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Der Wolfsmensch

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Und dann wurde es Sommer. Die Störche klapperten in ihrem Nest hoch oben auf dem Ahorn, der am Eingang zur Allee stand; der Faulbeerbaum neben der Schaukelbank am Spielplatz blühte, die verwilderten Cyrenen- und Jasminbüsche am alten Gartenzaun dufteten betäubend, und die Oleander vor den weißen Säulen der Veranda hatten schon zartrosa Knospen angesetzt.

Schon ganz früh am Morgen drang durch die offenen Fenster ein unermüdliches Kratzen und Scharren ins Haus: Janz harkte mit einem hölzernen Rechen die breite Anfahrt vor dem runden Rasenplatz. Sorgfältig zog er schräge Strichelmuster in den lockeren braunen Grand und wischte behutsam die Spuren seiner nackten großen Füße hinter sich aus. In gemusterten Vierecken, wie Parkett, lag dann der breite Weg in der Morgensonne, schräg durchschnitten vom dunklen Dachschatten, der immer näher ans Haus rückte. Auf dem kurzgeschorenen Rasenplatz glänzten fett und schwarz die frischaufgeworfenen Maulwurfshümpel.

Aurel mußte sie glatttrampeln, aber er tat es nur zaghaft und sehr vorsichtig, um den Maulwürfen, die vielleicht dicht unter seiner Sohle ahnungslos hockten, nicht weh zu tun. Einmal hatte Janz einen gefangen. Er hielt das schwarze kleine Tier mit dem spitzen Rüssel und den komischen krummen Schaufelpfoten in der Hand und meinte lachend:

„Man braucht ihm nur einen kleinen Klaps auf die Schnauze zu geben – dann ist er tot!“

„Und warum willst du ihn totmachen?“ fragte Aurel verwundert.

„Weil er so häßliche Haufen macht“, sagte Janz unbekümmert und griff nach dem Rechenstiel.

Aber Aurel umklammerte den schon zum Schlag erhobenen Rechen, nahm ängstlich, aber doch tapfer das unheimliche schwarze Geschöpf in beide Hände und trug es mit Mila in den kleinen Wald. Wie seidig weich sich das glänzende Fell anfühlte! Und wie schnell sich das Tier in die gelbe, sandige Walderde hineingrub.

Aurel nahm sich nun vor, alle Maulwürfe zu fangen und in den Wald zu tragen: dort durften sie ja ungestört ihre Haufen machen. Aber so tiefer auch mit den Händen in den aufgeworfenen Erdhümpeln herumwühlte – niemals konnte er einen erwischen.

„Mein Gott“, seufzte die Mutter, „was hast du wieder für Pfoten!“

Und Karlin mußte warmes Wasser und Karlomchen grüne Seife bringen, und die Mutter band sich feierlich eine blaue Schürze vor – war aber gleich so erschöpft, daß sie kraftlos in den Stuhl sank und Mila die erdigen Hände mit einer Bürste schrubben mußte.

Das Händewaschen machte Aurel Spaß. Er tat es jetzt ganz von selbst. Aber nicht, um die Finger rein zu bekommen, sondern nur, um zu sehen, wie der Seifenschaum, wenn man ihn tüchtig rieb, immer tiefer in die Haut hineinging und schließlich ganz verschwand. Die Hände fühlten sich dann so merkwürdig glatt und seifig an. Und wenn man sie später irgendwo ins Wasser steckte, fingen sie wieder an zu schäumen. Das war ein großes Wunder, mit dem er Adda und Janit, dem kleinen Verwalterssohn, imponieren konnte, wenn sie am Teich mit ihren Segelschiffen spielten.

