Читать книгу Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat - Shiva Ryu - Страница 13
NIMM BEIM ZÄHLEN SEGENSREICHER MOMENTE DIE VERLETZUNGEN NICHT AUS
Оглавление»Ein Erlebnis, das uns verletzt, ist kein zufälliges Ereignis. Es ist die Chance, auf die wir geduldig gewartet haben, um unsere Richtung im Leben zu finden, um dieses also ernst zu nehmen. Hätte sich dieser Zwischenfall nicht ereignet, wären wir jetzt auf der Suche nach einem anderen ähnlichen Erlebnis.«
W. H. AUDEN, ENGLISCHER LYRIKER
Eine junge Frau träumte davon, eines Tages ihre eigene psychotherapeutische Praxis zu eröffnen. Ihre Eltern, die ihr sehr zugewandt waren, verfügten über ausreichende Mittel, um ihr das Studium zu ermöglichen, und sie wollte mit ihrer Arbeit Menschen helfen, die an emotionalen Verletzungen litten. Nach dem Bachelor heiratete sie zunächst und führte mit ihrem Mann ein beneidenswert unbeschwertes Leben, bis sie nach einiger Zeit beschloss, nun doch ihren Master in Psychologie zu machen, um sich ihren alten Wunsch zu erfüllen. Und mit einem Mal holte das Pech sie ein.
Ihr Sohn und einziges Kind brach plötzlich zusammen und starb, bevor man herausfinden konnte, woran er gelitten hatte. Kaum hatte sie sich vom ärgsten Schock erholt, erfuhr sie, dass ihr Mann sie betrog. Auf ihre Kritik und Vorwürfe ging er mit keinem Wort ein. Er ließ sie einfach sitzen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht, dass sie zehn Monate später ihrem Vater ins Grab nachschauen würde. Ihr Beschützer, der ihr ihr Leben lang mit Rat und Tat zur Seite gestanden und stets für ihre Sicherheit gesorgt hatte, war plötzlich nicht mehr da.
Ihre Trauer war grenzenlos. Wenn sie bloß das Rad der Zeit zurückdrehen und die Menschen, die sie verloren hatte, irgendwie zurückholen könnte! Sie war jetzt nicht mehr die Mutter von jemandem, die Ehefrau von jemandem oder die Tochter von jemandem. All ihre bisherigen Identitäten hatten sich plötzlich in Luft aufgelöst, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie ernsthaft mit der Frage konfrontiert, wer sie eigentlich sei. Aus ihrer Trauer heraus fing sie auf einmal an, in sich selbst hineinzulauschen. Sie erkannte, dass eine verletzende Wahrheit besser ist als falscher Trost. Erwacht die Seele zu neuem Leben, verlieren alte Verluste an Bedeutung.
Inzwischen hat die Frau sowohl ihr Masterstudium als auch die harte Schule des Lebens gemeistert, und sie arbeitet heute als Psychotherapeutin. Wer das Leid aus eigener Erfahrung kennt und dennoch den anderen fragt, »Geht‘s dir gut?«, ist der »verwundete Heiler«, von dem C. G. Jung spricht. Heilung bricht manchmal wie eine Woge über uns herein. Sie wirft uns zu Boden, und kaum ist sie verebbt und wir haben unseren Halt wiedergefunden, schwappt schon die nächste über uns hinweg.
Wenn wir uns mit dem Messer schneiden, werden unsere physischen und emotionalen Heilungsmechanismen augenblicklich mobilisiert und funktionieren viel aktiver als zuvor. Mit Mitte vierzig, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, ereilte den gefragtesten Pianisten der Gegenwart, Murray Perahia, ein unerwarteter Schicksalsschlag. Er schnitt sich an der Kante eines Notenblatts am rechten Daumen. Die Wunde sah zunächst harmlos aus und schien auch schnell zu verheilen, doch dann kam es zu einer Infektion, und der Daumen deformierte sich. Perahia musste zweimal operiert werden, was bedeutete, dass er jahrelang nicht Klavier spielen konnte.
Ein Pianist, der sein Instrument nicht spielen kann! Durch welches Tal der Finsternis muss er gegangen sein. Aber Perahia erklärte, sich während dieser Zeit ungemein weiterentwickelt zu haben. Er habe endlich Zeit gehabt, sich der Musik jenseits des Klaviers aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Er habe sich gefragt, was in einem Komponisten vorging, wenn er seine Noten niederschrieb, und er habe Antworten gefunden. Als er wieder spielen konnte, tat er es auf einem höheren Niveau. Sein Spiel hatte an Seele und Tiefe gewonnen. Nicht umsonst nennt man ihn »den Troubadour des Pianos«. Die Goldberg-Variationen von Bach, die er nach seinem Comeback aufnahm, hielten sich fünfzehn Wochen lang in den Billboard Charts. In seiner Musik schwingt ein Gefühl von Dankbarkeit an Gott mit – die Dankbarkeit eines Menschen, der Leid überwunden hat.
