Читать книгу Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat - Shiva Ryu - Страница 15
ALLES LEBENDIGE EMPFINDET SCHMERZ
ОглавлениеJeder Mensch, dem wir begegnen, hat seine Verletzungen, von denen wir nichts wissen. Gehen wir also freundlich miteinander um und fällen wir keine willkürlichen Urteile über andere. Jeder reist auf seine eigene Art durchs Leben.
In den muslimischen Kulturen in Pakistan und Teilen Indiens, deren Amtssprache Urdu ist, grüßt man sich mit »Kya haal hai?«, was so viel bedeutet wie: »Wie ist es um dein ›haal‹ bestellt?«, den »Zustand deines Herzens«. Es ist eine Frage von Mensch zu Mensch, die Frage danach, ob der andere Freude im Herzen trägt und wie lebendig seine Seele ist. Es geht nicht darum, wie viel er verdient oder wie viel beschäftigt er ist.
In einer kleinen Gasse in der nordindischen Stadt Varanasi gibt es ein Teehaus, in dem ich einen Stammplatz habe. Es ist klein und sehr bescheiden, aber weil dort ein guter Chai serviert wird, ist es sowohl bei Einheimischen als auch bei Ausländern sehr beliebt. Ein Mann betreibt es gemeinsam mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder, der ein hervorragender Maler ist und eigentlich Künstler werden wollte.
An einem Morgen saß ich auf einem der Holzstühle im hinteren Bereich des Teehauses und blätterte in der Zeitung, als ich einen Einheimischen vor der Tür stehen sah. Es war auf einen Blick zu erkennen, dass er nicht zum Teetrinken gekommen war. Er war ärmlich gekleidet und machte keinerlei Anstalten, die Stufen am Eingang hochzusteigen. Er stand einfach da und schaute in den Gastraum hinein. Er schien auch nicht betteln zu wollen.
Er stand einfach da. Die Gasse vor dem Lokal war kaum mehr als einen Meter breit, und er verstellte den Passanten und Motorrädern den Weg, aber das schien ihm nichts auszumachen. Er verharrte reglos auf seinem Platz und starrte in das Teehaus hinein. Es bestand kein Zweifel, dass die anderen Gäste, die ich fast alle kannte, ihn für geisteskrank hielten. Auch ich konnte mich dieses Gefühls kaum erwehren, obwohl ich den Mann noch nie gesehen hatte.
Über eine Woche erschien er jeden Morgen gegen acht vor der Tür, ließ sich von den Passanten hin und her schubsen – von den Kindern, die um diese Zeit zur Schule gingen, den Pilgern, die auf dem Weg zum Ganges waren, dem beleibten Ladenbesitzer, der sein Geschäft aufschließen ging und der dicken Frau, die zum Gemüsemarkt wollte. Wie angewurzelt stand er da und starrte unverwandt in den Gastraum. Er wirkte hungrig, und in seinem eigentümlich verschleierten Blick lag eine tiefe Sehnsucht.
Irgendwann konnte ich nicht anders. Ich legte meine Zeitung beiseite und sprach ihn an: »Kya haal hai!«
»Kya haal hai!«, gab er zurück.
Ich fragte ihn auf Hindi, wie sein Name sei und woher er komme. Zu meiner Überraschung antwortete er auf Englisch, was bedeutete, dass er eine einigermaßen gute Schulbildung haben musste. Er war nicht aus diesem Viertel, sondern aus einem anderen Stadtteil.
Ich bot ihm einen Chai an und fragte ihn, warum er täglich hier stünde. Mit schmutzigen Händen umfasste er das heiße Glas und deutete mit dem Kinn in den Gastraum. Ich folgte seinem Blick, sah aber nicht, was er meinte, und schaute ihn fragend an. Er deutete mit dem Finger auf die Wand gegenüber dem Eingang. Erst jetzt entdeckte ich das Bild, das dort hing.
Es war ein kleines, gerahmtes Aquarell in einem Rahmen und eigentlich nichts Besonderes. Der jüngere Bruder des Teehausbesitzers hatte es gemalt. Ich hatte es mir nie genauer angesehen, obwohl ich oft genug in dem Raum gewesen war. In zarten Blau- und Brauntönen bildete es in feinem Pinselstrich eine Frau im Sari ab, die mit beiden Armen ein Kind in die Höhe hebt und liebevoll zu ihm aufschaut. Bei der Betrachtung des Bildes füllten sich die Augen des Mannes mit Tränen. Darum hatte sein Blick so verschleiert gewirkt.