Sie hockten auf dem schmalen Brettersteg, der auf einem Holzbock in das von grüner Entengrütze, Schlamm und Schilf verwachsene Wasser ragte. Nur eine kleine Stelle dicht am Steg war klar, und wenn man sich tief bückte und den Arm hineintauchte, konnte man fast den lehmigen Grund berühren. Von hier aus traten die Segelschiffe ihre weiten Weltreisen an, die immer irgendwo in der dicken Entengrütze endeten, so das Janz mit aufgekrempelten Hosen sie aus dem Wasser holen mußte. Hier gab es grüne Frösche, quabblige Kaulquappen, Feuersalamander mit roten Bäuchen, blanke, grünschillernde Wasserkäfer und die unheimlichen schwarzen Blutegel, die Janz sich lachend an die Wade setzte, wenn Aurel es haben wollte. Und hier konnte er das Seifenwunder vorführen:

„Seht, ich habe kein Stückchen Seife!“ Er hielt beide Hände in die Luft, Adda und Janit untersuchten sie ganz genau. Dann tauchte er sie ins Wasser, rieb und rieb sie eifrig aneinander, und langsam fingen sie an zu schäumen!

Auch Marz, der alte Kutscher, der gerade zum Wasserschöpfen kam, um die Kalesche zu putzen, schüttelte verwundert seinen buschigen Vollbart. Und dann durfte Aurel auf den Bock klettern, die verstaubte Lederschutzdecke auf- und wieder herunterschlagen, die angetrockneten Schmutzspritzer abkratzen, zum gewölbten hochgeklappten Verdeck hinauflangen.

Aber noch schöner war es drinnen im dunklen Wagenhaus, wo die vielen Equipagen unter weißen Staubdecken standen: das „kleine“ Kupee, das „große“ Kupee, der alte „Wasok“ – eine Art russische Kibitke – Kaleschen, Korbwagen, Jagdwagen und die mächtige, nur mit sechs Pferden zu fahrende „Familien-Droschke“, ein Ungetüm aus Urgroßvaters Zeiten.

Unter den herunterhängenden Decken konnte man überall hineinkriechen; am liebsten setzten sich Aurel und Adda in das „große“ Kupee, lehnten sich tief zurück, steckten die Arme in die breiten, mit bunten Glasperlen bestickten Armhänger, lehnten die Köpfe gegen die Schlummerrollen und federten auf dem weichen Polster. An den Fenstern waren dunkelgrüne Seidenrouleaus mit Fransen angebracht, zupfte man an einem Schnürchen, schnellten sie in die Höhe und rollten sich oben auf. Zog man an einer Troddel, klingelte ein helles silbernes Glöckchen oben auf dem Bock. In dieser Kutsche war Großtante Ernestine über Königsberg zur Kur nach Marienbad gefahren! Wie es in allen Ecken nach Mottenpulver, nach altem Parfüm, uraltem Reisestaub roch!

Und neben dem Wagenhaus war der Pferdestall; ein angenagelter Habicht, von dem nur noch ein paar zerzauste Flügelfedern übrig waren, spreizte sich über der Tür.

Gleich am Eingang neben der Häckselmaschine stand die große Wassertonne, aus der die Pferde mit gesenkten Köpfen so merkwürdig lautlos tranken. Nur die sammetweichen Nüstern bewegten sich saugend über dem dunklen Wasserspiegel. Da standen die Pferde in den hohen Boxen: Ehra, die Fuchsstute; der dunkelbraune Viererzug: Brauni, Iipsi, Mascha und Mazurka; die beiden Apfelschimmel: Schalk und Scheck; und Hamilkar, der alte blinde Rappe, der nur noch zum Wasserfahren benutzt wurde. Sie mahlten mit den Mäulern, schnaubten, wendeten die langen, schmalen Köpfe – die Ketten klirrten, und dann und wann stampfte ein Huf. Wie Aurel diese schwere, von Pferde-, Zaumzeug- und Hafergeruch gesättigte Luft liebte!

Die viereckige Düngerluke zum Garten stand offen. Grell und blendend, wie mit einem scharfen Messer herausgeschnitten, lag das Gartenstück im flimmernden Mittagslicht. Über den dichten Stachelbeerbüschen krümmten sich die alten kalkbespritzten Apfelstämme unter ihrer wachsenden Last. Weiße Kohlschmetterlinge schaukelten, Bienen brummten und Spatzen tschiebsten in der brütenden Luft.

