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2|3 Das Publikum – das sind Sie!

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Dieses Kapitel müssten eigentlich Sie schreiben. Denn es geht um den Bildbetrachter, also um Sie. Hier könnte dann etwa stehen, welche kulturellen und persönlichen Voraussetzungen Sie mitbringen, welche Interessen Sie haben und welche Erfahrungen beziehungsweise Erwartung an die Kunst. Verallgemeinernd sprechen wir nun aber vom Publikum und von seinem Umgang mit Kunst.


Abb. 11: Andrea del Verrocchio (Modell) Alessandro Leopardi (Ausführung) Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni 1479 – 1496, Bronze, Campo SS. Giovanni e Paolo, Venedig

Das Zitat zum Thema: „Jeder geistige Genuss führt etwas Arbeit mit sich; so wird man auch den Kunstwerken irgendwie entgegenkommen müssen, wenn man sie nicht völlig übergehen will.“16

Dieses Zitat des Schweizer Kunsthistorikers Jacob Burckhardt (1818 – 1897) mag für heutige Ohren etwas antiquiert klingen. Wer will in einer Zeit des Hier, Jetzt und Alles schon arbeiten, um zu genießen?! Trotzdem wollen wir in diesem Kapitel – ohne allzu großen Aufwand zu betreiben – herausfinden, was dieses „irgendwie“ bedeuten könnte.

Sie sind gefragt: Wo kann Ihnen Kunst begegnen?

Antwort: Die naheliegende Antwort ist: in Museen und Galerien. Doch auch ohne Eintrittsticket hat man Gelegenheit, auf Kunst zu treffen. Denken Sie an die Innenräume von Kirchen oder öffentlichen Gebäuden. Haben Sie sich schon einmal in Ihrer Bank umgesehen, bei Ihrem Arzt, vor Ihrem Rathaus?

Erinnern Sie sich an das Kirchenportal des Berner Münsters. Es richtet – bis heute – seine Botschaft an alle Passanten. Die zentrale Aussage des Bildes ist so stark, dass sie auch 600 Jahre später noch verstanden werden kann. So trifft man überall auf Kunstwerke, die darauf warten, wahrgenommen zu werden. Meist gut sichtbar auf öffentlichen Plätzen befinden sich Plastiken von bekannten Persönlichkeiten, Herrscherstatuen – oder Reiterstandbilder. Der Condottiere Bartolomeo Colleoni beispielsweise steht seit 1483 auf dem Campo SS. Giovanni e Paolo in Venedig. Wer sich die Mühe macht, einmal an dem monumentalen Sockel emporzublicken, entdeckt beinahe schon in schwindelnder Höhe Pferd und Reiter. Die Grandezza des Dargestellten lässt zweifelsfrei auf eine bedeutende Persönlichkeit schließen, auch wenn ihr Name nur wenigen der vorbeiziehenden Touristen bekannt sein dürfte. Dem Ritter ist grimmige Entschlossenheit ins Gesicht geschrieben. Seine Rüstung deutet an, dass er seine Meriten im Kampf erwarb. Die Bildbotschaft ist eindeutig: Stärke, Macht, Ruhm.

Die Anekdote zum Thema: Der Senat von Venedig schrieb einen Wettbewerb aus, worin das Modell eines Pferdes für das Reiterdenkmal des 1475 verstorbenen Feldhauptmanns Colleoni verlangt wurde, und Andrea del Verrocchio ging als Sieger hervor. Als der Künstler das Modell für das Pferd vollendet hatte und bereits den Bronzeguss vorbereitete, wurde aufgrund von Intrigen einiger Edelleute der Beschluss gefasst, Bellano aus Genua solle die Figur und Verrocchio das Pferd machen. Kaum hatte Verrocchio das vernommen, zerschlug er die Beine und den Kopf seines Modells und wandte sich voll Zorn, ohne ein Wort zu sagen, nach Florenz. Als der Senat davon hörte, ließ er ihn wissen, dass er nie mehr wagen solle, nach Venedig zu kommen, sonst würde ihm der Kopf abgeschlagen. Darauf antwortete der Meister, er würde sich davor hüten, da es nicht in ihrer Macht stünde, abgeschlagene Menschenköpfe zu ersetzen; sie könnten es ja nicht einmal bei einem Pferd, während er wenigstens seinem Pferde einen noch viel schöneren wiedergeben könne. Diese Antwort gefiel den Senatoren sehr, und Andrea wurde mit doppeltem Gehalt nach Venedig zurückgerufen. Dort stellte er sein erstes Modell wieder her und goss es in Bronze.17


