Читать книгу Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat - Shiva Ryu - Страница 9
DER NARR, DER SICH IN DEN REGEN STELLT
ОглавлениеIch war im letzten Semester meines Studiums, als ein Freund mir von einer sehr günstigen Unterkunft in der Siedlung einer Glaubensgemeinde am Rand der Provinz Gyeonggi erzählte. Ich mietete sie unbesehen. Es war eine sehr kleine Einzimmerwohnung in einem heruntergekommenen Reihenhaus, aber die Sonne schien angenehm herein, und ich konnte die Tür abschließen und für mich allein sein. Zudem gab es unweit von dort eine Allee, die zu einem Fluss hinunterführte, was für mich als Literaturstudenten wie ein Geschenk des Himmels war. Nachts schrieb ich Gedichte und untertags unternahm ich Spaziergänge in die Umgebung, statt die Vorlesungen an der Uni zu besuchen.
Mein Glück war leider nicht von Dauer. Bei den Nachbarn erregte ich Misstrauen. Für sie war ich ein Fremder mit langem Haar, der selbst im Sommer in einen schwarzen Mantel gehüllt (in der Wohnung war es kalt) durch ihre geheiligten Gefilde lief und dabei wie ein Geisteskranker vor sich hin murmelte (ich rezitierte Gedichte). Eines frühen Morgens schließlich statteten mir mehrere Leute ohne jegliche Vorankündigung einen Besuch ab. Sie traten ein, ohne sich die Schuhe auszuziehen, als ob meine Wohnung weder heilig noch unantastbar wäre, und forderten mich auf, auf der Stelle aus der Siedlung zu verschwinden.
Ich erklärte ihnen höflich, dass ich die Miete für einige Monate im Voraus bezahlt habe und daher das Recht zu bleiben hätte. Beinahe flehend fügte ich hinzu, dass ich möglichst lange hier wohnen bleiben wolle, weil mir die Gegend unbeschreiblich gut gefalle, und ich gestand, dass ich Dichter sei. Letzteres verschlimmerte die Lage ungemein. Aufgebracht, wie sie waren, verstanden meine Besucher nicht »Shiin« (Koreanisch für »Dichter«), sondern »Shin« (»Gott«). »Das ist der Teufel!«, schrien sie daraufhin. »Verschwinde von hier! Sofort!« Eine Frau deutete sogar mit dem Finger gen Himmel und schrie, ich solle den Zorn Gottes fürchten.
Das Wort Teufel traf mich wie ein Dolch ins Herz. Ich hatte während meines gesamten Studiums kaum mehr als ein paar schwer verständliche Gedichte zu Papier gebracht. Und nun musste ich die Wohnung verlassen, ohne meine im Voraus bezahlte Miete zurückzubekommen – für andere womöglich ein Taschengeld, mich aber kostete es fast mein gesamtes Vermögen. Mit verschränkten Armen standen die Leute da und ließen mich nicht aus den Augen, bis ich durch das Tor an der Einfahrt zur Siedlung verschwunden war. Sie sahen nicht mich, sie sahen den Fremden, der uneingeladen in ihrer Mitte aufgetaucht war. Dennoch fühlte ich mich wie von aller Welt verstoßen.
Aber Gott hatte mich nicht völlig vergessen. Plötzlich obdachlos und ohne die leiseste Ahnung, wo ich nun unterkommen sollte, lief ich einen Feldweg entlang. Dort begegnete ich einem Kommilitonen aus meiner Theatergruppe, der in der Nähe wohnte. Mich zu so früher Stunde mit einem Bündel Bücher und einer gefalteten Militärdecke durch die Gegend irren zu sehen, machte ihn zunächst etwas misstrauisch. So wie ich aussah, passte ich ganz und gar nicht in die herrliche Landschaft. Aber nachdem er erfahren hatte, wie es mir ergangen war, nahm er mich mit zu sich nach Hause und bot mir ein Glas Wasser mit Honig an. Die Erschöpfung war mir offenbar anzusehen. Dann fragte er bei den Nachbarn herum, ob jemand für mich eine Unterkunft habe.
Dank seiner Vermittlung gelang es mir, einen Lagerschuppen zu mieten, der mitten in einem Gemüsefeld am Flussufer stand. Ich fühlte mich dort sicher, denn zum einen war er weit genug vom Dorf entfernt, sodass ich nicht fürchten musste, erneut vertrieben zu werden, und zum anderen hatte ich einen Freund in der Nähe, der mir in einem Augenblick der Not ein Glas Wasser mit Honig reichte. Es gab nichts, worüber ich mich hätte beklagen können, außer dass es in der Hütte keinen Strom gab und ich mich mit Kerzenlicht begnügen musste. Nachts schaute ich dem Spiel der Flamme zu oder schrieb Gedichte, und am Tag unternahm ich lange Spaziergänge, auf denen ich Werke von Arthur Rimbaud oder Stéphane Mallarmé rezitierte.
Es nahte die Zeit des sommerlichen Monsuns, und eines Tages zogen über dem Dach des Lagerschuppens tief hängende, dunkle Regenwolken auf. Es donnerte. Eine leere Drohung, dachte ich zunächst. Am Abend aber öffnete der Himmel alle Schleusen. Der Regen peitschte aus allen Richtungen hernieder, und an Schlaf war nicht zu denken. Es war schon spät in der Nacht, als ich vor die Tür trat, und ich erschreckte mich zu Tode. Der Wolkenbruch hatte den Fluss anschwellen lassen, und der Pegel stieg und stieg. Es sah aus, als würde das Gemüsefeld samt meinem Schuppen schon im nächsten Augenblick verschluckt. Es war noch vor Anbruch der Morgendämmerung und alles war finster, aber das Wasser leuchtete und schäumte so schrecklich, dass mir angst und bange wurde.