Aurel kletterte durch die Luke über den brodelnd warmen Düngerhaufen zu den Mistbeeten hinunter, zog eine rote Karotte aus der fetten Erde, wischte sie mit ihrem eigenen Blätterstengel ab und biß in die süße, harte Frucht. Die Erdkörner knirschten zwischen den Zähnen.

Eine dunkle Wolke, hob sich der lärmende Spatzenschwarm aus dem Erbsenspalier und warf sich in den großen Cyrenenbusch am Ziehbrunnen. Knarrend senkte sich die lange Brunnenstange in die Tiefe. Janz schöpfte Wasser.

„Willst du sehen, wie tief die Erde ist?“ rief er lachend über den Zaun.

Aurel rannte aufgeregt durch die Pforte, und Janz hob ihn an den bemoosten Bohlenrand des dunklen Brunnenschachtes. Mit der anderen Hand stieß er langsam die Stange mit dem Eimer in den Abgrund. Wie unergründlich tief lag dort unten der blaue Himmel.

„Siehst du, wie tief die Erde ist? Dort hört sie auf, dort ist nur Wasser!“

Mit einem klatschenden Schlag stieß der Eimer in den Himmel, zerschlug den Spiegel, füllte sich mit Wasser und stieg schwankend und schwappend aufwärts. Dann setzte Janz Eimer und Jungen auf den Rasen.

„Willst du schmecken, wie kalt das Wasser ist?“

Aurel beugte sich über den grünbemoosten Holzeimer. Das noch schaukelnde Wasser schlug ihm eisig in das erhitzte Gesicht.

„Und noch tiefer“, erklärte Janz, indem er die große Karaffe füllte, „ist lauter Eis. Die Erde ist eine Eiskugel, die nur oben ein wenig von der Sonne angewärmt wird!“

Da rief Mila von der Küchentreppe, und Aurel mußte zum Mittagessen ins Haus.

Unter der Erde war kaltes Wasser, Eis und Finsternis. Aber auf der moorigen Wiese, am Rande der Pferdekoppel, brannte die Sonne. Die Luft über den Gräsern, den blauen Glockenblumen, dem gelben Löwenmaul und den roten Kleebällen flimmerte; die Blätter der Ellernbüsche am Stangenzaun hingen schlaff und unbewegt in der drückenden Glut.

Aurel ging hinter Mila her auf dem schmalen Fußweg, der an der Koppel entlang zum Kirchhof führte. Er hielt einen kleinen bunten Tonkrug in der Hand, und Mila trug eine tiefe Blechkanne am Henkel. Unter ihrem dunkelroten Rock schauten die nackten, von schwarzen Sandalenriemen umwickelten Knöchel hervor.

Plötzlich blieb sie stehen. Als Aurel aufschaute, sah er im Ellerngestrüpp am Zaun das braune, verschlafene Gesicht von Wannag, dem jungen Pferdeknecht. Wannag schlief immer; auch wenn er die Pferde striegelte oder die Häckselmaschine drehte, tat er dies wie im Schlaf. Gähnend, mit merkwürdig unbewegten Augen stand er da hinter dem Zaun, den nackten großen Fuß auf der wippenden Birkenstange.

Aurel sollte ein wenig vorauslaufen, und als dann Mila später nachkam, war das weiße Kopftuch ihr tief in den Nacken gerutscht. Ihre Wangen glühten unter den schwarzen, wirr hervorquellenden Haaren.

„Ist das eine Hitze!“ stöhnte sie, indem sie mit hochgehobenen Armen das Kopftuch wieder in Ordnung brachte.

Langsam stiegen sie den steilen Hang zum Kirchhof hinauf. Aber auch hinter der dichten Tannenhecke, unter den hohen Birken und Kiefern war es drückend heiß. Und nachdem sie einen halben Krug Erdbeeren gepflückt hatten, setzten sie sich auf einen flachen Grabstein, der eingesunken im hohen Grase lag. Etwas abseits, hinter einer Reihe solcher Steinplatten, stand ein weißes Marmorkreuz mit verblaßter Goldschrift neben einem kleinen Hügel. Sonst war der Kirchhof eine Wildnis, in der Fichten, Kiefern, Birken, stämmige Eichen, stachlige Wacholderbüsche, ja sogar weichnadlige Lärchen durcheinanderwuchsen.

