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1|4 Imagination, Idee, Originalität

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Abbildfunktion oder gar Augenzeugenschaft sind indessen keine unabdingbaren Voraussetzungen für die Entstehung von Kunst. So versteht es sich von selbst, dass ein Künstler nicht in jedem Fall auch (Zeit-)Zeuge sein kann oder konnte. Der Maler Matthias Grünewald (vgl. S. 129), der um 1500 die Leiden Christi am Kreuz malte, tat dies nach seiner Vorstellung. Er hatte weder Jesus Christus noch den Originalschauplatz je gesehen und doch schwebte ihm ein inneres Bild dieser Szene vor. Eine innere Anschauung, die einerseits durch Vorbilder geprägt war, andererseits aber auch durch seine individuellen Ideen. Jedem Kunstwerk liegt also eine Idee oder ein Konzept zugrunde. Dieses beinhaltet neben dem Was, nämlich dem Thema, auch das Wie, nämlich die Umsetzung.

Das bringt uns zu weiteren Kriterien dessen, was Kunst ausmacht, nämlich zu Imagination, Idee und Originalität des Künstlers. Gerade diese Dimensionen gewannen im Laufe der Jahrhunderte die Vorrangstellung über die eigentliche Kunstfertigkeit und erreichten 1917 einen Höhepunkt. In jenem Jahr nämlich wollte der französische Künstler Marcel Duchamp unter dem Pseudonym R. Mutt ein Pissoir mit dem sprechenden Titel Fontaine in einer New Yorker Ausstellung zeigen. Das Objekt wurde zwar von der Jury – der auch Duchamp selbst angehörte – abgewiesen, später aber mehr als rehabilitiert: Bis heute gilt es (beziehungsweise Fotos und Repliken davon) als ein Schlüsselwerk moderner Kunst.


Abb. 4: Marcel Duchamp (signiert R. Mutt) Das Original Fontaine 1917, fotografiert von Alfred Stieglitz

Notabene: Ein Pissoir soll Kunst sein? Kein Wunder, denken Sie jetzt vielleicht, dass ich damit nichts anfangen kann. Und in der Tat ist es, seit Kunst auf diese und andere Weise scheinbar ad absurdum geführt wurde, nicht einfacher geworden, sie zu verstehen. Allerdings: Vieles wird plausibel, wenn man die Zusammenhänge der Zeit und die Vita des Künstlers berücksichtigt.

Tatsächlich dominieren Idee und Originalität in der Gegenwartskunst gelegentlich auf unangenehme Weise. Was man heutzutage als Kunst betrachtet – und das muss sich nicht unbedingt mit dem decken, was man in hundert Jahren dafür halten wird –, bestimmt eine Gruppe von Insidern und wird für eine solche produziert. So jedenfalls sehen es viele Kunstkritiker. Glauben wir ihnen, dann ist für den Laien Kunst, und insbesondere die moderne Kunst, zunächst ein Buch mit sieben Siegeln. Damit er überhaupt entscheiden kann, ob ihm ein Kunstwerk zusagt, benötigt er Aufklärung, die ihm nur durch Experten zuteilwerden kann.3 Das tönt nach Exklusivität seitens der Kunst und nach Anstrengung und Aufwand vonseiten des Publikums. Doch lassen Sie sich dadurch nicht einschüchtern. Sie werden im nächsten Kapitel eine Methode kennenlernen, die es Ihnen ermöglicht, mit der Kunst – selbst der Gegenwartskunst – fertigzuwerden.

Das Zitat zum Thema: Der französische Bildhauer Auguste Rodin (1840 – 1917) war jemand, der der Originalität durchaus skeptisch gegenüberstand. „Die Originalität, wie sie das große Publikum versteht, existiert nicht in der hohen Kunst. Die Künstler, die nicht Geduld genug haben, um zu dem wirklichen Talent vorzudringen, ergeben sich dem Bizarren, der Absonderlichkeit des Themas oder den Formen ohne Rücksicht auf die Wahrheit. Und das nennen sie dann Originalität, aber das hat gar keinen Wert.“4 Ob sich seine Kritik auf Duchamps Fontaine bezog, entzieht sich meiner Kenntnis.

Kunst sehen und verstehen

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