Читать книгу Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat - Shiva Ryu - Страница 11
HÄNG DIE SACHE NICHT SO HOCH AUF!
ОглавлениеAuf einer Reise durch die indische Provinz Ladakh gelangte ein Mann in die Stadt Leh. Sie ist auf 3500 m Höhe gelegen. Als er in der Herberge, in die er sich einquartierte, einen Mann mit einem mobilen Sauerstoffgerät und Atemmaske daliegen sah, war dies seine erste Begegnung mit der Höhenkrankheit, die er bis dahin nur vom Hörensagen kannte. Sein Zimmer befand sich im zweiten Stock, und selbst das Treppensteigen vom Erdgeschoss hinauf fiel ihm schwer. Schon bald stellten sich Kopfschmerzen und Schwindel ein. Nach dem Abendessen verschlimmerte sich sein Zustand, und es ging ihm richtig schlecht.
Der Wirt versicherte ihm, dass er sich bloß einen Tag schonen solle, und schon würde es ihm besser gehen. Aber je länger er sich in dieser Höhe aufhielt, desto stärker wurden seine Kopfschmerzen und desto mehr raste sein Puls. Das Sauerstoffgerät, das er für viel Geld auslieh, schien keine nennenswerte Besserung zu bringen. Seine Angst vor der Höhenkrankheit wurde Stunde um Stunde größer. Am dritten Tag ließ er einen Arzt rufen. Der stellte nach eingehender Untersuchung und Überprüfung des Blutsauerstoffs fest, dass er an einem einfachen Verdauungsproblem litt und verordnete diverse Medikamente. Seine Angst aber wurde der Mann nicht los.
So kam es, dass er die ganze Woche, die er eigentlich hatte herumreisen wollen, sein Zimmer nicht verließ und im Bett lag und am Ende mit dem Flugzeug ins Tal zurücktransportiert wurde. Erst später, so erzählte er mir, habe er von anderen Reisenden erfahren, dass seine Symptome nicht wirklich schlimm gewesen seien. Alle hätten sie gehabt. Im Nachhinein habe er begriffen, wie dumm er gewesen war. Er hatte sich sein Problem nur eigeredet.
Wir alle wissen um die Neigung der menschlichen Psyche, uns in einen Zustand innerer Aufruhr zu versetzen, indem sie in das äußere Geschehen viel zu viel hineininterpretiert. Was für eine Zeit- und Energieverschwendung! Stellen Sie sich vor, man würde Ihnen sagen: »Setz dich hin, schließ die Augen und denke an alles, bloß nicht an einen gelben Papageien.« Kaum hätten Sie die Lider geschlossen, wäre er da, der gelbe Papagei. Er würde sie gnadenlos verfolgen – ob Sie essen oder arbeiten, immerzu würden Sie an ihn denken. Er würde Ihnen sogar noch nachts im Traum erscheinen! Und es ist niemand anders als Sie selbst, der diesen Vogel zum Monster macht.
Es war nach Mitternacht, als ich zum ersten Mal nach Chennai in Südindien kam, und obwohl es Dezember war, goss es in Strömen. Ich nahm mir eine Motorrikscha, um ins Hotel zu fahren, jene Mischung aus Motorrad und Auto, die in Indien das Fahrzeug der armen Leute ist. Der Stoff, der die Kabine überspannte, hatte dem Regen wenig entgegenzusetzen. Schon nach hundert Metern war ich völlig durchnässt, und mein Rucksack sah aus wie aus dem Wasser gezogen.
Noch nie hatte ich innerhalb von so kurzer Zeit so viel Regen niedergehen sehen. Die Räder der Rikscha waren komplett unter Wasser, und ich konnte nicht sagen, ob wir durch Sumpf oder Pfütze fuhren, aber sie kämpfte sich tapfer voran. Der Regen prasselte mit solcher Wucht herab, dass ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, er hätte es gezielt auf uns abgesehen. Es war kaum jemand auf der Straße, aber wenn wir an jemandem vorbeikamen, konnte ich nicht sagen, ob es Mensch war oder Kuh. Der alte Fahrer schien meine Angst zu spüren, denn wie ich mich mit beiden Händen an die Streben klammerte, versicherte er mir: »Nothing special!«
Nichts Besonderes. Mach dir keine Sorgen. (In Südindien sind solche Wolkenbrüche selbst im Dezember keine Seltenheit, denn die Regenzeit dauert dort sehr lange.) Durch die Worte des Rikschafahrers verschob sich mein Blickwinkel, und der Gedankenschlacht in meinem Kopf ging augenblicklich die Luft aus. Auf einmal dachte ich: »Ich bin doch auf Reisen! Wo, wenn nicht hier, in einem subtropischen Land, soll ich einen solchen Regenguss erleben?« Im Hotel angekommen, breitete ich meine nasse Kleidung und alle Habseligkeiten aus meinem Rucksack im Zimmer aus. Dann legte ich mich ins Bett. Als ich am nächsten Morgen aufwachte und das Fenster öffnete, schaute ich in einen wolkenlosen Himmel, und unten auf der Straße holperte ein mit frischen Bananen voll beladener Karren vorbei.
Befreien wir uns von unseren zwanghaften Gedanken, öffnen sich Geist und Herz. Wir neigen dazu, vorübergehenden Problemen zu viel Macht zu geben, und während wir gegen sie ankämpfen, finden wir keine ruhige Minute, um das Schöne im Leben zu genießen. Unter dem Zwang unserer Gedanken lassen wir uns von einem einzelnen Ereignis völlig in Beschlag nehmen. Wenn wir es zulassen, wachsen die Themen, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben, zu wahren Monstern heran – zu Monstern, die uns noch weiter von den eigentlich wichtigen Dingen entfernen. Das Herz öffnen, annehmen – das ist der Schlüssel zu einem spirituellen Leben.
