Читать книгу Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat - Shiva Ryu - Страница 18
WARUM GIBST DU MIR NUR DAS?
ОглавлениеEin Mann begab sich auf eine Wanderung durch die algerische Wüste, und er verlief sich. Obwohl er die Himmelsrichtungen nicht mehr auseinanderhalten konnte, nahm er alle Kraft zusammen, um weiterzulaufen. Er musste Wasser und etwas Essbares finden! Unter der sengenden Sonne irrte er mehrere Tage umher, bis er schließlich in der Ferne ein Zelt entdeckte. Mit zitternden Knien schleppte er sich mühsam näher, und als er endlich dort angelangt war, flehte er um Wasser und etwas zu essen.
Der Schafhirte, der vor das Zelt getreten war, trug die traditionelle Kleidung und den Turban der Beduinen.
»Ich bedauere. Wasser und Nahrung kann ich dir nicht geben. Aber eine Krawatte kannst du haben.«
»Ich bin am Verdursten und Verhungern, und du willst mir eine Krawatte geben? In der Wüste?« Der verirrte Wanderer traute seinen Ohren kaum.
»Diese Krawatte ist alles, was ich dir geben kann. Ich selbst habe weder Wasser noch Nahrung, aber ich weiß, wo man dir helfen kann. Der Ort liegt nur zwei Kilometer entfernt von hier, aber um dort Wasser und Nahrung zu bekommen, brauchst du diese Krawatte«, erwiderte der Schafhirte höflich.
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«, schrie der Wanderer wütend. »Was soll das heißen – eine Krawatte? Mann, ich bin kurz vor dem Verhungern und Verdursten!«
Er schleuderte die Krawatte auf den Boden und schleppte sich mit letzter Kraft die zwei Kilometer bis zum nächsten Zelt. Dort angekommen, flehte er wieder: »Gebt mir Wasser und etwas zu essen.«
Auch dieses Mal trat ein Beduine aus dem Zelt. Allerdings trug er nicht die typische Tracht der Einheimischen, sondern einen westlichen schwarzen Anzug, darunter ein weißes, frisch gebügeltes Hemd und eine schwarze Fliege. Der Wanderer starrte ihn überrascht an.
»Ohne Krawatte darf hier keiner rein«, sagte der Mann im Anzug.
»Ich bin am Verdursten und Verhungern. Wenn Sie mir nicht helfen, werde ich sterben.«
»Ohne Krawatte kann ich leider nichts für Sie tun. So lautet nun einmal die Regel hier in meinem Zelt. Ich habe allen Schafhirten im Umkreis von zwei Kilometern die Anweisung erteilt, jedem Wanderer, der wie Sie halb verdurstet und verhungert durch die Gegend irrt, eine Krawatte zu geben, bevor sie ihn zu mir schicken. Hätten Sie die Krawatte angenommen, die Ihnen mein Nachbar geben wollte, hätte ich Sie längst hereingebeten. Haben Sie aber nicht, und darum gibt es jetzt nichts. Daran ist nicht zu rütteln.«
Wir wollen stets auf möglichst direktem Weg ans Ziel, doch wenn da keine Zwischenstationen wären – wie könnte sich uns die ganze Schönheit des Weges erschließen? Jeder Künstler muss unzählige Werke erschaffen, um in seinem Fach ernst genommen zu werden, so wie jeder Vogel zunächst unbeholfen mit den Flügeln flattert, bevor er sich irgendwann elegant in die Lüfte erhebt.
Mit Anfang zwanzig war ich einmal in Busan, einer Hafenstadt im Süden Koreas. Die Nächte verbrachte ich im Park oder auf dem Platz vor dem Bahnhof, aber weil ich auch essen musste, brauchte ich einen Job. Als ich an einem Strommast einen Zettel mit einem passend erscheinenden Angebot entdeckte, machte ich mich auf den Weg zu der angegebenen Adresse. Es handelte sich um ein Geschäft für Mottenkugeln. Meine Arbeit bestand darin, mit einer bis zum Rand mit Ware gefüllten Umhängetasche von Haus zu Haus zu gehen und das giftige Zeug zu verkaufen.
Der penetrante Gestank bereitete mir große Probleme. Schon als Kind verfügte ich über einen derart sensiblen Geruchssinn, dass ich allein vom Geruch roher Sardinen einen Krampfanfall bekommen hatte. Es stand zu befürchten, dass ich vom Gestank der Mottenkugeln eher den Geist aufgeben würde als die Motten. Ich hatte kaum mehr als ein paar Tüten verkauft, als ich beschloss, mir eine andere Arbeit zu suchen. Wann immer ich Mottenkugeln rieche, sehe ich mich noch heute halb betäubt von dem üblen Geruch durch die Gassen von Busan wanken.
Als nächstes heuerte ich als Eisverkäufer an. Es gehörte mit zur Jobbeschreibung, einen bunten Partyhut zu tragen. Sie können sich unschwer ausmalen, wie ich mich fühlte, als ich, der langhaarige Literaturstudent, mit dieser lächerlichen Kopfbedeckung an meinem Stand im Stadtzentrum stand und mich ein ortsansässiger Literat im Vorübergehen erkannte …
Etwas Gutes hatte das Ganze: Ich durfte auf dem Rasen neben dem kleinen Blumenbeet vor dem Bahnhof mein Nachtlager aufschlagen. Dieses Privileg hatte ich einem Polizisten zu verdanken, der ein Auge zudrückte, nachdem sich bei einer Routinekontrolle am Bahnhof Busanjin herausstellte, dass wir beide dieselbe Uni besucht hatten. Er hielt mir auch die anderen Obdachlosen vom Hals, damit ich in Ruhe schreiben konnte – bloß die Verzweiflung bannte er nicht, die mich jedes Mal befiel, wenn ich die Ratten auf dem Rasen heranschleichen sah.
»Wer ist Gott, und warum ist er so unbarmherzig zu mir? Auf welcher Seite des Schicksalbuchs steht geschrieben, dass ich dies alles erleiden muss? Hat etwa jemand die restlichen Seiten herausgerissen, sodass mein Leben genauso endet?« Das waren die Fragen, die ich mir damals stellte.
Der persische Dichter Rumi schrieb:
Die Welt ist voller Schwierigkeiten.
Durchschreite sie geduldig,
und du wirst einen großen Schatz finden.
Dein Haus ist klein, schau hinein
und es offenbart dir die Geheimnisse der unsichtbaren Welt.
Ich fragte:
»Warum gibst du mir nur das?«
Eine Stimme antwortete:
»Weil nur das dich zu dem führt, was du haben willst.«
Wir rufen Gott und dem Leben zu: »Warum gibst Du mir nur das?« Und eine Stimme aus dem Off antwortet leise: »Weil nur das dich zu dem führt, was du haben willst.« Hören wir ihr Flüstern nicht, vergeuden wir unsere Zeit damit, im Inneren unsinnige Streitgespräche mit der Welt zu führen.
An einem regnerischen Tag wollte ein junger Mann aus Los Angeles nach San Francisco trampen. Er stand viele Stunden in der Nässe am Straßenrand, aber alle Autos, die vorbeikamen, fuhren in die andere Richtung. Schließlich betete er zu Gott: »Lieber Gott, hilf mir bitte, nach San Francisco zu kommen!«