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Die große Kalesche

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Die große Kalesche mit dem Viererzug steht vor der Veranda; Marz sitzt in seinem blauen Kutscherrock mit den Silberknöpfen und dem enggeschnürten Gürtel dick und steif auf dem Bock; Janz und die schwarze Tina binden hinten unter dem zurückgeklappten Verdeck den großen Reisekoffer auf; Karlin rennt aufgeregt mit einer Hutschachtel, Handtaschen und Plaids hin und her; Karlomchen hält den Speisepaudel in der Hand.

Tof sitzt schon neben Marz auf dem Bock. Dann steigen die Mutter und der Vater ein, in weißen Staubmänteln, zuletzt klettern Adda und Aurel auf das blau gepolsterte Bänkchen, das auf der Rückseite des Bockes vor den Füßen der Eltern aufgeklappt ist.

Schon ziehen die Pferde an, da ruft die Mutter: „Der Schirm! Der Schirm!“ und Marz muß noch einmal halten. „Der Schirm!“ ruft die schwarze Tina. „Der Schirm!“ Fömarie. Alles ruft: „Der Schirm!“ Aber da kommt schon Karlomchen mit dem Schirm angerannt, die Kalesche rollt um den runden Rasenplatz, alles winkt von der Veranda, und dann biegt der Wagen in die Allee.

Diesmal ist es eine weite Reise, eine „Wurstpartie“, sagt der Vater: „Wo die eine Wurst aufhört, da fängt die andre an!“ Und die Würste, das sind die vielen Onkel und Tanten.

Balthasar und Reinhard werden nämlich in Altschwanensee konfirmiert, und da kann man auf dem Wege dorthin die vielen Verwandten abgrasen.

Zuerst kommen die Mojahnschen an die Reihe. Onkel Leopold hat noch immer Haarbüschel in den Ohren und Nasenlöchern und den Gummistock mit dem Elfenbeingriff. Und Tante Melanie häkelt an einem neuen Wunderknaul. In Mojahn sind alle gelben Rouleaus heruntergelassen, damit es kühl bleibt und die Sonne nicht blendet. Auf dem Fensterbrett stehen überall Teller mit lila Fliegenpapier, auf denen es von toten und halbtoten Fliegen wimmelt. Onkel Leopold kämpft einen erbitterten Kampf gegen alles, was er „Biester“ nennt, und Fliegen und Russen sind „Biester“.

„Ich begreife nicht“, sagt er und stelzt, auf den Stock gestützt, mit einer Fliegenklappe von einer Wand zur andern, „ich begreife nicht, warum der liebe Gott diese Biester geschaffen hat!“

Und jedesmal wenn die Klappe klatscht, erklärt er feierlich: „Iwan, du bist tot!“

Dann führt er Aurel und Christof in sein Schlafzimmer.

„Für jede Fliege“, sagt er, „die ihr hier fangt, schenke ich euch ein silbernes Zehnkopekenstück!“

Darauf schloß er die Tür, und Aurel und Tof blieben allein im unheimlich dunklen, von blauen Gardinen verhängten Raum. Irgendwo hoch oben am Fenster summte eine Fliege. Tof kletterte aufs Fensterbrett, konnte sie aber nicht fangen.

„Das machen wir einfacher“, sagte er, sprang herunter, öffnete leise die Tür und kam bald mit zwei gefangenen Fliegen zurück.

„Aber die hast du nicht hier gefangen!“ meinte Aurel.

„Doch“, versicherte Tof eifrig, „ich werde sie hier fangen!“ Damit ließ er die Fliegen los und brachte gleich neue. Dann fing er sie an der Fensterscheibe und zerquetschte sie mit dem Daumen.

„Du kannst auch eine zerquetschen“, sagte er großmütig.

Aurel hielt eine Fliege zwischen den Fingern, als er aber sah, daß er ihr den Flügel ausgerissen hatte, ließ er sie los und lief entsetzt fort.

Am Nachmittag ging Onkel Leopold mit dem Vater und Aurel über den Hof. Die Knechtskinder liefen auf ihn zu, und er hielt ihnen den Elfenbeinstock hin, den sie ehrfürchtig küßten.

„Die Rotznasen säwern so“, sagte der Onkel zum Vater.

Am andern Morgen führte der alte Mojahnsche Aurel und Christof vor die große Wanduhr, die im Speisezimmer hing.