Abb. 12: Marino Marini Il Miracolo (das Wunder) 1953, Bronze, Höhe: 255 cm

Während die meisten Touristen Verrocchios Standbild mehr am Rande zur Kenntnis nehmen dürften, zieht eine andere Plastik, als Teil einer Museumssammlung, die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich: Marino Marinis Il Miracolo. Ein Reiterbild, das Fragen provoziert: „Was ist das?“, „Ist es ein stürzendes oder ein sich aufbäumendes Pferd?“, „Wie ist es möglich, dass sich der Reiter in waagrechter Position halten kann?“, „Warum hält er sich nicht fest?“, „Warum hat er die Hände gefaltet?“, „Geht es um eine Zirkusnummer?“, „Ist das Kunstwerk verkehrt herum installiert?“, „Was hat das alles zu bedeuten?“

Auch hier haben wir es mit einer Reiterplastik zu tun, wobei der Ausdruck „Reiterstandbild“ bewusst vermieden werden soll. Denn obwohl man nicht damit rechnen muss, dass das Kunstwerk gleich kippen wird, wirkt es doch recht labil. Es steht nicht – wie das Pferd des Colleoni, das Macht und Stärke assoziiert, fest auf seinen vier beziehungsweise drei Pferdebeinen. Vielmehr bäumt sich dieses Tier auf und scheint sich gegen etwas zu wehren.

Will man die Fragen beantwortet haben, benötigt man offensichtlich zusätzliche Informationen zum Werk und allenfalls zur Person des Künstlers. Diese liefert im vorliegenden Fall ein Blick in die Biografie Marino Marinis (1901 – 1980) sowie eine Aussage von ihm selbst.

Hintergrund zum Thema: Marino Marinis Atelier befand sich unmittelbar neben einem Reitstall, was ihn zu zahlreichen Reiterbildern inspirierte. Während die frühen Plastiken noch eine Einheit zwischen Mensch und Tier zeigen und in der Tradition des Reiterstandbildes im Sinne eines Colleoni sind, tritt nach dem Zweiten Weltkrieg ein radikaler Wandel ein: Die Pferde bäumen sich auf, die Figuren werden abstrakter. Miracoli (Wunder) nennt Marini diese Plastiken, möglicherweise in Anlehnung an den biblischen Bericht der Bekehrung des Saulus zum Paulus. „Meine Reiterstatuen drücken die Beängstigung aus, die mir die Ereignisse meines Zeitalters verursachen. Die Unruhe meiner Pferde wächst mit jedem neuen Werk; die immer kraftloser werdenden Reiter haben die Herrschaft über die Tiere verloren, und die Katastrophen, denen sie erliegen, gleichen jenen, die Sodom und Pompeji vernichtet haben. Ich suche so, das letzte Stadium in der Auflösung eines Mythos zu versinnbildlichen, des Mythos vom heldenhaften, siegreichen Individuum, vom Uomo di virtù (tugendhaften Menschen) des Humanisten.“18

Wenn man die Sprache der Bildbotschaft nicht oder nur teilweise versteht, kann es sich also lohnen, einen „Übersetzer“ beizuziehen. Dieser – ein ausgebildeter Kunsthistoriker oder ein Führer in Buchform oder auch nur eine Kurzbeschreibung in einem Museumsprospekt – wird uns bei der Übersetzung helfen und zusätzliche Informationen liefern. Diesen Aufwand sollte man nicht scheuen, wenn man sich mit Kunst vertiefter auseinandersetzen will. Gerade da, wo der Zugang zu einem Kunstwerk oder einem Künstler schwerfällt, kann eine gute, fundierte Führung zu Aha-Erlebnissen verhelfen. In diesem Sinne ist auch das am Anfang des Kapitels zitierte Burckhardt-Wort zu verstehen. Freilich kann man sich in diesem Zusammenhang fragen, ob das Publikum nicht auch mit etwas mehr Entgegenkommen seitens der Künstler rechnen darf. Etwa nach folgender (von der Autorin erdachter) Variante des Zitates von Jacob Burckhardt.

Das modifizierte Zitat zum Thema: Jeder geistige Genuss führt etwas Arbeit mit sich; so wird man auch dem Kunstpublikum irgendwie entgegenkommen müssen, wenn man es nicht völlig übergehen will.

Diese Forderung scheint gerade bezüglich der Gegenwartskunst ihre Berechtigung zu haben. Denn je mehr ein Künstler sich seiner eigenen Sicht der Welt verschreibt, und je mehr er sich von der Abbildung der Realität entfernt, desto weniger kann er mit dem Publikumsverständnis rechnen. In der Tat spricht man von einer Schere, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – seit der Teilung der Kunst in die obengenannten „Ismen“ – also zwischen Publikumsgeschmack und künstlerischer Entwicklung aufgetan hat. In gleichem Maß, wie sich der Künstler seiner persönlichen Sicht der Dinge verpflichtete und nicht mehr die Welt als solche abbildete, ging er auf Distanz zur Mehrzahl der Betrachter. Eine Entfremdung, die zum Teil durch die Zeit wieder wettgemacht werden konnte. Das zeigt das Beispiel der impressionistischen Kunst, die zuerst abgelehnt wurde, heute aber als Publikumsmagnet wirkt.19 Andererseits kann der Faktor Zeit der Verständlichkeit auch hinderlich sein. Bei Themen nämlich, die uns heute nicht mehr geläufig sind, also etwa bei der Darstellung von Heiligen mit ihren Attributen, bei Allegorien, bei biblischen Szenen und solchen aus der Mythologie (vgl. Kapitel Historienmalerei).

