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EIN MANTRA FÜRS LEBEN

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»Das schmeckt lecker, das schmeckt lecker!« So lautete der Zauberspruch, den eine Bekannte jedes Mal aufsagte, bevor sie zu essen begann. Sie tat es mit einem leisen Lächeln und einer Ernsthaftigkeit, als würde sie Masala über das Gericht streuen, um es geschmacklich aufzuwerten. Angeblich sprach sie ihre Beschwörungsformel auch zu Hause während des Kochens.

»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass schlechtes Essen besser wird, nur weil du diesen Spruch aufsagst?«, fragte ich.

»Na klar wird es lecker! Das ist ein starkes Mantra!«, erwiderte sie.

Irgendwann war es so weit, und sie hatte mich angesteckt. »Ihr seid die allerschönsten goldenen Süßkartoffeln, ihr seid die allerschönsten goldenen Süßkartoffeln!«, murmele ich seither bei der Zubereitung ganz normaler Knollen. Und ich habe das Gefühl, dass es tatsächlich wirkt. Natürlich handelt es sich um eine Art Selbsthypnose, aber es wäre unklug, das Ganze deshalb von der Hand zu weisen. Es ist erwiesen, dass Geschmack nicht im Essen selbst, sondern im Gehirn seinen Ursprung hat. Honig etwa schmeckt gar nicht süß, unser Gehirn gaukelt es uns nur vor. Es handelt sich um eine Art Überlebensstrategie. Selbsthypnose spielt bei der Geschmackswahrnehmung eine große Rolle.

Meine Bekannte ist mittlerweile nach Neuseeland ausgewandert, aber ich kann mir bildlich vorstellen, wie sie auf der Nordinsel über irgendeinem fremdartigen Gericht ihren Zauberspruch murmelt: »Das ist lecker!« Der ganze Teller wird zu strahlen beginnen, und alles, was darauf liegt, wird köstlich sein …

Mantra ist ein Begriff aus dem Sanskrit und leitet sich ab von manas = »Geist« und tram = »Instrument«, lässt sich also mit »Instrument des Geistes« übersetzen. Bei der Arbeit mit Mantren wird durch ständiges Wiederholen einer Silbe, eines Wortes oder eines Satzes eine starke Schwingung erzeugt, bis der darin enthaltene Gedanke eine übermächtige, ja fast übernatürliche Kraft bekommt.

Vor zehn Jahren stand Renata, eine polnische Freundin, plötzlich vor mehreren gravierenden Herausforderungen, die alle zur gleichen Zeit zu meistern waren. Zum einen sah sie sich gezwungen, ihre Stelle als Professorin zu kündigen, weil sie den Neid und die Feindseligkeiten ihrer Kollegen nicht länger ertragen konnte; dann verschlimmerte sich ihr angeborener Herzfehler derart, dass sie sich einer umfangreichen Untersuchung unterziehen musste. Außerdem hatte sie eine wichtige Entscheidung zu treffen, um ihr aus den Bahnen geratenes Leben wieder auf Spur zu bringen, bevor es zu spät war.

»Wszystko będzie dobrze!«, sagte sie bei jeder Gelegenheit – polnisch für »Alles wird gut!« Dieses Mantra gab ihr Halt, und irgendwann wurde es wahr. Sie wurde von einer anderen Universität zur Professorin berufen, und die Konditionen waren sogar noch besser als bei ihrer alten Stelle. Mit den Resultaten ihrer Herzuntersuchung konnte sie zufrieden sein, und dank der wichtigen Entscheidung, zu der sie sich durchgerungen hatte, konnte sie endlich das neue Leben beginnen, von dem sie vorher nur geträumt hatte. Sie beherzigte den Spruch, den sie irgendwann an der Wand eines Meditationszentrums gelesen hatte: »Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat.«

Vor langer Zeit habe ich Ähnliches erlebt. Es war während eines Aufenthaltes in einem Aschram in Indien, und ich befand mich in einem Zustand des extremen inneren Aufruhrs. Mitten während der Meditation stürmte ich plötzlich aus dem Raum, lief halb nackt durch die Gegend oder fuhr mit dem Zug dreißig Stunden bis ans Ende des Kontinents und wieder zurück. Weil ich nichts aß, war ich bis auf die Knochen abgemagert. Ich stand buchstäblich am Rand des Wahnsinns. Bei jedem neuerlichen Anfall sagte mir eine Freundin, die ich im Aschram kennengelernt hatte: »Es ist alles in Ordnung. Lass deine Gedanken los.«

Als ich nach der verrückten Bahnfahrt zu ihr kam, führte sie mich in ein Restaurant in der Nähe, gab mir zu essen und sagte: »Es ist alles in Ordnung. Lass alles los.« Dabei muss ich körperlich und geistig wie ein Gespenst gewirkt haben.

Nicht ich, sondern meine Seele war hungrig. »Es ist alles in Ordnung.« Wahrscheinlich ging ich nur zu ihr, um diesen Satz zu hören. Sie gab mir damit zu verstehen, dass meine Gedanken wieder einmal einen Sturm im Wasserglas entfacht hatten. Es sei nichts dran an der Sache! Ich würde es mit der Zeit selbst merken.