„Liegen die Toten tief in der Erde?“ fragte Aurel und steckte sich eine dunkle Erdbeere in den Mund.

„Ja, tief“, sagte Mila, „sehr tief. Die können nie mehr heraus.“

„Im Wasser oder noch tiefer im Eis?“

„Nein, in der Erde, die ist tief genug“, erklärte Mila mit einem abwesenden Gesicht.

Aurel überlegte: darum begräbt man also die Toten auf einem Berg, damit sie nicht im Wasser liegen müssen.

„Und warum legt man so schwere Steine auf die Gräber?“ fragte er nach einer Weile.

Mila schwieg. Dann sagte sie leise:

„Damit die Toten nicht wiederkehren.“

„Aber auf dem Grab dort liegt kein Stein, da steht nur ein Kreuz.“ Aurel wies auf den kleinen Rasenhügel.

„Dort liegt dein totes Schwesterchen“, sagte Mila ernst. „Und das ist ja auch wiedergekommen“, fügte sie nach einer Weile lächelnd hinzu.

„Und alle anderen dürfen nie wiederkommen?“ Aurel sah Mila erschrokken an.

Sie schüttelte das weiße Kopftuch:

„Nein, nie.“

Aurel grübelte.

„Und wer liegt unter diesem Stein?“

Mila war aufgestanden. Sie gingen an der Gräberreihe entlang, und Mila zeigte auf die einzelnen Steinplatten:

„Dein Großvater, und dessen Vater, und dessen Vater …“

„Und die Großmütter?“

„Die Großfrauen liegen alle neben ihnen, unter demselben Stein. Und hier liegt der General, der gegen die russischen Heiden kämpfte und mit dem schwedischen König bis in die Türkei ritt.“

Aurel blieb stehen:

„Und warum hebt man nicht den Stein auf, damit er wiederkommen und weiterkämpfen kann?“

„Weil er genug gekämpft hat“, meinte Mila, „und weil genug Blut geflossen ist!“

„Und werde ich auch einmal hier liegen?“ forschte Aurel weiter und holte sich wieder eine Erdbeere aus dem Krug.

„Vielleicht, wenn die großen Brüder dir genug Platz übriglassen“, lachte Mila und öffnete die hohe weiße Holzpforte.

„Und du – dann liegst du doch neben mir, aber wir wollen keinen schweren Stein auf uns haben!“

„Nein“, Mila schüttelte wieder das weiße Kopftuch, „ich darf nicht hier liegen. Dieser Kirchhof ist nur für die Herrschaft, für die Großherren und Großfrauen, nicht für unsereinen. Wir werden auf dem Gemeindefriedhof begraben – da ist es enger, aber man ist auch näher beisammen. Und die Erde ist leicht: kein Stein liegt darauf, nur viele Blumen. Darum kommen wir immer wieder, und darum sind wir mehr als ihr. Ihr werdet immer weniger, und wir werden immer mehr!“

„Dann will ich bei dir unter den Blumen liegen!“ erklärte Aurel und griff nach Milas Hand.

„Das geht nicht“, sagte Mila mit einem traurigen Lächeln und schloß die weiße Kirchhofspforte. „Das schickt sich nicht für einen Jungherrn!“

Wieder war die gläserne Wand da: so dick wie eine Kirchhofsmauer und so hoch wie diese hölzerne Pforte. Auch wenn man tot war, konnte man nie hinüber.

„Hier hast du es ja auch viel schöner“, suchte Mila ihn zu trösten. „Unsere Toten liegen so dicht nebeneinander, daß sie sich gar nicht in den Gräbern bewegen können!“

„Und warum liegen sie so dicht beisammen?“ fragte Aurel weiter. Sie gingen jetzt auf dem Feldweg, der an der alten Windmühle vorbei zum Hofe führte.