Er rührte seinen Tee kaum an. »Auch ich hatte eine Frau und ein Kind wie auf dem Bild«, sagte er leise. »Hatte.« Im Jahr zuvor waren die beiden bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der Schock war so groß, dass er seither ziellos umherwanderte. Durch Zufall entdeckte er dabei dieses Bild, und von da an kam er jeden Tag hierher und starrte es stundenlang mit Tränen in den Augen an – das Bild seiner Frau, wie sie ihrer beider Kind in die Luft hebt und liebevoll zu ihm aufschaut …
Alles Lebendige empfindet Schmerz. Es heißt, Leid würde zum Heilmittel, sobald es eine bestimmte Grenze übersteigt. Wo verläuft diese Grenze? Vielleicht glauben wir nicht an die Existenz Gottes und stützen uns trotzdem auf ihn?
Ein Jahr verging, bis ich das nächste Mal nach Varanasi kam. Jedes Mal, wenn ich im Teehaus war, hielt ich nach dem Mann Ausschau, aber er kam nicht. Nach einigen Tagen fragte ich den Wirt und seinen Bruder und auch die Gäste nach ihm, aber keiner konnte mir Auskunft geben. Nur das Bild hing wie immer an der Wand.
Im Lieblingslied meines indischen Freunds Sansai gibt es eine Zeile, die lautet: »Duniya me kitna gham hai, mera gham kitna kam hai.« – »Wie zahlreich sind die Schmerzen in der Welt, wie klein ist mein eigener Schmerz.« Erfährt man vom Leid anderer, kommt einem das eigene plötzlich ganz klein vor.
Demeter, in der griechischen Mythologie die Göttin des Getreides, war außerstande, ihr Werk zu tun und das Korn wachsen zu lassen. Hades, der Gott der Unterwelt, hatte ihre Tochter Persephone entführt, und sie konnte nicht aufhören zu weinen. Auf der ganzen Erde herrschte deshalb Dürre. Auch Gott Rama in der indischen Mythologie weinte bitterlich, nachdem seine Frau entführt worden war. Erkennen wir, dass niemand auf der Welt frei von Schmerz und Leid ist, nicht einmal die Götter, können wir auf Glück und Unglück so maßvoll reagieren, dass nicht unser ganzes Leben aus den Fugen gerät. Andernfalls wären wir wie ein Baum, der noch bebt, nachdem sich der Taifun längst verzogen hat.
Rein äußerlich wirkt jeder unbeschwert, bis wir erfahren, was ihm im Leben widerfahren ist. Hierzu eine Fabel aus dem Sufismus.
Ein Mann betete jede Nacht zu Gott: »Erfülle mir bitte einen einzigen Wunsch. Ich bin der unglücklichste Mensch auf der Welt. Jeder hat ein besseres Leben als ich. Ich wünsche mir keinen Segen, ich will mein Leben mit dem eines anderen tauschen! Ist das etwa zu viel verlangt?«
Nacht für Nacht schrie der Mann diese Worte hinaus, sodass Gott keinen Frieden finden konnte. Eines späten Abends schließlich sprach eine donnernde Stimme vom Himmel herab zu den Menschen: »Schlagt alles, was ihr je an Unglück erlebt habt, in ein Tuch und tragt es in den Hof des Tempels.«
Aus dem Schlaf gerissen, fingen die Menschen an, all ihre leidvollen Erfahrungen in ein Tuch zu schnüren.
»Endlich bekomme ich Gelegenheit, mir ein anderes Leben auszusuchen!«, dachte der Mann, als er sich sein Bündel schnappte, und eilte frohen Herzens zum Tempel. Unterwegs begegnete er anderen, die auch ihre Bündel trugen, bloß waren die viel größer als seins. Es gab Leute, die er nur lächelnd kannte und die gut gekleidet waren – und nun mussten sie sich ihr Bündel über die Schulter werfen, um es überhaupt tragen zu können. Je näher der Mann dem Tempel kam, desto beunruhigter war er. Am liebsten wäre er nach Hause gegangen! Zögernd betrat er den Tempel, schließlich war er es gewesen, der sein Leben lang um diesen Moment gefleht hatte.
»Schnürt eure Bündel auf«, kam dröhnend der Befehl von oben.
Alle gehorchten, und wieder kam die Stimme: »Nun schaut euch genau an, was die anderen in ihrem Bündel haben, und dann wählt die Last aus, die ihr behalten wollt.«
Und nun geschah etwas Erstaunliches. Zunächst liefen alle durcheinander und schauten sich das Leid und die Schmerzen der anderen an, aber kaum hatten sie es gesehen, rannten sie zu ihrem eigenen Bündel zurück und hielten es fest. Dem Mann erging es ebenso. Wie schnell griff er nach seinem eigenen Bündel aus Angst, dass es ihm ein anderer wegschnappen könnte! Welch großes Leid ihm im Leben eines anderen beschieden würde, wusste er nicht, aber an sein eigenes Unglück hatte er sich gewöhnt. Sein Klagegebet war ein für alle Mal verstummt.