Читать книгу Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat - Shiva Ryu - Страница 10

EIN VOGEL FLIEGT, AUCH WENN ER NICHT WEISS, WO ER LANDEN WIRD

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Nach dem Tod ihres Mannes zog eine Frau ihre Tochter alleine groß. Als diese schließlich erwachsen war, fand sie keine Arbeit, und da die Mutter inzwischen zu krank zum Geldverdienen war, musste sie nach und nach alles verkaufen, was sie je besessen hatte. Nur noch ein Stück war ihr geblieben: eine goldene Halskette mit einem Saphir, ein Erbstück der Familie ihres Mannes. Doch sosehr sie ihr am Herzen lag, es kam der Tag, an dem sie sich selbst davon trennen musste.

Sie trug ihrer Tochter also auf, das Schmuckstück zum besten Juwelier der Stadt zu bringen und es ihm anzubieten. Der Mann begutachtete es sorgfältig und fragte die junge Frau, warum sie es verkaufen wolle, und da erzählte sie ihm von den finanziellen Schwierigkeiten, in denen sie sich befanden.

Der Juwelier schüttelte den Kopf. »Im Moment ist der Goldpreis sehr niedrig. Es ist kein guter Zeitpunkt, deine Kette zu verkaufen. Es wäre besser zu warten.«

Er lieh ihr etwas Geld und sagte, sie solle am nächsten Tag zu ihm ins Geschäft kommen. Sie könne als Aushilfe bei ihm anfangen und sich so etwas verdienen, um für sich und ihre Mutter zu sorgen.

So kam es, dass die junge Frau in dem Juwelierladen zu arbeiten begann. Dabei lernte sie unter anderem, den Wert von Schmuckstücken einzuschätzen. Der Juwelier war zufrieden, und er brauchte die junge Frau nur zu sehen, und es zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Eines Tages sagte er zu ihr: »Wie du weißt, ist der Goldpreis in letzter Zeit stark gestiegen. Rede mit deiner Mutter. Es wäre jetzt eine gute Zeit, die Kette mit dem Saphir zu verkaufen.«

Nach der Arbeit ging die junge Frau also nach Hause und überbrachte ihrer Mutter die Botschaft. Natürlich sah sie sich die Kette genauer an, bevor sie sie mit ins Geschäft nahm. Und sie merkte, dass sie nur vergoldet war und der Saphir feine Risse aufwies. Er war also von minderwertiger Qualität.

»Warum hast du die Kette nicht mitgebracht?«, fragte der Juwelier sie am nächsten Morgen.

»Das hätte keinen Sinn gemacht. Ihr habt mich gelehrt, Schmuckstücke zu begutachten, und so genügte ein Blick, um zu wissen, dass sie nicht wertvoll ist. Warum habt ihr es mir nicht gleich gesagt? Ihr müsst es doch gesehen haben.«

Schmunzelnd antwortete der Juwelier: »Hättest du mir geglaubt, wenn ich dir das damals gesagt hätte? Wahrscheinlich wärst du misstrauisch geworden und hättest vermutet, dass ich eure Notlage ausnutzen und die Kette billig erwerben wollte. Oder du wärst mit falschen Erwartungen von einem Juwelier zum anderen gelaufen, um doch noch einen höheren Preis zu erzielen. Vielleicht wärest du gar so verzweifelt gewesen, dass du den Lebensmut verloren hättest. Was hätten wir gewonnen, wenn ich dir damals die Wahrheit gesagt hätte? Du wärst mit Sicherheit nie zur Schmuckkennerin geworden. Aber so weißt du nun über Gold und Edelsteine Bescheid, und ich habe dein Vertrauen gewonnen.«

Dank eigener Erfahrung Echtes von Falschem unterscheiden zu können, ist mehr wert als jeder noch so gute Rat. Ein Mensch, der sein Urteilsvermögen durch eigenes Erleben schult, vergeudet seine Zeit nicht damit, anderen zu misstrauen oder in Verzweiflung zu verfallen. Er geht einfach seinen Weg. Und damit er dies tun kann, dürfen wir ihn nicht mit vorschnellen Ratschlägen und unausgegorenen Weisheiten daran hindern. Erkenntnisse, die wir uns nicht selbst erarbeitet haben, sind wie Flügel, die wir nicht ausbreiten können. Die Probleme des Lebens sind im Erleben zu lösen.

