Читать книгу Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat - Shiva Ryu - Страница 14

GOTT SCHREIBT MIT GESCHWUNGENER SCHRIFT EINE GERADE BOTSCHAFT

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Ein Bettelmönch ging mit seinem Schüler auf Wanderschaft. Bei Einbruch der Dämmerung gelangten sie auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht zu einer halb verfallenen, strohgedeckten Hütte, die einsam an einem Abgrund stand. Dort lebte ein Ehepaar mit seinen drei Kindern. Um die Hütte herum wuchsen weder Baum noch Strauch. Kein Weizen wogte auf den Feldern. Nur eine abgemagerte Kuh war in der Nähe angebunden.

Als der Mönch und sein Schüler um ein Nachtlager anfragten, hieß der Vater der Familie sie freundlich willkommen, und man tischte ihnen Käse und einen aus frischer Milch zubereiteten Brei auf, eine Großzügigkeit, die die Gäste angesichts der Armut, in der diese Leute lebten, tief berührte.

Nach dem Essen fragte der Mönch, wie die Familie in dieser Ödnis so weit entfernt von Stadt und Dorf überhaupt zurechtkommen konnte. Es gab ja keinen Acker weit und breit!

Die Frau warf ihrem Mann einen müden Blick zu und antwortete resigniert: »Unser einziger Besitz ist eine alte Kuh, deren Milch wir entweder trinken oder mit der wir Käse herstellen. Bleibt etwas davon übrig, bringen wir sie ins Dorf und tauschen sie gegen andere Lebensmittel. So halten wir uns über Wasser.«

Am nächsten Morgen bedankten sich der Mönch und sein Schüler für die Gastfreundschaft und machten sich auf den Weg.

»Geh zurück und stoß die Kuh von der Klippe«, sagte der Mönch zu seinem Schüler, kaum waren sie zur ersten Wegbiegung gelangt.

Der Schüler traute seinen Ohren nicht. »Diese Familie lebt doch allein von dieser Kuh. Ohne sie würden sie alle verhungern.«

»Geh schnell zurück und tu, was ich dir sage«, beharrte der Mönch.

Schweren Herzens schlich sich der junge Mönch zu der Hütte zurück. Er fürchtete um das Wohl der Familie, doch andererseits hatte er ein Gelübde abgelegt, das ihn zu bedingungslosem Gehorsam gegenüber seinem weisen Lehrer verpflichtete. Ihm blieb also ihm keine andere Wahl – er stieß die Kuh von der Klippe.

Jahre gingen ins Land, und irgendwann kam der junge Mönch, diesmal alleine, wieder in dieselbe Gegend. Er bereute seine Tat noch immer, und so beschloss er, zu der Familie zu gehen und sich zu entschuldigen.

Als er um die Biegung am Fuß des Berges kam, blieb er staunend stehen. Dort, wo damals die halb verfallene Strohhütte gestanden hatte, war jetzt ein schönes Haus, mit einem Gemüsefeld daneben und einem Blumenbeet davor, und beide wurden offensichtlich liebevoll gepflegt. Es war auf einen Blick zu sehen, dass Wohlstand und Glück an diesem Ort Einzug gehalten hatten.

Der Mönch klopfte an die Tür, und ein Mann öffnete ihm. Er war zwar einfach, aber ordentlich gekleidet.

»Wissen Sie, was aus der Familie geworden ist, die hier früher einmal gewohnt hat? Haben Sie den Leuten das Haus abgekauft, weil sie kurz vor dem Verhungern waren?«, fragte er.

Der Mann schaute ihn fragend an. »Ich habe doch mein ganzes Leben hier gelebt«, sagte er.

Da sagte ihm der Mönch, dass er vor Jahren mit seinem Lehrer eine Nacht hier verbracht habe, und wieder fragte er: »Was ist mit der Familie danach geschehen?«

Daraufhin lud der Mann den Mönch ein, abermals eine Nacht bei ihm zu verbringen. Er tischte ihm ein Essen auf, und als hätte er auf diese Gelegenheit gewartet, fing er zu erzählen an.

»Alles, was wir damals besaßen, war eine abgemagerte Kuh. Sie bewahrte uns vor dem Hungertod, und wir sahen keine Möglichkeit, uns aus der Not zu befreien. Eines Tages aber stürzte sie von der Klippe und starb. Nun mussten wir etwas tun, wenn wir überleben wollten. Wir lernten, wie man einen Acker bestellt, und wir pflanzten Kräuter und setzten Bäume auf dem brachliegenden Feld. Wir mussten ja irgendeinen Weg finden, und wir fanden ihn auch. Letztlich erwies sich der Verlust der Kuh für uns als ein großes Glück. Unser Leben ist so viel besser und sinnvoller geworden.«

Einen Moment lang schloss der Mönch die Augen. Sein Lehrer hatte es gewusst! Er hatte erkannt, dass wir unser altes Leben nur dann hinter uns lassen können, wenn die erbärmlichen Abhängigkeiten beseitigt sind, die uns hindern, Neues zu wagen und uns auf Abenteuer einzulassen.

Solange wir uns an Sicherheiten klammern, stößt uns das Leben eine Klippe hinab. Reißt uns eine Woge des Schicksals zu Boden, ist es an der Zeit, ein neues Leben anzufangen. Verlust und Abschied haben immer einen Sinn. Gott schreibt mit geschwungener Schrift eine gerade Botschaft.

Welche Kuh habe ich, die ich von der Klippe stoßen sollte? Wie heißt sie? Wovon bin ich abhängig? Was ist so bequem und vertraut, dass es mich festhält und hindert, im Leben voranzuschreiten? Uns diese Fragen zu stellen ist Teil der Lebenskunst. Wir müssen uns von unserer Kuh trennen, um unseren Horizont zu weiten und uns zu befreien.

Um es mit der buddhistischen Weisheitslehrerin Pema Chödrön zu sagen: »Bauen wir auf Sicherheit und Gewissheit, haben wir uns den falschen Planeten ausgesucht.«

Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat

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