Mila blieb auf der kleinen Anhöhe neben der Mühle stehen. Die großen grauen Windflügel standen still, ein dunkles Kreuz gegen den hellen Sommerhimmel. Dann sagte Mila ernst:

„Weil wir so wenig Erde haben!“

Aurel begriff das nicht: gibt es nicht genug Erde – überall Erde, so weit man sehen kann? Verwundert fragte er:

„Warum nehmt ihr dann nicht die Erde, die ihr braucht?“

„Nein, das geht nicht“, erklärte Mila, „weil die Erde deinem Vater gehört!“

„Die ganze Erde?“

„Nicht die ganze, aber so weit du sehen kannst und noch weiter. Und wo die Grenze von Blumbergshof aufhört, da fängt ein anderes Gut an, das einem anderen Herrn gehört. Denn die Erde gehört nur den Herren, wie der Himmel nur Gott gehört. Das ist nun einmal so eingerichtet.“

Aurel hob sich auf den Zehenspitzen, aber das war ihm nicht hoch genug: Mila mußte ihn auf ihre Arme nehmen. Von hier aus konnte er das weite Land übersehen, das im grellen Licht der schon tief geneigten Sonne dalag. Er streckte den kleinen Arm aus und beschrieb einen Bogen durch die Luft:

„Die ganze Wiese bis zum Wald – gehört die Papa?“

Mila nickte mit dem Kopf:

„Ja, das alles gehört dem Großherrn. Und der Wald auch!“

„Und dort“, Aurel wies auf die andere Seite, „alle diese Felder, die Allee und der Krug – gehört das alles ganz allein Papa?“

„Ja“, bestätigte Mila, „alle Felder und auch die Heuschläge und Wälder hinter dem Krug – alles gehört dem Großherrn!“

Aurel schwieg überwältigt. Der Vater erschien ihm fast so groß wie der liebe Gott.

„Und das alles“, fuhr Mila fort, indem sie den Jungen wieder auf die Erde setzte, „wird einmal den großen Brüdern und dir gehören!“

„Dann nehm’ ich den Kleinen Wald“, erklärte Aurel eifrig, als sie weitergingen, „und bau’ dir ein Haus, und dann haben wir genug Erde, damit wir zusammen begraben werden!“

Auf dem Viehweg, der von der Landstraße zum Hofe führte, kam ihnen die Herde entgegen. Eine rosa Staubwolke, durch die schräge Sonnenstrahlen fielen, zog hinter der Herde her, die jetzt zu den Ställen einbog. Die braunen und schwarzweiß gefleckten Leiber der Kühe schaukelten, die Hörner wiegten sich, eine schwarze Kuh ging an der Spitze.

„Das bedeutet Unglück!“ meinte Mila ärgerlich. „Warum läßt der Pakalneek die Schwarze an der Spitze gehen?“

„Was für ein Unglück?“ fragte Aurel erschrocken.

„Irgendeins“, sagte Mila und blieb am schrägen Bretterzaun stehen, „Unwetter, Feuerschaden oder Tod!“

Jetzt trappelten die Schafe, dichtgedrängt, eine weiche, wollige Masse, blökend mit langen, schwappenden Ohren vorüber. Pakalneek, der alte Hirt, mit zerrissenem, tief über das Gesicht hängendem Strohhut und bloßen Füßen, schlurfte, eine Rute in der Hand, hintendrein. Aber gleich hatte auch ihn die dicke Staubwolke verschluckt.

„Und die Kühe und Schafe – gehören auch die alle Papa?“ fragte Aurel.

„Ja, auch alle Kühe und Schafe und alle Pferde und alle Schweine und alle Hühner und Enten und alle Häuser!“

Sie kamen jetzt am Knechtshaus vorbei, einem roten, kahlen Ziegelsteinbau mit kleinen schwarzen Fensterhöhlen. Vor der Tür, im Staube, wälzten sich halbnackte Kinder in braunen Lumpen. Eine alte Frau humpelte über die Schwelle, bückte sich tief und griff nach Aurels Hand. Er wich ängstlich zurück, aber schon fühlte er den harten, zahnlosen Mund auf der Haut und hörte das unheimliche Zauberwort „Jungherr“, das ihn kalt, wie etwas Feindliches, anwehte.

