Читать книгу Zwanzig Sekunden Ewigkeit - Siegfried Langer - Страница 8

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1 5. Kapitel

Alex' Vater stand am oberen Ende der Treppe und sah streng zu ihr hinab.

“Komm mal schön herauf, Fräulein.”

Sie zögerte. Sie wusste, wenn ihr Vater das Wort 'Fräulein' gebrauchte, dann war er sauer.

Schließlich setzte sie – das Haupt gesenkt – ihren Fuß auf die unterste Treppenstufe.

Aber halt!

Was passierte hier?

Sie war eine erwachsene Frau, eben in einem Kühlraum für Leichen erwacht.

Jetzt stand ihr totgeglaubter Vater über ihr und sprach mit ihr wie mit dem kleinen Mädchen, das sie früher gewesen war.

Während sie sich langsam nach oben bewegte, erkannte sie endlich, woran die Treppe sie beim ersten Anblick erinnert hatte: Sie sah exakt so aus wie die in ihrem Elternhaus.

Und die dritte Stufe knarzte. Genau wie damals.

“Deine Mutter hat mir alles erzählt, was vorgefallen ist. Was ist nun? Wird's bald?”

“Ja, Papa”, hörte sie sich leise und reumütig sagen. Mit der Stimme eines Kindes.

Sie ließ sich viel Zeit dabei, nach oben zu gelangen.

Als sie auf dem obersten Treppenabsatz ankam, bemerkte sie, dass sie ihrem Vater nicht einmal bis zur Brust reichte, und sie wagte es nicht, nach oben in seine Augen zu sehen.

“In die Küche!”, befahl er.

Sie blickte sich um und erkannte, dass sie sich tatsächlich in dem Haus befand, in dem sie aufgewachsen war.

Rechts ging es ins Wohnzimmer, geradeaus zur Treppe in den ersten Stock, links in die Küche. Dorthin wandte sie sich und setzte sich auf einen Stuhl am Esstisch. Ihre Beine baumelten nach unten, wie vorhin von dem Edelstahltisch.

War dieser Esstisch nicht entsorgt worden, nachdem Papa verstorben und der Haushalt aufgelöst worden war?

Aber es wirkte alles so wie früher.

“Jetzt erzähl mir mal schön, was heute auf dem Nachhauseweg von der Schule passiert ist.”

Alex stierte auf die Kiefernholzmaserung der Tischplatte und biss sich auf die Unterlippe.

“Ich möchte, dass du mir antwortest, Fräulein. Mit Mama wolltest du ja nicht reden.”

Sie schmeckte Blut.

“Du machst es damit nur schlimmer!”

Was sollte sie sagen?

Sie wusste nicht, was er meinte.

“Und sei gewarnt: Frau Boose hat uns alles erzählt. Es nutzt dir überhaupt nichts, wenn du mir Lügen auftischst.”

Frau Boose …

Frau Boose …

Natürlich! Jetzt erinnerte sich Alex an sie: Als Kinder hatten sie sie immer 'Frau Böse' genannt. Alex und ihre Freundin Jasmin mussten auf dem Schulweg genau an ihrem Haus vorbei und es verging kaum ein Tag, an dem Frau Boose nicht ihren Kopf zum Fenster herausstreckte und die Kinder wegen irgend etwas belehrte oder beschimpfte.

“Wehe, ihr spuckt eure Kaugummis in meinen Garten!”

“Müsst ihr mit dem Stock an meinem Gartenzaun entlangrattern?”

“Schaut mich nicht so frech an!”

“Also, wenn ihr meine Kinder wärt, dann dürftet ihr nicht so herumlaufen. Früher herrschte in diesem Land noch Zucht und Ordnung!”

Alex war seit langem klar, dass ihre Eltern Frau Boose ebenfalls nicht leiden konnten und eigentlich zu ihr hielten.

Warum also zog sie ihr Vater gerade zur Rechenschaft?

Was sollte sie angestellt haben?

“Ich höre ...”

“Ich kann mich nicht genau erinnern”, flüsterte sie leise.

“Nicht erinnern. Wie oft willst du noch mit so einer Ausrede kommen? Möchtest du dich wieder auf eine Gedächtnislücke berufen?”