Wie ein Bild spricht oder eben nicht spricht, zeigt uns im Übrigen die folgende Anekdote.

Die Anekdote zum Thema: Der Maler Annibale Carracci (1560 – 1609) wurde einmal gefragt, welcher seiner beiden Schüler, die in der gleichen Kirche ein Bild zum gleichen Thema gemalt hatten, die Aufgabe besser gelöst hätte. Lange wusste er nicht, welcher mehr Lob verdient hätte, bis ihm eines Tages eine alte Frau die Augen öffnete. Mit einem kleinen Mädchen an der Hand blieb sie zuerst vor dem einen Gemälde stehen. Ihr Blick schweifte nach allen Seiten, um es ganz zu beschauen. Sie sagte aber kein Wort und drückte auch sonst in keiner Weise eine Gemütsbewegung aus, die das Werk bei ihr hervorgerufen hätte. Dann wandte sie sich dem anderen Gemälde zu. Kaum hatte sie dies getan, begann sie auch schon dem Mädchen die dargestellten Figuren zu erklären. Und so betrachtete sie eine Figur nach der andern, indem sie mit dem Finger darauf wies. Mit Vergnügen erklärte sie in dieser Weise dem Mädchen, dem es ebenfalls zu gefallen schien, die Handlungen. „Jetzt seht ihr“, schloss Annibale, „wie ich zu verstehen gelernt habe, welcher von unseren beiden Malern die Affekte lebendiger ausgedrückt und seine Geschichte klarer dargelegt hat.“ Bei den beiden Schülern Carraccis handelt es sich übrigens um die Maler Guido Reni und Demenichino, die im Auftrag des Kardinals Scipione Borghese (1577 – 1633) das Oratorium S. Andrea in Rom mit zwei Szenen aus dem Leben des Apostels Andreas bemalt hatten.20

Folgen wir der Anekdote, so muss das Kunstwerk offenbar zwei Bedingungen erfüllen, um in der Betrachterin eine Reaktion auszulösen. Es muss sie innerlich bewegen, so erzählt die Frau in der Geschichte „mit Vergnügen“ und das Mädchen hört „mit Gefallen“ zu, und es muss etwas Bekanntes – hier die dargestellten Figuren – veranschaulichen. Die Betrachterin wird also auf der Gefühls- wie auf der Wissensebene „ergriffen“. Wo dies nicht geschieht – wie im Falle des ersten Bildes –, bleibt die Kunst stumm. Gewiss ist es eine Frage der Persönlichkeit, von welchen Bildern wir ergriffen sind oder welche uns gefühlsmäßig ansprechen. Ob wir dagegen Bekanntes in einem Bild erkennen können, hängt im Wesentlichen von unserem Wissen ab. Oder anders gesagt, ob wir uns in der Kultur, in der Zeit oder Epoche und in der Darstellungsweise, in der das Bild gemalt wurde, auskennen. In der gegenständlichen Malerei – also in der Malerei mit Abbildcharakter – wird uns deshalb das Erkennen von Bekanntem leichterfallen, als in moderner, nichtgegenständlicher Kunst.

Zusammenfassung: Kunst kann als Medium aufgefasst werden, durch das ein Künstler mit seinem Publikum kommuniziert. Sie ist mit einer Universalsprache vergleichbar, die über kulturelle Grenzen hinweg Botschaften verständlich machen kann. Der talentierte Künstler wurde im Laufe der Zeit unter verschiedenen Aspekten gesehen: als der von Gott Inspirierte, der von Natur aus Geniale, der an seiner Begabung Leidende, ja sogar als Kranker und Geisteskranker. Er schafft seine Kunst in einer ihm eigenen Bildsprache. Je mehr wir als Betrachter davon verstehen, umso mehr können wir aus einem Kunstwerk lesen. Sich mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen, kann also für den Betrachter mit etwas Aufwand verbunden sein. Andererseits wurde gezeigt, dass auch vonseiten des Künstlers eine Aufgabe zu erfüllen ist, nämlich dem Publikum einen Schritt entgegenzukommen. Wo dies nicht oder nur ungenügend geschieht, müssen die Museen und Ausstellungsmacher eine vermittelnde Rolle übernehmen. Als Publikum haben wir zwei Möglichkeiten, auf ein Kunstwerk zu reagieren: mit dem Bauch und mit dem Kopf.

Kunst sehen und verstehen

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