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3|2 Was Ihnen Ihr Kopf sagt oder: Wie Sie einen sachlichen Zugang finden

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Diesem ersten persönlichen Schritt auf ein Bild zu kann nun ein sachlicher folgen, eingeleitet durch die Frage: Was sehe ich? Vielleicht fällt Ihnen – noch bevor Sie Einzelheiten betrachten – auf Anhieb ein vorherrschendes Bildthema auf. Dann benennen Sie es. Das können ein Blumenstrauß, eine Küchenszene, eine weiße Leinwand sein. Nun wenden Sie sich – wenn vorhanden – den übrigen Bestandteilen zu: der Umgebung des Blumenstraußes, dem Hintergrund oder den Nebenschauplätzen der Küchenszene. Danach können Sie ins Detail gehen. Es gibt Bilder, bei denen man sich in den Details verlieren kann, da erkennt man noch die Fliege auf der Birne, den Wasserbeschlag am kühlen Bierglas oder das einzelne Haar des Pelzbesatzes. Der genaue Blick kann Ihnen aber noch ganz andere Einzelheiten offenbaren. Treten Sie doch noch einen Schritt näher an das Bild – so nahe es die Sicherheitsvorkehrungen des Museums Ihnen erlauben – und schauen sich den Farbauftrag an, Sie werden staunen, was Sie da entdecken: Da sieht man ja die einzelnen Pinselstriche! Sind das überhaupt Pinselstriche oder hat der Maler da eine andere Technik verwendet? Da schaut noch die Leinwand zwischen der Farbe hervor! Oder: Dieses Grün ist ja eigentlich ein Schwarz-Blau! Nachdem Sie sich auf diese Weise eine Übersicht verschafft haben, werfen Sie nun einen Blick auf die Begleittafel. Sie liefert Ihnen sachdienliche Hinweise, wie den Namen des Künstlers, Titel, Technik, Jahr und eventuell Herkunft des Bildes. Bei Reproduktionen in Büchern ist zudem unbedingt die Formatangabe zu beachten.

Die Anekdote zum Thema: Der englische Maler Joshua Reynolds bemerkte voller Bitterkeit, dass britische Reisende, anstatt sich der Schönheit der berühmten Werke zu widmen, nur das Thema wissen wollen, den Namen des Malers, die Geschichte der Skulptur und wo sie gefunden wurde, und dieses dann aufschrieben. „Manche Engländer kamen in den Vatikan, als ich dort war, verbrachten sechs Stunden damit, das aufzuschreiben, was der Reiseführer ihnen diktierte. Sie schauten die ganze Zeit so gut wie nie auf die Bilder.“24

Sie sind gefragt:

Wie gehen Sie mit dem Bild auf der rechten Seite um? Hier die Hilfestellungen:

1 Gefallen/​Nichtgefallen

2 Begründen

3 Differenzieren

4 Hauptthema

5 Details/​genauer Blick

6 Begleittafel

Antwort: Nachdem Sie die ersten drei Punkte individuell für sich beantwortet haben, setzen wir unsere Betrachtung mit dem Bildthema fort. Hauptgegenstand ist zweifellos ein Paar. Als weitere Bestandteile erkennt man einen Innenraum, der offenbar ein Schlafzimmer ist, denn auf der rechten Bildseite befindet sich ein Himmelbett ganz in Rot. Im Bildhintergrund steht eine Liege oder eine ebenfalls mit roten Kissen bedeckte Bank. Von der Decke herab ragt ein mehrarmiger Leuchter. Zwischen dem Paar an der Wand im Hintergrund hängt ein runder Spiegel. Auf der linken Bildseite befindet sich ein geöffnetes Fenster. Auf dem Fußboden vor dem Paar steht ein kleiner Hund. Außerdem fallen zwei Paar Schuhe auf, die einen gut sichtbar in der unteren Bildecke, links des Mannes, die anderen von dominanter roter Farbe, etwas im Hintergrund, zwischen dem Paar vor dem Liegebett. Wir stellen fest, dass die Farben Grün, Rot und Braun dominieren und die Szene sehr genau und detailgetreu gemalt ist. Des Weiteren ersehen wir aus der Kleidung des Paares und der Einrichtung des Raumes, dass es sich um eine ältere Darstellung handelt. Je nachdem, wie gut sich jemand in Kostümkunde und Interieurs auskennt, lässt sich sogar das Jahrhundert bestimmen. Die pelzbesetzten Gewänder der Dargestellten, die kunstvolle Fältelung am Kleid der Frau sowie ihre spitzenbesetzte Haube lassen zudem auf begüterte Verhältnisse schließen. Die Einrichtung des Raumes bestätigt diesen Eindruck. Geht man nun ins Detail, erkennt man, dass auf dem Leuchter eine einzige Kerze steckt, die angezündet ist. Zudem wird die ganze Szene vom Spiegel wiedergegeben. Über dem Spiegel ist in verschnörkelten Buchstaben eine Inschrift an die Wand gemalt. Scharfe Augen vermögen die Worte „Johannes de Eyck fuit hic“ (Johannes van Eyck war hier) zu entziffern.


