Wesen reinen Bewusstseins. Es ist die Absolute Wahrheit und Wirklichkeit, der “Ich bin der Ich Bin”, Gott. Unoffenbart, unausdenkbar, undefinierbar, unaussprechbar ist Es von einem reinen Herzen erfahrbar.

Von diesem einen Sein handelt die Philosophie des ‘Advaita-Vedānta’, wonach – absolut betrachtet – nichts existiert ausser Gott. Dieser ist die Seele von allem, das Selbst des unendlichen Kosmos und auch das, was den Kosmos transzendiert, der innerste Kern und das Substrat von allem, was geht und steht, des Belebten wie des Unbelebten, das Selbst alles Offenbarten.

Der Ausdruck ‘Advaita’ bedeutet: nicht dual, nicht dualistisch, das Eine ohne Vielfalt, Eines ohne ein Zweites, das Eine ohne etwas anderes.

Im Bewusstsein der Absoluten Wirklichkeit gibt es weder den Beobachter noch das Beobachtete noch den Vorgang des Beobachtens. Die drei Begriffe lösen sich im Absoluten auf. Es gibt kein du, kein er, sie, es und keinen anderen. Nur der Ich bin der Ich Bin existiert.

Auch die Gegensatzpaare wie jung und alt, schön und hässlich, gut und böse, heiss und kalt, nah und fern, hoch und tief, oben und unten, Werden und Vergehen, Mann und Frau, Norden und Süden, Westen und Osten, Gegenwart und Zukunft, usw. sind Merkmale dualistischen Bewusstseins, Eigenschaften einer begrenzten, relativen und vergänglichen Welt der Erfahrungen, die im selben Augenblick der Erkenntnis des Absoluten erlischt und dem Erkennenden wie Schuppen von den Augen fällt.

Das scheinbar ‘unmögliche’ Gebot von Jesus Christus:

Ihr sollt also vollkommen sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist! (Mat. 5,48)

bedeutet nicht: Ihr sollt also vollkommen werden, wie Euer himmlischer Vater vollkommen ist. ‘Werden’ ist ein Begriff der Dualität. Die Absolute Wirklichkeit wird nicht, sie ist. Deshalb sagt Jesus Christus: “Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!”

Der Mensch ist vollkommen, aber er weiss es gewöhnlich nicht, und wenn er es weiss, dann weiss er es nur verstandesmässig. Sein Bewusstsein ist begrenzt. Es ist nicht unbegrenzt. Noch nicht.

Der Mensch ist ein Opfer kosmischer Täuschung (māyā). Er lebt in einer Illusion. Im Traum, wenn die fünf Sinne ‘schlafen’, gaukelt ihm das Gemüt eine Welt unwirklicher Erscheinungen und Erlebnisse vor. Diese lösen sich beim Erwachen in nichts auf wie Nebel in der Mittagssonne. Und wenn er wach ist, gaukeln ihm die fünf Sinne und das Gemüt jene Welt vor, die wir alle für wirklich halten. Aber auch sie ist relativ, begrenzt, vergänglich und daher – absolut gesehen – unwirklich. Sie verhüllt unser Selbst und lenkt von der Schau Gottes ab. Es ist eine Welt geistiger Finsternis. Sobald das Licht der Erkenntnis leuchtet, weicht die Finsternis schlagartig von uns wie die Dunkelheit im Keller, wenn wir das elektrische Licht einschalten.

Advaita-Vedānta zeigt den Weg aus der Finsternis ins Licht, aus dem Schein ins Sein, aus der Unwissenheit zur Erkenntnis des ewig unveränderlichen Absoluten, den Lehrpfad zum geistigen Endziel der Menschheit, den ‘schmalen Weg durch das enge Tor’ zum Bewusstsein der einen ungeteilten, unteilbaren, nicht-dualen Absoluten Wirklichkeit.

Im ‘Kronjuwel der Unterscheidung’ unterweist der erleuchtete Meister den würdigen Gottsucher über die Quintessenz der Lehre des Advaita-Vedānta. Er nimmt ihn liebevoll bei der Hand und führt ihn Schritt für Schritt in die Absolute Wahrheit ein. Er zeigt dem Schüler den sicheren Weg und die bewährten Methoden, um die Identität seiner innersten Seele mit Gott bewusst zu erfahren. Der geistige Lehrer zeigt ihm den Unterschied zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst, zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen.

In Begriffen der westlichen Kultur kommt Advaita-Vedānta dem Panentheismus am nächsten, der religiösphilosophischen Lehre, nach der die Welt in Gott eingeschlossen ist und in Gott ihren Halt hat.

Dem himmlischen Vater der Bibel steht die Göttliche Mutter des Vedānta gegenüber. ‘Brahma’ ist der Name Gottes als das unoffenbarte Absolute, der ‘Ich bin der Ich Bin’, die Quelle, das Wesen und Substrat alles Offenbarten. Auch im Advaita-Vedānta ist die Rede von ‘Göttern’. Das entsprechende Sanskrit-Wort lautet ‘Deva’ von ‘div’ (leuchten) und hat auch den Sinn von Lichtwesen. ‘Götter’ sind Aspekte des Einen Göttlichen Lichts.

Mit diesem Vorwort beginnt das systematische Studium des ‘Vivekacūḍāmaṇi’, des Kronjuwels der Unterscheidung, anhand der ursprünglichen Fassung im zehnbändigen Sammelwerk der Lehren Śaṅkarācāryas, dem geistigen Vermächtnis des grössten Mystikers und Philosophen im antiken Indien. Das Sanskrit-Original besteht aus 581 Strophen in Deva-Nāgarī-Schrift. Übersichtshalber schicken wir den einzelnen Gedankengängen der Unterweisung kennzeichnende Überschriften voraus, ohne die Reihenfolge der Verse zu ändern.

Einen über tausend Jahre alten Sanskrit-Text von lebensentscheidender Bedeutung, inhaltlicher Präzision und überragender dichterischer Schönheit in eine westliche Sprache zu übertragen, ist ein anspruchvolles Unterfangen. Es gestattet bestenfalls eine dem Sinn nach richtige, klar verständliche und sprachlich saubere Wiedergabe unter Verzicht auf den dynamischen Rhythmus und die Klangbilder des Originals.

Das vorliegende Buch ist unseres Wissens die erste deutsche Ausgabe von ‘Vivekacūḍāmaṇi’, welche direkt aus dem Sanskrit, ohne den Umweg über eine andere Fremdsprache, übertragen wurde. Es möchte dem interessierten Leser deutscher Sprache Gelegenheit bieten, solide Kenntnisse der Advaita-Vedānta-Lehre zu erarbeiten, und ihm das Rüstzeug für den Weg der Erkenntnis nach der höchsten metaphysischen Methode in die Hand geben.

Die Übersetzungsarbeit ist das Gemeinschaftswerk von zwei Sanskritisten, die sich so eng wie möglich an Śaṅkārācāryas eigene Worte hielten und zugleich um korrektes Deutsch bemühten. Andere Übersetzungen, die zum Teil auslegenden Charakter haben, wurden stets zu Rate gezogen.

Kenner der Sanskrit-Sprache finden den Originaltext in der internationalen Einheits-Umschrift im Anhang. Wichtige Sanskrit-Ausdrücke folgen den deutschen Begriffen in Klammern. Sanskrit-Namen wurden in Fussnoten erläutert.

Emanuel Meyer Christoph Rentsch

Das Kronjuwel der Unterscheidung

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