Читать книгу Zwanzig Sekunden Ewigkeit - Siegfried Langer - Страница 9

Оглавление

1 6. Kapitel

“Hallo? Kannst du mich hören?”

Alex öffnete die Augen. Über ihr befand sich das pausbäckige Gesicht einer Frau, die sie besorgt ansah. Daneben, an der Decke, das künstliche Licht einer Leuchtstoffröhre.

Wieder lag sie. Doch diesmal spürte sie keinen Edelstahltisch unter sich, ihre Finger fühlten etwas Gummiartiges. Linoleum?

Jetzt erkannte sie zwei Männer, die ebenfalls zu ihr herabblickten. Alle drei Personen trugen Polizeiuniformen.

“Geht es wieder?”

“Ja”, antwortete Alex leise der Polizistin.

“Ruf einen Sanitäter”, sagte diese dann zu einem der beiden Kollegen, der sogleich aus Alex' Sichtfeld verschwand.

Alex empfand es als unangenehm, vor den Beamten auf dem Boden zu liegen. Deshalb versuchte sie aufzustehen.

“Soll ich dir helfen?”

Die Polizistin wartete Alex' Antwort nicht ab, sondern griff ihr beherzt unter die Arme.

Ich scheine nicht besonders schwer zu sein, wunderte sich Alex. Und als sie an sich herabsah, bemerkte sie, dass sie so schlank war wie zuletzt in ihrer Teenagerzeit. Auch ihre Brüste hatten noch nicht die Größe späterer Tage. Wieder trug sie ein fliederfarbenes Sweatshirt. War vorhin nicht Dornröschen darauf abgebildet gewesen?

“Mein Name ist Polizeiobermeisterin Kawelka”, sagte die Beamtin und führte Alex zu einem Stuhl.

“Weißt du, wie deiner lautet?”

Prüfte sie ihr Gedächtnis?

Und warum duzte sie sie?

“Alexandra Wilke”, antwortete sie und setzte sich.

Kawelka und ihr Kollege – Alex las den Namen 'Obermeier' auf seinem Brustschild - sahen sich überrascht an.

“Jetzt erinnert sie sich”, kommentierte Obermeier.

“Warum sollte ich das nicht tun?”, fragte Alex. Dann blickte sie umher.

“Ich befinde mich auf einer Polizeiwache”, stellte sie fest. “Wieso bin ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?”

“Was ist denn das letzte, woran du dich erinnerst?”

Der Leichenkühlraum, dachte Alex. Die dicke Frau in der Badewanne. Mein Vater. Die Moralpredigt wegen der Sonnenblumen.

Doch sie antwortete etwas anderes.

“Die Bushaltestelle.” Sie sprach langsam, ließ die Situation noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren. “Ich hatte mich mit einer Freundin nach der Schule verquatscht und da ist mir der Bus vor der Nase davongefahren, obwohl ich pünktlich war. Er ist einfach zu früh los, keine Ahnung warum. Ich habe mich geärgert und dem Busfahrer hinterhergeschimpft.”

“Um wieviel Uhr war das?”

Alex musste nicht lange überlegen: “Kurz nach eins. Um 12:45 Uhr endet die letzte Unterrichtsstunde.”

“Jetzt ist es halb acht.”

“Was?”

“Es ist 19:30 Uhr abends.”

“Aber das kann nicht sein!”

Frau Kawelka deutete auf eine Glasscheibe. Dahinter befand sich eine Art Wartezimmer.

“Kennst du diese Leute?”

Ein älteres Ehepaar saß dort. Jetzt sahen sie freundlich zu ihr herüber und lächelten sie an.

“Ich habe sie noch nie zuvor gesehen”, sagte Alex.

“Sie haben uns informiert.”

“Worüber informiert?”

“Sie haben dich im Wald gefunden.”

“Im Wald? Was soll ich denn im Wald?”

“Du hast auf einem Hochsitz gesessen.”

Alex verstand überhaupt nichts mehr.

“Sie sind im Wald spazierengegangen und haben deine Stimme gehört. Du hast dich lautstark mit jemandem gestritten, aber sie haben niemanden außer dir gesehen.”

“Ich war nicht im Wald”, behauptete Alex.

Die Polizistin deutete auf die Ellenbogen von Alex' Sweatshirt und Alex entdeckte grüne Flecken. Sie sahen nach Moos aus.

“Herr Gmeininger ist nach oben geklettert und hat dich angesprochen, aber du hast nicht darauf reagiert. Er meint, du hättest irgendetwas Wirres erzählt, der Name 'Rumpelstilzchen' sei gefallen. Das kam ihm seltsam vor und er hat die Polizei gerufen.”

Was passierte hier gerade?

Alex kam sich vor, als wäre sie die Hauptperson eines Films, von dem sie das Drehbuch nicht kannte.

“Als ich dann zu dir hochgeklettert bin”, fuhr die Polizistin fort, “hast du mit mir ebenfalls nicht gesprochen. Du warst wie in Trance. Ich habe lange auf dich eingeredet. Schließlich bist du mir gefolgt und auch ins Polizeiauto eingestiegen. Hier bist du dann zusammengebrochen. Ein Schwächeanfall. Hattest du so etwas schon öfter? Bist du in psychologischer Behandlung?”

Die Sonnenblumen, dachte Alex, als ich noch ein Kind war, vor wenigen Minuten. Und einige weitere Erinnerungslücken ...

Sie antwortete nicht.

“In deiner Schultasche haben wir deine Adresse gefunden und deine Eltern angerufen. Sie müssen in wenigen Minuten hier sein. Sie haben sich schon große Sorgen gemacht.”