Abb. 13:

Wenn Sie dieses Bild im Original an seinem Stammplatz in der National Gallery in London oder als Abbildung in einem Buch sehen, erhalten Sie noch die folgenden Angaben mitgeliefert: >

Künstler: Jan van Eyck Titel: Die Arnolfini-Hochzeit Datierung: 1434

Technik: Öl auf Holz

Größe: 82 x 60 cm

Standort:

National Gallery, London

Was Sie vielleicht schon vermuteten, erschließt sich nun aus der Bildlegende: Es handelt sich um die Darstellung eines Hochzeitspaares, dem Namen nach eines italienischen. Tatsächlich ist es der Spross einer Kaufmanns- und Bankiersfamilie, Giovanni Arnolfini, mit seiner Braut Giovanna Cenami. Vielleicht tippten Sie sogar bei der Datierung ins 15. Jahrhundert richtig. (Hier soll man ruhig auch Spaß am Spiel haben!) Der Name des Künstlers schließlich verweist auf eine nördliche Herkunft, im Falle van Eycks auf das flämische Brügge. Der Maler ist kaum erkennbar im Spiegel zwischen den Eheleuten abgebildet. Was wir aber aus einer Reproduktion nicht erschließen können, ist die Größe eines Bildes. Mit den genannten Maßen von nicht einmal einem Meter Höhe und einer Breite von etwas über einem halben Meter ist das Bild möglicherweise kleiner beziehungsweise größer, als wir es uns vorgestellt hätten.

Aus der Bildlegende erfährt man also einiges, unter anderem, dass zwischen unserer Gegenwart und dem Entstehungsjahr des Bildes eine Zeitspanne von fast sechshundert Jahren verflossen ist. Dass wir heutigen Betrachter das Bild anders wahrnehmen als ein Mensch des 15. Jahrhunderts, versteht sich von selbst. Es kann denn auch ganz spannend sein, herauszufinden, was ein Zeitgenosse von van Eyck alles in der Arnolfini-Hochzeit „mitgelesen“ haben könnte. Vieles ist uns dank der kunstgeschichtlichen Erforschung der Bildinhalte und der Symbolik auch heute bekannt. Generell können wir davon ausgehen, dass in einem Bild aus dem 15. Jahrhundert jeder Gegenstand, ja, jede Geste eine Bedeutung haben konnte. Einige der wichtigsten seien hier genannt:

Hund: Symbol der Treue
Spiegel: einerseits (Selbst-)Erkenntnis, Wahrheit, andererseits Eitelkeit, Wollust
ausgezogene Schuhe: Betreten von heiligem Boden
Bett: Hochzeitssymbol
Kopfbedeckung: Zeichen der verheirateten Frau
Leuchter/​Kerze: begleitet das Ablegen eines Eides, das allwissende Auge Gottes
Orangen: Symbol der Fruchtbarkeit
Apfel: Symbol des verlorenen Paradieses

Was machen wir aber mit einem ungegenständlichen Bild der folgenden Art?


Abb. 14: Mark Rothko, Four Darks in Red (Vier Dunkelheiten in Rot) 1958, Öl auf Leinwand, 2,59 x 2,94 m Whitney Museum of American Art, New York

Gehen Sie genau gleich vor wie im ersten Beispiel. Stellen Sie sich die Frage, ob Ihnen das Bild gefällt, fragen Sie sich anschließend genauer, was Ihnen gefällt beziehungsweise nicht gefällt. Gehen Sie dann einen Schritt weiter und stellen Sie fest, was Sie sehen. Hier könnte die Antwort folgendermaßen lauten: Ich sehe vier dunkle Flächen/​Streifen auf einem roten Grund. Zwischen jedem Streifen schimmert ein schmaler Streifen des roten Grundes durch. Die drei oberen Flächen erstrecken sich über die gesamte Bildbreite, während die untere von der roten Farbe eingerahmt wird. Der oberste Streifen ist der schmalste. Er ist von dunkelgrüner Farbe. Die folgende Fläche dominiert die anderen durch ihre Größe und ihre dunkle Farbe. Die zwei unteren Streifen haben in etwa den gleichen oliven Farbton, der das Rot des Untergrundes durchscheinen lässt. Geben Sie dem Bild nun einen Titel oder ein Thema. Also etwa „Vier dunkle Flächen auf rotem Grund“ oder „Der schwarze Balken“. Vielleicht erinnern Sie die vier Streifen auch an Dünen, einen Sandstrand und das Meer mit einem Streifen Himmel im Hintergrund. Dann nennen Sie es „Am Meer“ …

Sie werden merken, dass es gar nicht so einfach ist, dieses an sich schlichte Bild zu beschreiben. Versucht man es trotzdem, wird man gezwungen, genau hinzusehen. Welche Formen sind vorhanden, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie beschreibe ich die Farbtöne, die Nuancen etc.? Diese Fragen schulen unser Auge. Wir haben also durchaus einen Gewinn, wenn wir ein Bild genau betrachten, selbst dann, wenn es uns auf den ersten Blick vielleicht nichts bedeutet.