Dies alles geschah zu einer Zeit, in der mir in meinem Leben ohnehin der Boden unter den Füßen schwankte. Mein Studienabschluss stand vor der Tür, aber was danach kommen sollte, erschien mir eine noch größere Herausforderung als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Ich hatte keinerlei Ziele im Hinblick auf die Zukunft. Und nun stand ich an diesem tosenden Fluss, der mich hinwegzuspülen drohte.
Meine Lage war aussichtslos! Ich war in Panik. Doch dann kam mir niemand anderer als ich selbst zu Hilfe und erlöste mich aus meiner Angst. Wie ich vor diesem alten Schuppen stand und die Fluten auf mich zukommen sah, kam mir plötzlich der Gedanke: »Ich bin doch Dichter!«
Und mit einem Mal erschien mir alles, was um mich herum vorging, als etwas, das ich unbedingt erleben musste, um darüber schreiben zu können. Damit erwachte mein Lebenswille.
Gibt es denn etwas Passenderes für einen Dichter, als bei Kerzenschein und Sturm und Regen Gedichte zu schreiben? In pechschwarzer Nacht mutterseelenallein am Ufer dieses entfesselten Flusses zu stehen und Gefahr zu laufen, mir eine Lungenentzündung zu holen – mich hier in den Regen zu stellen, das erlebte ich doch nur, weil ich Dichter war! In ihrem Buch Schreiben in Cafés führt Natalie Goldberg aus, dass der Normalmensch bei einem Regenguss den Schirm aufspannt oder mit einer Zeitung über dem Kopf ins Trockene flüchtet; nur der Schriftsteller ist dumm genug, sich einfach in den Regen zu stellen. Statt Schutz zu suchen oder sich darum zu kümmern, rechtzeitig irgendwo unterzukommen, schaut er fasziniert den Regentropfen zu, wie sie in eine Pfütze fallen und dabei Muster bilden. So fängt er seine Glanzmomente ein.
Wie ich in jener Nacht allein am Ufer des anschwellenden Flusses stand und den Boden unter meinen Füßen schwanken spürte, beschloss ich, von nun an nicht mehr davonzulaufen. Ich beschloss, mir immer und immer wieder dicke Regentropfen auf die Stirn prasseln zu lassen, um meiner schriftstellerischen Berufung gerecht zu werden. Beunruhigung und Einsamkeit würden in meinen Gedichten von nun an zu Adjektiven und Adverbien werden. In jenem Moment fühlte ich mich wirklich wie der Gott meiner kleinen Welt.
In Paulo Coelhos Der Alchimist widersetzt sich Santiago dem Wunsch seines Vaters, Priester zu werden. Er wird Schafhirte und macht sich auf die Suche nach dem Schatz, den er im Traum gesehen hat. In Tanger in Marokko aber wird er um das ganze Geld betrogen, das er für seine Schafe bekommen hat. Da steht er nun auf diesem Markt in diesem fremden Land, völlig mittellos, wütend und verzweifelt. Man hat ihn ausgenommen!
Von einem Moment zum anderen aber ändert er seine Perspektive und sieht sich nicht länger als Opfer eines Betrügers. Er ist ein Abenteurer auf der Durchreise, und wenn er seinen Schatz finden will, gehört es dazu, solche Dinge zu erleben. Und schon kehren sein Mut und die Lust am Reisen zurück. Er geht gestärkt aus dieser Situation hervor und schaut der Gegenwart ins Auge, statt sich beraubt zu fühlen.
Das Leben beschert uns bisweilen viel Schlimmeres als einen Betrüger. In solchen Stunden fühlen wir uns wie eine Seele, die auf einem fremden Planeten notgelandet ist und nicht weiß, wohin sie sich wenden soll. Santiago beneidet den Wind, der überall hingehen kann, und da wird ihm auf einmal bewusst: Nichts kann ihn von seinem Abenteuer abhalten.
Lieben wir unsere Berufung, lieben wir die Welt. Wie ich in jener Nacht dort draußen im Regen stand, rezitierte ich aus ganzem Herzen Gedichte. Und mir war klar, dass ich weder einer bin, der nicht weiß, wohin er sich wenden soll, noch ein von einer Schar Gläubiger verjagter Teufel. Ich bin Dichter. Die Regentropfen, die mir ins Gesicht peitschten, die Böen, die die Maisblätter zum Tanzen brachten, ja selbst das Wachs, das auf die Fensterbank tropfte – dies alles empfand ich plötzlich als Segen. Und ebenso bewusst war mir, dass ein solcher Moment voll von Poesie nicht jedem Menschen vergönnt ist.
Das wollte das Leben mir sagen. Was ich in jener Nacht erlebte, ließ mich nicht mehr los. Wo auch immer ich bin und was auch immer geschieht, ich brauche mir nur vor Augen zu führen, dass ich Dichter bin, und schon kann ich alles, was mir begegnet, mit offenem Herzen empfangen. Es war ein Moment, den mir mein Leben zum Geschenk gemacht hat. Ihm habe ich zu verdanken, dass ich schreiben kann und mir bis heute den Sinn für wahre Schönheit und die Kostbarkeit des Daseins bewahren konnte.