Aber dann öffnete sich die Gartenpforte, die dichten Johannisbeersträucher und die niedrigen Apfelbäume nahmen ihn schützend auf; von den Blumenrabatten vor der Gartenveranda dufteten Levkojen und Reseda, und oben auf der hölzernen Treppe, neben dem Geländer, stand die Mutter, beugte sich nieder, breitete die Arme aus und drückte den Jungen an ihr Herz.

Nun war alles wieder gut, alle Fragen, alle dunkle Unruhe verstummt. Die Toten lagen auf dem Kirchhof, aber der Kirchhof war weit. Und die Knechtskinder wälzten sich in dickem Staub – aber das Knechtshaus war tief unten, hinter dem Gartenzaun. Die Welt war wieder schön, und dies hier war die Welt: das Haus mit den weißen Säulen, den blühenden Oleandern, den hohen schlanken Lebensbäumen, die sich, eine grüne Mauer, schützend auf der Gartenseite erhoben. Und alles, alles gehörte Papa.

Der Vater wurde ihm dadurch noch rätselhafter, noch fremder. Auch wenn er jetzt oft auf der Veranda saß, im Korbstuhl, die lange Pfeife zwischen den Knien, und über den runden Rasenplatz in den dunklen Schlauch der Allee blickte, an deren Ende, unter den tief herunterhängenden Lindenzweigen, der rote Ziegelsteinfleck des Kruges schimmerte. Von hier aus konnte man auch den Wirtschaftsweg übersehen, der hinter einer dünnen Blättergardine junger Laubbäume quer über den Hof führte, so daß jedes Gefährt und jeder, der vorüberging, wie vor einer Linse die runde Einfahrt der Allee überqueren mußte. Und weiter zwischen einigen Lücken dieser „Gardine“ schimmerte sogar die alte Landstraße durch, die am Kruge vorbeizog.

Dies war der Lieblingsplatz des Vaters; von hier aus konnte er beobachten, wer zum Verwalterhaus, wer zu den Ställen, wer zur Klete ging, wer zum Kornmagazin und wer zur Mühle fuhr. Hier sah man den Postboten oder den Fleischer in ihren klappernden Wägelchen vom Krug her durch die Allee zuckeln, die sonst nur von herrschaftlichen Equipagen benutzt werden durfte. Aber der Postbote kam nur zweimal in der Woche und der Fleischer noch seltener, so daß der Weg zwischen den Wagenspuren vergraste.

Kam ein Knecht oder der Viehpfleger oder der Verwalter an der Alleeöffnung vorbei, so blieb er stehen, zog tief den Hut und ging erst weiter, wenn der Vater den Gruß mit einem Kopfnicken oder einem Wort erwidert hatte. Ja, einmal hatte Aurel sogar gesehen, wie zwei uralte Bäuerchen vor dem Vater auf der Veranda in die Knie gefallen, auf den Knien bis zu ihm gerutscht waren und kniend seine Hand geküßt hatten. Der Vater war wirklich fast wie der liebe Gott und auch wie Gott oft lange unsichtbar. Manchmal war er ganz verschwunden, irgendwo auf den Nachbargütern oder in der Stadt.

Und dann geschah es, daß an einem heißen Sommertage alle Polstermöbel, Kissen, Matratzen, Heusäcke und Decken auf den runden Rasenplatz wanderten und hier ein ohrenbetäubendes Klopfen begann. Die schwarze Tina, Karlin, Janz, sogar Minna, die alte Waschfrau, liefen aufgeregt hin und her, schüttelten die Matratzen, trugen Lehnstühle, Sofas, Couchetten, klapperten und klopften. Auch Karlomchen und die Mutter griffen zu, schleppten die Pelze, die Jagdmuffen und Fußsäcke aus den Truhen, hingen die Bären- und Elchfelle auf dem Geländer der Veranda auf.