„Seht euch diese Uhr an“, erklärte er feierlich und wies mit dem Stock auf das Zifferblatt. „Dies ist die letzte Uhr in Livland, die richtig nach altlivländischer Zeit geht! Die Petersburger Affen können machen, was sie wollen, aber die Sonne und die Uhr in Mojahn können sie doch nicht umstellen!“

„Mein Gott, es ist schon zehn“, sagte die Mutter, „wir müssen fahren!“

„Es ist zwanzig Minuten vor zehn“, polterte Onkel Leopold ingrimmig. „Ihr habt also noch Zeit!“

Nein, die Koiküllschen Cousinen wollte der Vater nicht besuchen.

„Aber das ist sehr unhöflich“, meinte die Mutter, „wenn sie es später erfahren …“

„Um so besser“, lachte der Vater, „dann lassen sie beim nächsten Weihnachtsbesuch selbst anspannen!“

Und so fuhr die Kalesche an Koiküll vorbei und hielt statt dessen am Krug von Trikaten, hier mußten die Pferde abgefüttert werden.

Auf dem Rasenhügel neben der Ruine lagerte man, der Speisepaudel wurde ausgepackt, Tof und Aurel durften in der Krugbude Pfefferkuchen kaufen, Pfefferkuchen, die so groß, so dick und so zäh wie alte Stiefelsohlen waren, mit einer Mandel in der Mitte, und die nach trockenem Sand schmeckten.

„Warum ist das Haus kaputt?“ fragte Aurel und zeigte auf die Ruine.

„Einmal war es ein Schloß“, sagte die Mutter, „und Ritter wohnten darin. Aber dann kamen die Russen und zerstörten die Burg.“

„Und die Ritter?“ erkundigte sich Aurel.

„Die sind im Kampf gefallen“, erklärte die Mutter.

„Alle?“

„Alle.“

Die Mutter schwieg. Verwittert und grau ragte die zerbröckelte Mauer in den sommerlichen Himmel. Im Grase zirpte es. Ein grauer Würger mit schwarzem Strich durch die Augen wippte schmatzend auf der Spitze eines Ellernbusches.

Es war schon Abend, als sie in Kangermois ankamen. Onkel Gottlieb, im grauen Schlafrock mit roten Aufschlägen, eine Petroleumlampe in der Hand, stand auf der Veranda, und um ihn herum wimmelten die Cousinen: Marliese, Agathe und Clementine. Alle hatten blau karierte Schürzen und rote Gesichter. Alle umarmten, küßten, lachten und rissen sich um die Kinder:

„Nein, der gehört mir!“ – „Nein, mir!“

Aurel und Adda wurden hin und her gezerrt. Endlich waren die Kinder verteilt: jede Cousine hatte eins. Und jede schleifte ihren Schützling mit sich herum: in den Hühnerstall, in den Viehstall, zu den Kälbern und Ferkeln.

Onkel Gottlieb ging immer im Schlafrock und Pantoffeln, zwei rote Troddeln auf dem Bauch. Jeden Morgen wanderte er so in den Viehstall, und jeden Abend saß er so auf der Veranda und sah zu, wie die Herde heimkehrte. Nur mittags zog er sich einen weißen Leinenrock an, kurze Reithosen und Wasserstiefel, obgleich er niemals ritt und nie spazierenging. Und die drei oberen Knöpfe der Weste waren immer offen, und auch ein Hosenknopf vorn war gewöhnlich aufgegangen.

„Aber Vater“, sagte Marliese und stieß ihn an.

„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb, denn er war harthörig.

„Der Knopf!“ stöhnte Marliese.

„Es belohnt sich nicht!“ brummte Onkel Gottlieb laut und knöpfte sich ungeniert die Hose zu.

„Wir sollten das Verandageländer in Ordnung bringen lassen“, seufzte Agathe.

„Und die Dachrinne soll verstopft sein!“ klagte Clementine.

„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb.

„Die Dachrinne ist verstopft!“ trompetete Clementine.

„Verstopft? Wer ist verstopft?“

„Die Dachrinne!“

„Das belohnt sich nicht!“ knurrte Onkel Gottlieb ärgerlich. „Irgendwo wird das Wasser schon abfließen!“

Nur die Kühe waren seine Leidenschaft, und auch der Vater und die Mutter mußten sie bewundern. Aurel ging mit.

„Wa?“ brüllte Onkel Gottlieb, als sie vor dem Zuchtstier standen.

„Großartig!“ sagte der Vater anerkennend.

„Wa?“

„Großartig! Ein großartiger Stier!“ schrie der Vater verzweifelt.

„Das weiß ich, daß es keine Kuh ist!“ brummte Onkel Gottlieb und ging weiter.

Die Mutter stelzte unglücklich mit hochgehobenen Röcken zwischen den vielen Kuhschwänzen umher: „Mein Gott, Aurel, schnell zur Seite!“

„Kühe sehen doch immer wie Kühe aus“, meinte sie erschöpft, als sie ins Haus zurückgingen.