Ein Sanitäter betrat das Zimmer.

“Wie geht es dir?”, fragte er.

“Ich weiß nicht.”

“Möchtest du mich hinüber in den Sanitätsraum begleiten? Ich würde dich gerne untersuchen.”

Alex zuckte mit den Schultern. “Warum nicht?”

Während sie aufstand und ihm folgte, fiel ihr ein, wie alt sie war.

Siebzehn Jahre.

Aber nein, sie müsste eigentlich fast doppelt so alt sein.

Sie erinnerte sich daran, dass sie kürzlich ihren dreiunddreißigsten Geburtstag gemeinsam mit Freundinnen gefeiert hatte: Selma, Julia und Vera.

Die drei hatten sie in ein Wellnesshotel eingeladen.

Nach …

Nach …

Es wollte ihr nicht einfallen. Genauso wenig wie der Name des Hotels.

Nur bei den Namen ihrer Freundinnen war sie sich sicher.

Der Sanitäter ging neben ihr den Gang entlang.

“Alles okay?”, fragte er.

Sie nickte.

“Bitte, tritt ein”, sagte er, als sie an einer offen stehenden Tür ankamen. Auf einem kleinen Schild rechts der Tür, auf Augenhöhe, konnte sie das Wort 'Sanitätsraum' lesen.

Sie machte einen Schritt vorwärts und – stand wieder in dem Leichenkühlraum. Ihr wurde schlagartig kalt.

Wie war das passiert?

Gerade eben war sie doch noch in der Polizeidienststelle gewesen!

Als sie sich umdrehte, starrte sie geradewegs auf die gegenüberliegende Tür, hinter der sich das Badezimmer mit der dicken Frau befand. Der Sanitäter hatte sich in Luft aufgelöst.

Sie lief um den Edelstahltisch herum und sah sich den Spind, das Waschbecken und die Schubladen an. Alles hier schien unverändert. Schließlich setzte sie sich auf den Tisch, ließ die Beine baumeln und dachte nach.

Sie verstand überhaupt nichts mehr.

Dies alles entzog sich einer logischen Erklärung.

War sie wahnsinnig geworden?

Fühlte es sich so an, wenn man dement wurde?

Ihr kam in den Sinn, dass man sich bei Demenz an Begebenheiten von früher erinnerte, zum Beispiel an Geschehnisse aus der Kindheit.

Genau das passierte ihr doch im Moment, oder?

Gerade eben war sie noch ein Kind gewesen und jetzt steckte sie wieder im Körper einer dreiunddreißigjährigen Frau.

Oder war sie vielleicht noch älter?

Sie betrachtete ihre Hände. Die Haut wirkte straff und weich, keine Altersflecken.

Aber was hieß das schon?

Eventuell bildete sie sich gerade schon wieder etwas ein.

Möglicherweise war sie bereits deutlich älter. Eine Seniorin, die gerade in einem Pflegeheim vor sich hin vegetierte; gefangen in ihrer eigenen längst vergangenen Welt; ab und zu blitzten Ereignisse ihres früheren Lebens in ihrem Gedächtnis auf.

Sie musste herausfinden, was hier los war.

Denk logisch, sagte sie sich selbst, geh der Sache auf den Grund und überprüfe die Fakten.

Woran erinnerst du dich?

Dein Name ist Alexandra Wilke, du wurdest geboren am 24.11.1982.

Wo, Alex?

Wo wurdest du geboren?

Das wusste man doch! Warum wollte es ihr nicht einfallen?

Der Name und das Geburtsdatum sind genau die Informationen, die du auf dem Kärtchen gefunden hast.

Sind es tatsächlich deine eigenen?

Bist du wirklich Alex Wilke?

Oder hast du nur angenommen, dass es dein Name sei, weil du ihn schwarz auf weiß vor dir gesehen hast?

Sie sah sich erneut um - und erschrak.

Etwas war anders als bisher: Die Schublade links oben stand halb geöffnet.

Warum war ihr dies gerade eben nicht aufgefallen?

Sie hatte Angst davor, doch sie konnte gar nicht anders als nachzusehen, was es damit auf sich hatte.

Ob jemand darin lag?

Wer?

Warum?

Als sie vom Edelstahltisch abstieg und sich der Schublade näherte, sah sie nackte Füße darin. An der großen Zehe des rechten Fußes ein Kärtchen, wie sie es auf dem Boden gefunden hatte.

Sie packte den Griff und zog vorsichtig daran.

Die Schublade war schwer und ließ sich nur sehr langsam öffnen. Ihr Quietschen ging Alex durch Mark und Bein.

Die Person trug ein hellgraues Kleidchen.

So eines hatte sie selbst getragen, als sie auf dem Edelstahltisch gelegen hatte.

Endlich kam das Gesicht zum Vorschein.

Der Junge. Der, den sie auf der Treppe zum ersten Stock gesehen hatte.

Seine Augen waren geschlossen. Er wirkte friedlich.

Der Brustkorb hob und senkte sich nicht.

Sie berührte seine Wange: kalt.

Wer war er?

Ihr fiel ein, dass sie es in Erfahrung bringen könnte.

Sie brauchte nur auf dem Kärtchen an seinem Fuß nachzulesen.

Mit zitternden Fingern löste sie den Draht, der um die große Zehe gewickelt war, und sah sich an, was darauf geschrieben stand.

Das Gelesene machte es nicht leichter für sie:

----------------------

Alex***** Wilke

Geb. 24.11.1982

Gest. **********

----------------------

Zwanzig Sekunden Ewigkeit

Подняться наверх