Neulich traf ich mich mit einem indischen Freund, der nach Korea gekommen war. Wir tranken Tee, und er erzählte mir von seinem Onkel Patak, den ich auch kenne. Der Mann hatte einen akuten Blutsturz erlitten und brauchte dringend eine Bluttransfusion. Da er eine seltene Blutgruppe hat, war es schwierig, den passenden Spender zu finden, doch zum Glück gelang es noch rechtzeitig. Die Transfusion verlief reibungslos, Patak wurde gesund, und er konnte ganz normal weiterleben.
Einen Monat später allerdings trat ein neues Problem auf. Patak war orthodoxer Hindu, und plötzlich bekam er Bedenken. »Wer war der Blutspender? Stammt er aus einer oberen Kaste wie ich oder aus einer niederen? Was, wenn es ein Unberührbarer ist? Wenn er Muslim ist? Oder vielleicht sogar Verbrecher?«
Patak grübelte so sehr über das fremde Blut, das nun in seinen Adern floss, dass sein Puls zu rasen begann und es ihm ständig den kalten Schweiß aus den Poren trieb. Dass der Arzt ihm versichert hatte, es gäbe keinerlei Komplikationen wegen des gespendeten Bluts, vergaß er völlig. Irgendwann war er mit den Nerven derart am Ende, dass er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben musste. Doch nichts half ihm. Er war fest davon überzeugt, dass seine Anfälle von Herzrasen, seine innere Unruhe und Müdigkeit auf die DNA und das Hämoglobin des unbekannten Blutspenders zurückzuführen seien. Wütend rief er bei allen möglichen Behörden an und forderte den Erlass eines Gesetzes, das es den Angehörigen niederer Kasten verbietet, Blut an Angehörige höherer Kasten zu spenden.
Es war nicht damit zu rechnen, dass Patak je wieder ein normales Leben führen könnte. Die Erleichterung, eine lebensbedrohliche Krankheit überstanden zu haben, war längst vergessen. Der Mann wirkte mit aller Kraft darauf hin, seine Situation zu verschlimmern. Die Welt reagierte darauf, indem sie ihm weitere Probleme auflud. Und so kam es, dass er, der Meister im Problem-Erschaffen, die Chance vergeudete, etwas aus dem neuen Leben zu machen, das ihm geschenkt worden war.
Da fällt mir die folgende Fabel ein.
»Weißt du, wie schwer eine Schneeflocke ist«, fragte eine Tannenmeise eine Wildtaube.
»Sie wiegt fast gar nichts«, antwortete diese.
»Dann erzähle ich dir eine unglaubliche Geschichte«, sagte die Tannenmeise. »Ich saß auf einem der unteren Zweige einer Tanne, als es zu schneien anfing – nicht sehr viel, und es ging auch kein Wind. Es schneite leise wie im Traum. Ich hatte nichts anderes zu tun, und so begann ich, die Schneeflocken zu zählen, die auf meinen Zweig fielen. Genau 3.741.952 Schneeflocken hatte ich gezählt, als die nächste vom Himmel schwebte, die ja deiner Meinung nach so gut wie gar nichts wiegt. Aber als sie landete, brach der Zweig.«
Wie viele Schneeflocken häufen sich gerade in meinem Geist an? Es gibt nichts, was uns leichter zu Fall bringen könnte als unsere eigenen Gedanken. Kaum hat der Kopf eine Lösung gefunden, schafft er sich tausend neue Probleme. In diesem Sinne verfügen wir alle über die Fantasie von Geschichtenerzählern. Hören wir auf, in Gedanken Krieg gegen uns selbst zu führen, tut sich plötzlich eine völlig neue Welt vor uns auf.
Bei einer Frau wurde Krebs im Endstadium diagnostiziert. Sie reagierte schockiert und verfiel in Depressionen. Als ihr spiritueller Lehrer sie besuchte, bat sie ihn um Rat.
»Häng die Sache nicht so hoch auf«, sagte der.
Dass sie an Krebs erkrankt war, sei schlimm genug, aber sie solle dieser unglücklichen Tatsache nicht noch mehr Gewicht verleihen, indem sie sich quälte. Die Frau, die schon immer ein spirituelles Leben geführt hatte, begriff den Sinn seines Rates und fand in ihre innere Balance zurück. Sie erkannte auch, dass der Krebs nur ein Teil von ihr war und nicht das Ganze. Sehr zum Erstaunen der Menschen in ihrem Umfeld wurde sie plötzlich viel aktiver, denn die Energie, die sie bis dahin zum Ankämpfen gegen die Angst aufgewandt hatte, stand ihr nun an Lebenskraft zur Verfügung. Statt ihre Gedanken um den Krebs kreisen zu lassen, konnte sie sich jetzt ihrer Heilung widmen. Versöhnen wir uns mit unserem Problem und nehmen wir es an, schrumpft es, während wir wachsen. In Wahrheit nämlich sind wir viel größer als unsere Probleme.
»Häng die Sache nicht so hoch auf!« Diesen Satz sollten wir beherzigen, ganz gleich, ob diese »Sache« für uns Glück oder Unglück bedeutet.
Trotzdem sollten wir diesen Rat nicht unbesehen weitergeben. Man würde uns höchstwahrscheinlich davonjagen oder die Freundschaft aufkündigen, würden wir den Satz einem Menschen sagen, der nach einem großen Erfolg überglücklich ist; der gerade einen ungerechten Verlust erlitten hat oder im Krankenbett liegt. Genau genommen sollten wir ihn keinem anderen sagen, sondern uns selbst. Dann macht er wirklich Sinn.