Alex konnte nicht anders, als sich schuldig zu fühlen. Doch wofür?

“Oder auf deinen imaginären Freund Peter?”

Peter …

Peter …

Irgend etwas klingelte in ihr, als sie den Namen hörte. Hatte es Peter wirklich gegeben oder hatte sie ihn sich nur eingebildet? Sie wusste es nicht mehr.

Ihr Vater schien jedenfalls von zweiterem überzeugt zu sein.

“Ich sage nur: Sonnenblumen!”, fuhr er fort. “Na, fällt es dir wieder ein?”

Ach ja, die Sonnenblumenkerne für ihre Großmutter.

“Aber die Sonnenblumen von Frau Boose waren doch schon am Verblühen, die Kerne lagen am Boden herum. Ich habe sie eingesammelt. Für Oma. Sie füttert am Balkon doch immer die Spatzen.”

“Frau Boose hat eine andere Geschichte erzählt. Du hättest dich gestern über den Gartenzaun gebeugt und die Kerne aus den Blüten geklaut. Und als sie dich zurechtgewiesen hat, hast du ihr die Zunge herausgestreckt.”

Letzteres stimmte, ersteres nicht.

“Ich habe nur die vom Boden eingesammelt. Die draußen auf dem Gehweg lagen. Das darf man doch. Das hast du mir gesagt.”

“Die auf dem Boden, ja. Die aus dem Garten, nein.”

“Aber da war ich nicht dran!”

“Und heute auch nicht?”

“Was meinst du?”

“Heute, auf dem Nachhauseweg von der Schule warst du wieder bei den Sonnenblumen.”

Er formulierte es als Feststellung, nicht als Frage.

“Ich weiß es nicht.”

“Ich habe dir schon mehrfach gesagt: Geh nicht dort entlang.”

“Aber es ist ansonsten ein Umweg.”

“Ich habe einfach keine Lust auf Streit mit den Nachbarn.”

“Aber Frau Boose streitet mit allen Nachbarn.”

“Und das ist Grund genug, über ihren Gartenzaun zu klettern und ihre Blumen umzuknicken und ihnen die Blüten abzureißen?”

“Was?”

“Ihre Gladiolen am Haus. Und ihre Sonnenblumen am Gartenzaun.”

“Wie? Nein, das war ich nicht.”

“Sie hat dich beobachtet.”

“Das kann nicht sein!”

“Ich habe mir die Blumen vorhin angesehen. Willst du behaupten, dass Frau Boose lügt? Dass sie die Blüten selbst abgerissen hat?”

“Nein”, sagte Alex kleinlaut.

“Also gib es einfach zu. Deine Mutter und ich werden uns eine Strafe für dich überlegen. Und je länger du leugnest, desto größer wird sie werden.”

“Sie hat mich wirklich gesehen?”

“Sie sagt, sie hat beobachtet, wie du danach über den Zaun zurück auf den Gehweg geklettert bist.”

“Aber dass ich es gewesen bin, die die Blumen umgeknickt hat, das hat sie nicht gesehen, oder?”

“Hör mal, Fräulein, du schleichst dich in den Garten und möchtest behaupten, dass das mit den Blumen jemand anders war? Für wie dumm hältst du mich eigentlich?”

Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Jeder Kommentar würde es vermutlich nur noch schlimmer machen.

“Und? Gibst du es nun zu?”

“Ich kann mich nicht daran erinnern, Papa.”

“Geh auf dein Zimmer. Deine Mutter und ich werden uns überlegen, welche Strafe angemessen ist.”

Sie rutschte von ihrem Stuhl und schlurfte gesenkten Hauptes aus der Küche.

Warum nur fühlte sie sich schuldig?

In ihr Zimmer: Es war damals im ersten Stock des Hauses gelegen, also machte sie sich auch jetzt auf den Weg dorthin.

Doch auf der halben Treppe stand ein Junge, etwa genauso groß wie sie selbst. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen und er gehörte hier nicht her.

“Tut mir leid, Alexandra.”

Woher kannte er ihren Namen?

“Ich kann dich leider nicht nach oben lassen.”

Und wieder wurde sie ohnmächtig.

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