Notabene: Hier stößt man allerdings an die Grenzen der Reproduzierbarkeit. Denn Farben weichen in der Wiedergabe oft beträchtlich von Originaltönen ab. Zudem ist es nur begrenzt möglich, Farbmischungen wiederzugeben.

Auf die Bedeutung der Größe eines Bildes haben wir schon hingewiesen. So macht es einen wesentlichen Unterschied, ob man die Vier Dunkelheiten in Rot in der Originalgröße von 2,59 x 2,94 m oder in einer Reproduktion von einem Zwanzigstel der Größe sieht. Nicht nur die Wirkung ist eine andere, auch der Betrachter verhält sich ganz anders. Steht man vor dem fast drei Meter hohen Original, so reicht es nicht, lediglich die Augen zu bewegen, um das Bild zu erfassen. Man muss dazu schon den Kopf bewegen oder gar von einer Seite zur anderen gehen. Will man gar das Bildganze überschauen, ist man gezwungen, sich davon zu entfernen. Gleich wie bei einem Fotoapparat ohne Zoom. Erst aus der richtigen Entfernung kann man das Bild überblicken. Aus der Nähe ist man dagegen gleichsam im Bild drin. Möglicherweise ist es auch die Intensität der Farbe, die Sie dazu nötigt, zurückzutreten. So viel Rot muss man schon aushalten können! Diese Eindrücke versagt die Reproduktion, von ihr erhält man lediglich eine Idee des Bildes. Es lohnt sich also, Kunstwerke – wo immer dies möglich ist – im Original zu betrachten, um ihre tatsächliche Wirkung zu erleben.

Nachdem Sie ein Bild in seiner formalen und allenfalls inhaltlichen Dimension erfasst haben, kann noch ein dritter Schritt folgen. Er betrifft nun die geistige Dimension eines Werkes. Dieser Zugang ist freilich nicht immer gegeben und fordert vom Betrachter Zeit und Muße. Trotzdem kann es sein, dass ein bestimmtes Werk in einer Ausstellung Sie nicht mehr loslässt und Sie zum Verweilen oder mehrmaligen Zurückkehren einlädt. Vielleicht können Sie den Grund dieser Attraktion sofort benennen. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass Sie vorerst nicht in Worte fassen können, was Sie anzieht. Eine solche Faszination könnte man am besten – um nochmals auf das Kommunikationsmodell zurückzukommen – mit nonverbaler Kommunikation vergleichen. Es sind gleichsam unterschwellige oder begleitende, nicht benennbare Bildaspekte, die zu uns sprechen und die einem Bild eine Bedeutung verleihen, die Form und Inhalt übersteigt. Es ist dann, als würde über das Materielle hinaus – und dies ist ganz ohne esoterischen Beigeschmack zu verstehen – der Geist des Malers die Bildatmosphäre durchdringen. Oder wie es der bekannte deutsche Kunsttheoretiker Werner Schmalenbach in seinem ebenso lesens- wie liebenswerten Buch Über die Liebe zur Kunst und die Wahrheit der Bilder formulierte: „In dem, was auf dem Bild passiert, […] ist natürlich Geistiges enthalten.“25 Das löst möglicherweise Fragen nach der Persönlichkeit des Malers, nach seiner Verfassung, nach seiner Motivation aus, die uns sozusagen in Konversation mit dem Werk bringen. Wenn Sie ein Werk derart ausloten, kann es auch hilfreich sein, mit jemandem darüber zu sprechen.

Das Zitat zum Thema: „Das Besondere der Kunsterfahrung ist jedoch, dass Reiz und Reaktion sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Mit dem Empfinden wächst auch die Empfindungsfähigkeit, mit dem Sehen das Gespür für das Ansehnliche und mit dem Betrachten die Mündigkeit des Betrachters.“26

Zusammenfassung: Gehen Sie selbstbewusst auf ein Kunstwerk zu und fühlen Sie sich angesprochen! Gehen Sie von Ihrem „ersten Eindruck“ aus und versuchen Sie ihn zu begründen (gefällt mir/​gefällt mir nicht, weil …). Machen Sie noch einen Schritt weiter und differenzieren Sie. Wenn Ihnen ein Bild also nicht gefällt, so suchen Sie nun etwas, das Sie trotzdem anspricht und umgekehrt. Und schließlich tragen Sie innerlich zusammen, was Sie sehen, und geben dem Bild einen Titel oder ein Thema. Scheuen Sie sich nicht, ein Werk, das Sie anspricht, weiter auszuloten.

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