Die großen Brüder hatten sich gewöhnlich an solchen Tagen rechtzeitig gedrückt und waren irgendwo in die Koppel oder in den Wald verschwunden. Aber Aurel und Adda wälzten sich auf den roten Matratzen, bauten Kaleschen aus den Polsterstühlen und Kissen und schleppen das Schaukelpferd hinaus. Wie sonderbar so ein Sofa, so eine Couchette auf dem Grase aussah – aber das waren dann gar keine Möbel mehr, das waren Ozeandampfer, Eisenbahnen, Karossen. Und der Rasenplatz war die Welt: rund und ohne Grenzen.

Wie die Mittagssonne schmorte, wie die Luft flimmerte, wie tief im blauen Himmel die weißen Sommerwolken schwammen! Waldi, die alte Jagdhündin, lag mit herausgestreckter Zunge auf der Verandastufe, Sagrei auf dem Rasen, und Schamyl hatte sich unter dem Sofa verkrochen. Sogar die Schmetterlinge flatterten nur träge in der Luft, und zwei waren zusammengewachsen und konnten überhaupt kaum noch fliegen. Sollte man sie nicht auseinandernehmen? Aber die schwarze Tina lachte nur: sie fand das komisch. Und die Mutter sagte ernst: „Laß sie nur, wie sie sind.“ Das Schmetterlingspärchen taumelte weiter.

Wie es von der Lindenlaube her duftete und summte! Die dunklen Kronen der uralten Bäume ragten bis über den Giebel des silbergrauen Schindeldaches. Alle waren ins Haus gegangen. Nur Aurel lag noch, versteckt zwischen Sofa und Stühlen, auf einer Matratze und blinzelte mit halb geschlossenen Augen in das flirrende Licht. Und dann schlief er ein.

Karlomchen weckte ihn. Wie traurig besorgt sie ihn über die schiefgeneigten Brillengläser ansah, und wie sonderbar ihre Stimme klang. Er sollte gleich zur Mutter kommen.

Auf der Veranda begegnete er der schwarzen Tina. Sie hielt den Klopfer in der Hand und hatte so erschrockene Augen. Im Schlafzimmer war es dunkel und kühl. Die grünen Fenstervorhänge waren zugezogen. Nur ein schmaler Lichtstreifen fiel schräg über den Fußboden bis zum Bett, in dem die Mutter, den Kopf tief in die Kissen gedrückt, lag. Sie zog den Jungen an sich und strich mit der Hand über sein Haar. Dann sprach sie, aber ihre Stimme war so leise, daß Aurel nur das Summen der Fliegen hinter dem Fenstervorhang hörte. Und als endlich die Worte zu ihm drangen, konnte er sie nicht begreifen. Er starrte angestrengt auf seine nackten Beine, die über die Bettkante baumelten. Wenn er den einen Fuß ein wenig vorstreckte, berührte er mit den Zehen den kühlen Nachttisch. Und wenn er den großen Zeh etwas einbog, konnte er mit dem Nagel das glattpolierte Holz kratzen. Nein, er begriff nicht, was die Mutter da sagte, warum Mila jetzt fortgehen, ohne ihn fortgehen sollte.

„Willst du denn gar nicht bei mir bleiben?“ fragte die Mutter traurig.

„Ich bleibe bei dir und Mila“, erklärte er immer wieder.

„Und wenn Mila fortgeht?“

„Warum muß Mila fort?“

Nein, das begriff er nicht. Noch weniger: er verstand überhaupt nicht den Sinn dieser Worte. Mila war ein Stück von ihm wie die Mutter. Konnte man ihn denn entzweischneiden, mittendurch in zwei Teile? Nein, das konnte man nicht. Wenn er hierblieb, dann blieb auch Mila hier. Die Mutter machte nur Spaß. Wie kühl das polierte Holz war, und wie schön der Nagel kratzen konnte, wenn man den großen Zeh zusammenzog.