»Es ist alles in Ordnung« war für diese Frau kein aus der Luft gegriffener Satz. Es war Lebenserfahrung, die da aus ihr sprach: Sie hatte den falschen Mann geheiratet und in ihrem Leid versucht, sich das Leben zu nehmen, weswegen sie aus einem fahrenden Zug gesprungen war. Und noch dazu hatte sie ihr geliebtes Kind verloren. Unzählige Stromschnellen hatten sie endlich in das Meer von »Es ist alles in Ordnung« gespült. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, taucht in meiner Erinnerung unter den vielen spirituell Suchenden aus allen Ecken der Welt, denen ich im Aschram begegnet bin, ihr friedlich strahlendes Gesicht auf. Sie brachte dem Märchenhelden, der im Turm eingesperrt war, das magische Wort, das ihn befreite.

Auch wenn wir es selbst oft nicht merken – jeder von uns hat sein eigenes Mantra, das mit seinen Schwingungen ganz bestimmte Hologramme bildet, aus denen wir uns unser Leben erschaffen. Es genügt, uns im Inneren gewohnheitsmäßig und unbewusst ein Wort beziehungsweise einen Satz vorzubeten, und schon wird daraus eine Mantra-Meditation.

In Kalkutta lernte ich einen Touristen kennen, der in jedem Satz das Wort »furchtbar« verwendete. Er schien an allen Orten, an denen er gewesen war, fortwährend »Furchtbares« erlebt zu haben. Er war mit einem »furchtbaren Nachtzug« gefahren, hatte in einem »furchtbaren Hotel« übernachtet und ein »furchtbares Lassi« (einen Trinkjoghurt) getrunken. Er trat sogar in einen »furchtbaren Kuhfladen« und sah in einem Hindutempel einen »Gott mit furchtbarer Fratze«. Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, machte er zudem permanent ein »furchtbares Gesicht«. Tags darauf sah ich ihn in einem Straßencafé sitzen und mit ziemlich unzufriedener Miene einen Chai-Tee trinken. Zwischen ihm und der Welt stand eine hohe Mauer. Ich hoffte, seine Reise würde für ihn nicht auf diese Weise enden.

Ein Weiser machte auf der Durchreise Station in einem Dorf. Eine Frau aus dem Ort hatte von seiner Anwesenheit erfahren und ging zu ihm, um ihn zu bitten, ihrem kranken Kind zu helfen. Er folgte ihr, und als sie bei ihrem Haus ankamen, strömten viele Leute herbei. Der Weise legte seine Hand auf die Stirn des kranken Kindes und begann zu beten.

»Wenn dem Kind nicht einmal die Medikamente helfen, die der Arzt verordnet hat, wie soll dein Gebet dann etwas bewirken?«, rief ein Mann aus der versammelten Menge.

»Du hast ja keine Ahnung vom Beten! Du bist ein solcher Idiot!«, schrie der Weise.

Der solchermaßen Beschimpfte lief vor Wut rot an und stieß die wüstesten Flüche gegen den Weisen aus. Der aber lächelte und sagte: »Guter Mann, wenn meine Worte dich dermaßen aufregen können, vielleicht können dann auch die Worte meines Gebets eine heilende Kraft entfalten.«

So heilte der Weise an jenem Tag zwei Menschen.

»Wähle die Worte, die du denkst, mit Bedacht«, lautet ein kluger Spruch. Denn auch wenn andere sie nicht hören, wir hören sie selbst. Ein Wort kann uns im Inneren zersetzen, während ein anderes wie ein Samenkorn in eine Ackerfurche fällt und in uns die Hoffnung und den Lebensmut aufkeimen lässt. Ob Zersetzung oder Wachstum, ob schädlich oder nützlich – beide Prozesse brauchen ihre Zeit, aber welcher sich vollzieht, hängt von den Mikroorganismen ab, die wir zum Einsatz bringen.

»Ich will mit euch tun, wie ihr vor meinen Ohren gesagt habt«, ist mehr als bloß ein Bibelspruch. Wie uns eine Maske aufs Gesicht drückt, so prägen sich uns die negativen Stimmen in unserem Inneren ein, wenn wir sie unbewusst wiederholen. Andrew Newberg weist in seinem Buch Die Kraft der Mitfühlenden Kommunikation. Wie Worte unser Leben ändern können darauf hin, dass sich schon ein einziges Wort auf den Ausdruck der Gene auswirken kann, die für unseren Umgang mit physischem und emotionalem Stress zuständig sind. Es genügt, Worte wie »Liebe« oder »Frieden« auszusprechen, um funktionale Änderungen im Gehirn zu bewirken.

Pu der Bär fragt in dem gleichnamigen Kinderbuch seinen besten Freund Ferkel: »Welcher Tag ist heute?«, und er antwortet selbst: »Heute ist mein Lieblingstag.« Ein von Pu oft und gern gebrauchter Zauberspruch.

Mein Mantra heißt: »Atme!« Wenn ich unruhig bin oder merke, wie meine Emotionen hochkochen; wenn ich mich ärgere oder spüre, wie sich meine Gedanken auf sinnlose Achterbahnfahrt begeben, sage ich zu mir: »Atme!«, und ich hole tief Luft. Und sogleich habe ich meine Emotionen unter Kontrolle, werde ruhig und komme ganz ins Hier und Jetzt.

Wie lautet Ihr persönlicher Zauberspruch? Spiegelt sich in seiner Wortwahl der Reifungsprozess der Bejahung wider?

Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat

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