Bei einem meiner ersten Trekking-Aufenthalte im Himalaya plante ich, zum Dorf Langtang in Nepal aufzusteigen. Der Oktober oder November wären ideale Monate für diese Tour gewesen, aber es war Januar, als ich, der langhaarige Tourist, in einem Gasthof in Kathmandu meinen Koffer auspackte. Zu meiner Freude lief ich im Ort einem Bekannten aus Nepal über den Weg, der Profi-Bergsteiger war. Ich erzählte ihm von meinem Plan: in einer Woche hin und zurück von Syabru Bensi bis hinauf zum Kyanjin Gompa auf 3800 Metern. Bei meiner letzten Tour hatte ich einen Sherpa und viel Gepäck dabeigehabt. Diesmal wollte ich ganz leicht unterwegs sein – nur mit dem Allernötigsten im Rucksack. Ich hatte schon diverse Trekking-Touren unternommen und fühlte mich gut gerüstet. Ich strotzte nur so vor Zuversicht.

Als ich meinem Freund sagte, dass ich nicht einmal einen Schlafsack mitnehmen wollte, zog er die Augenbrauen hoch, aber er sagte kein Wort. Er nickte nur.

Die Tour nach Langtang wurde zu einem einzigen Fiasko. Die Route war wesentlich gefährlicher und anspruchsvoller, als ich es mir vorgestellt hatte. Da ich keinen Sherpa hatte, verlief ich mich andauernd. Statt einer Woche wie geplant brauchte ich zehn Tage, und die Einheimischen, denen ich unterwegs begegnete, waren entsetzt bei meinem Anblick. Ich war angezogen, als wollte ich eben kurz den Hügel hinterm Haus hochlaufen. Bei meinem Aufbruch in Syabru Bensi sah ich aus wie ein zivilisierter Mensch.

War es eine ausschließlich leidvolle Erfahrung? Ich habe seither im Himalaya über zwanzig Touren unternommen, aber der Weg nach Langtang hat sich mir am intensivsten eingeprägt. Nicht nur wegen der Landschaft, der schneebedeckten Gipfel von Ganesh Himal, die meine Augen und meine Seele überwältigten. Die kaum zu ertragende Kälte, die mich dazu brachte, unterwegs in einem Laden eine dicke Jacke, ein paar Handschuhe und eine Mütze aus Yakwolle zu kaufen; vor allem aber die liebevolle Hilfe der Einheimischen vor Ort sind mir unvergesslich geblieben. Weil es unmöglich war, im Winter auf dem Berg ohne Schlafsack zu campieren, ließen mich die Besitzer der Gasthäuser in ihrer Küche übernachten, wo ich dem Knistern des Feuers im Lehmofen lauschte. So kam ich mit den Leuten, die dort wohnten, ins Gespräch, und dieser zwischenmenschliche Austausch machte diese Tour zu etwas ganz Besonderem.

Als wäre ich zu nah an einer Bombenexplosion gewesen, war mein Gesicht von der erbarmungslosen Hochgebirgssonne total verbrannt, und meine Lippen waren mit Fieberbläschen übersät, als ich, körperlich völlig ausgezehrt, mit letzter Kraft Syabru Bensi erreichte. Aber mein Geist war noch nie so frisch gewesen und mein Blick noch nie so strahlend. In diesem Zustand traf ich meinen nepalesischen Freund, den Profi-Bergsteiger, wieder.

»Warum hast du mich nicht gewarnt?«, fragte ich. »Wieso um Himmels willen hast du mir nicht gesagt, was an Ausrüstung unverzichtbar ist? Du kennst das Langtang-Gebiet doch wie deine Westentasche!«

»Weil es besser für dich ist, es durch eigene Erfahrung zu lernen. Das hier wird doch nicht deine letzte Tour sein! Ich wusste, dass du dir unterwegs alles besorgen kannst, was du brauchst. Und auch dass du alle Probleme am Ende irgendwie meistern wirst.«

Leben heißt nicht, sich Erklärungen anzuhören. Es heißt, die Dinge selbst zu erleben. Alles in uns, was nicht gut und richtig ist, wird dabei verbrannt. Hätte mein Freund nicht so sehr mit Ratschlägen gegeizt, hätte sich mir die Langtang-Tour nicht so tief ins Gedächtnis gegraben. Ich bin fest überzeugt, dass mir der Weg damals vorbestimmt war. Ich habe dabei gelernt, mein Leben nicht nach den Ratschlägen erfahrenerer Menschen auszurichten, sondern mich ohne groß zu zögern ins Nichtvorhersehbare zu stürzen, damit mir, wann immer ich mich auf unbekanntes Terrain begebe, kein Sherpa, sondern das wahre Leben begegnet. Das Leben, so weiß ich jetzt, wird mir letzten Endes die Lösung zeigen. Um es mit einem meiner Lieblingssprüche zu sagen: »Ein Vogel fliegt, auch wenn er nicht weiß, wo er landen wird.« Und fliegen lernt er immer.

Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat

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