Aber dann führte Karlomchen den Jungen ins Spielzimmer, und hier stand Mila, das weiße Kopftuch und das rote, aufgequollene Gesicht, und sie hatte keine Schürze um, und statt der Sandalen trug sie richtige Stiefel. Sie sah so fremd aus, nur das Kopftuch war wie immer ein wenig auf die Seite gerutscht, aber jetzt fing es plötzlich an so merkwürdig zu zucken, beugte sich nieder – und dann sah Aurel nichts mehr. Er fühlte nur, wie etwas Heißes, Bebendes aufstieg, wie etwas Furchtbares, Unbegreifliches ihn schüttelte, die Kehle zusammenschnürte und endlich brennend wie fließendes Feuer in die Augen stürzte.

Aber begriffen hatte er es noch immer nicht, auch nicht, als die Tür sich schloß, als er allein da stand, als Karlomchen kam und ihn schlafen legte. Er ließ alles ruhig mit sich geschehen. Die schwarze Tina wusch ihn, sie sollte diese Nacht bei ihm schlafen. Karlomchen brachte das Abendbrot, aber essen konnte er nicht. Dann betete sie wie immer mit ihm, auch die Mutter kam noch zum Gutenachtkuß. Minka sprang zwischen den Gitterstäben ins Bett, der Junge schlief ein.

Mitten in der Nacht wachte er auf. Es war so merkwürdig dämmerhell im Zimmer, wie gedämpftes Mondlicht, nicht Tag, nicht Nacht. Alle Dinge konnte man sehen, aber alle Dinge waren hinter einem Schleier: der weiße Kachelofen, der Strohstuhl, Milas Bett. Aurel richtete den Kopf auf und starrte hinüber.

„Mila!“ rief er.

Aber keine Antwort kam, nur ein gleichmäßiges, tiefes Atmen. Er mußte zu ihr, er mußte sie wecken, er mußte sehen, daß alles ein böser Traum war, daß sie dalag und daß sie immer bei ihm bleiben würde.

Leise erhob er sich aus der warmen Decke, kletterte vorsichtig über das Gitter, trippelte mit den bloßen Füßen über die kühlen Bohlenbretter und blieb vor Milas Bett stehen. Aber da war keine Mila. Ein fremder, im Schlaf zerwühlter Kopf lag dort auf dem Kissen mit offenem Mund.

Aurel erstarrte. Lange stand er da wie gelähmt. Dann hatte er es begriffen: Mila war fort, und er war hier ohne Mila. Er wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Irgend etwas würgte seinen Hals. Nur mühsam konnte er den Kopf wenden wie damals, als der Schatten des Wolfsmenschen auf sein Bett fiel. Und plötzlich wußte er: der Wolfsmensch hatte Mila geholt. Und jetzt wollte er ihr Herz fressen. Er mußte zu ihr, er mußte sie retten, jetzt gleich, bevor es zu spät war. Er brauchte ja nur durch den Garten zu laufen, da wußte er unten ein Loch im Zaun, und dann über den Heuschlag, immer am Graben entlang, bis zum Großen Walde – wenn er dann rief, würde Mila ihn hören. Noch konnte der Wolfsmensch sie ja nicht weit fortgeschleppt haben. Aber er mußte sich beeilen.

Leise kletterte Aurel auf den Strohstuhl und von dort auf das Fensterbrett. Jetzt saß er im Nachthemd auf dem harten Holz, hielt sich am Fensterhaken und tastete mit den nackten Beinen in die Tiefe. Wie kühl und feucht die Blätter des wilden Weines waren, der die Gartenseite des Hauses berankte. Und wie schwarz und schmal sich die Lebensbäume gegen den blaßgrünen Himmel abhoben.

Vom Heuschlag stiegen weiße Nebel auf, und dahinter am Horizont zog sich ein langer roter Streifen über den schwarzen Wald. Eine Schnarrwachtel knarrte.

Dorthin mußte er; wenn er den Fensterhaken losließ, kam er schon hinunter – tief konnte es ja nicht sein …

„Aber Aurel!“

Er fühlte sich von hinten umschlungen – Karlomchen hielt ihn und zog ihn ins Zimmer zurück. Dann lag er schluchzend im Bett.

Die weiche, warme Dämmerung war hart und kalt geworden, die tiefe Geborgenheit war zerrissen.

Vom offenen Fenster wehte kühl ein erstes schmerzliches Verlorensein.

Die baltische Tragödie

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