Murray Perahias Interpretation von Beethovens Mondscheinsonate ist melancholisch: »Viele Experten waren der Meinung, dass es in Wahrheit keinen Zusammenhang zwischen dem Mondschein und der Mondscheinsonate von Beethoven gibt, und gingen davon aus, dass man diese im Nachhinein konstruiert habe. Bei einer Auktion wurde dann aber eine Notiz von Beethoven entdeckt, die er unmittelbar vor dem Komponieren des Stücks verfasst hatte. Es ging darum, wo er sich eine Äolsharfe beschaffen könne, jenes Instrument, von dem man sagt, Äolus, der Gott des Windes, würde es spielen, wann immer der Wind in seine Saiten greift und sie zum Klingen bringt. Der Legende nach steigt ein Liebespaar, das wie Romeo und Julia jung aus dem Leben schied, auf einen Planeten hinab, der nur den Mondschein kennt. Es ist die Traurigkeit von einsamen Inseln, auf denen solche Liebespaare wohnen, die hörbar in den Klängen der Äolsharfe schwingt. Und genau diese Klänge fing Beethoven in seiner Mondscheinsonate ein.«
Wäre es falsch zu behaupten, dass jede Verletzung einen Sinn hat? Vielleicht sind nicht wir es, die die Wunde heilen, vielleicht heilt die Wunde uns. Erleiden wir eine Verletzung, ist dies ein unmissverständlicher Hinweis darauf, welcher Aspekt von uns der Veränderung bedarf. Schaue ich auf mein Leben zurück, haben sich vermeintliche Verletzungen im Nachhinein stets als Meilensteine auf dem Weg erwiesen, den ich auf der Suche nach meinem wahren Selbst gegangen bin. Im Gewebe des Lebens sind die Etappen des Leids eng mit denen des Segens verwoben. Das englische »blessing« und das französische »blesser« gehen etymologisch auf die gleiche Wurzel zurück – »blessing« bedeutet »Segen«, »blesser« hingegen »verletzt werden«. Beim Zählen der segensreichen Momente dürfen wir die Verletzungen nicht ausnehmen.
Ein junger Mann erkrankte an Knochenkrebs. Nachdem ihm ein Bein amputiert worden war, verfiel er in Verzweiflung, und er entwickelte einen regelrechten Hass auf die Gesunden. In der ersten Sitzung der Maltherapie, die ihm die Ärzte verordneten, malte er seinen Körper als Vase. Sie war vollkommen schwarz und wies einen großen Riss auf.
Einige Jahre und viele Sitzungen später zeigte ihm der Therapeut sein erstes Bild.
»Oh, das ist noch nicht fertig«, bemerkte der junge Mann.
Ob er es nicht beenden wolle, fragte der Therapeut.
Er nickte, nahm einen gelben Stift zur Hand und deutete auf den Riss. »Sehen Sie«, sagte er. »Hier scheint die Sonne herein.« Und er brachte die Vase zum Strahlen.
Im Leben kommt es mehr darauf an, im Regen zu tanzen, als der Frage nachzugehen, wie man einen Wolkenbruch trocken übersteht, so der Spruch eines anonymen Verfassers.
Um zum spirituellen Krieger zu werden, braucht man ein gebrochenes Herz, sagt der aus Tibet stammende buddhistische Lehrer Chögyam Trungpa. Sonst sei man nicht geeignet. Leid, in dem man Sinn findet, sei kein Untergang, sondern der Moment der Wiedergeburt und Beginn einer neuen Reise. Die Katholiken sprechen von felix culpa, der »glücklichen Schuld«, quasi einem Untergehen mit wehenden Fahnen, da uns die Verletzung zur Erlösung führt.
Im nordamerikanischen indigenen Stamm der Sioux ist der Glaube verbreitet, dass der Mensch Gott am nächsten sei, wenn er leidet und traurig ist, da Schmerz die Schale des Egos zum Bersten bringt. Wer verwundet ist oder gelitten hat, gilt den Sioux als heilig. Die Leute wenden sich an diese Menschen und bitten sie, für sie zu beten. Ihr Gebet, so glaubt man, sei eindringlicher und kraftvoller und könne Gott darum am ehesten erreichen.
Der vietnamesische Mönch Thích Nhat Hanh erzählte: »Vor einigen Jahren zog ich mir einen Virusinfekt zu, und in meiner Lunge sammelte sich Blut an. Jedes Mal, wenn ich husten musste – und das war häufig der Fall –, war mein Taschentuch rot. Das Atmen fiel mir schwer, und beim Atmen glücklich zu sein, umso schwerer. Dank der medizinischen Behandlung heilte meine Lunge vollständig aus, und auch das Atmen geht jetzt wieder leicht. Jetzt ist meine Aufgabe, mich bei jedem Atemzug an die Zeit zu erinnern, in der meine Lunge so krank war. Wie gut fühlt sich dann jeder einzelne an!«
Könnte es sein, dass die »Verletzung« das Leben von außen in unser Inneres holt? Es wäre natürlich optimal, wenn wir unverwundet unser wahres Selbst entdecken und unsere Richtung im Leben finden könnten. Aber wie es aussieht, scheint unsere Seele ganz genau zu wissen, wie viel Zeit wir im Leid zubringen müssen. Dass unser Leben viel größer als jede Verletzung ist, weiß unsere Seele ebenso.