„Wa?“ brüllte Onkel Gottlieb.

„Wunderbare Kühe!“ schrie die Mutter, so laut sie konnte.

„Gar kein Wunder“, knurrte Onkel Gottlieb verdrießlich, „wenn man sie richtig hält und füttert!“

Bei Tisch erzählte Onkel Gottlieb manchmal Geschichten, die Aurel nicht verstand, die aber komisch sein mußten, weil der Onkel dabei so lachte. Marliese, Agathe und Clementine wurden dann immer rot. Die Mutter sah verzweifelt auf ihren Teller.

„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb.

„Später!“ brüllte der Vater.

„Warum später?“ lachte Onkel Gottlieb dröhnend und schlug sich auf das Knie: „Das belohnt sich nicht!“

Wieder schaukelte die Kalesche auf der breiten, sandigen Landstraße, die Räder mahlten knirschend den tiefen Grand, eine dicke Staubwolke zog hinterher und schlug dann und wann zum Ersticken heiß und schwer in den Wagen. Das schwarze Schutzleder war schon ganz grau überzogen, mit dem Finger konnte man schön darauf zeichnen. Manchmal durfte Aurel auf den Bock, und dann hockte Tof tiefgekränkt auf dem Rücksitz.

Von oben sah alles ganz anders aus: die Landstraße, der Graben, das Roggenfeld, die endlosen Heuschläge, Moore und Wälder. Und mitten darin, ganz vorn, ganz nah, die vier immer gleichmäßig schaukelnden Hinterteile der trottenden Pferde. Das schwarze, silberbeschlagene Ledergeschirr tanzte und hüpfte hin und her auf den prallen, glatten Backen. Dann und wann hob sich ein Schwanz, und mitten im Lauf ließ ein Roß unbekümmert seine fettglänzenden Äpfel fallen.

Im Walde, an einem kleinen Bach, wurde gerastet. Die Pferde bekamen Hafer, und für die Menschen gab es hartgekochte Eier, Schinkenbrötchen und Speckkuchen mit Rosinen. Der Vater zerschnitt das ungeschälte Ei mitten durch, hob mit der Messerspitze das Innere aus der Schale und schluckte jede Hälfte mit einem Bissen herunter. Aber die Mutter kickste die Eier mit den Kindern, und wer das stärkste hatte, war König.

Dann durften die Kinder Schuhe und Strümpfe ausziehen und barfuß im Wasser plantschen. Es war ein flacher, schnellfließender Bach mit großen, glatten Kieselsteinen. An der Bohlenbrücke mit dem bemoosten Geländer stand eine alte Birke mit rissiger Rinde. Es war eigentlich nichts Besonderes an dieser Birke, auch nichts an der alten Brücke mit dem Bach und der Landstraße – aber plötzlich fühlte Aurel, daß er diese Stelle hier mitten im Walde immer wieder erkennen und nie vergessen würde.

Nach dem Essen ging der Vater mit den Jungen „Riezchen“ suchen. Jeder mußte allein hinter einen bestimmten Busch gehen – aber keiner fand einen Pilz.

„Sonderbar“, lachte der Vater, als er wieder herauskam, „und gerade hier wuchsen sonst immer so viele Riezchen!“

Dann fuhr man weiter.

Onkel Oscha stand auf dem Rasenplatz von dem einstöckigen grauen Holzhaus mit den weißen Fenstern und winkte schon von weitem.

Wieder wurden die Ohrläppchen befühlt und so lange gezupft, bis süße Karamelbonbons herauskamen.

„Das Pinkazimmer, das Pinkazimmer!“ rief Aurel, „jetzt mußt du es uns zeigen!“

„Pinka“ war nämlich die Haut von gekochter Milch – das Schrecklichste, was es für die Kinder gab. Und Onkel Oscha hatte immer erklärt, daß er bei sich zu Hause in Waimasch ein ganzes Zimmer voll Pinka hätte, durch das man sich durchessen müsse, wenn man zum Pflaumen- und Apfelzimmer gelangen wollte.

Nein, das Pinkazimmer war nirgends zu entdecken, aber alle Räume sahen auch so merkwürdig genug aus: im Saal hingen die Tapeten in großen Fetzen von den Wänden. Ein paar zerschlissene Polsterstühle – das war die ganze Einrichtung. Im Speisezimmer zog sich ein schwarzer Riß quer über die Decke, neben der Küchentür war der Mörtel abgebröckelt, so daß das Holzgeflecht hervorschaute. Die morschen Stufen der schmalen Gartenveranda hatten tiefe Löcher, das verfaulte Geländer hing wackelnd in der Luft.

„Warum ist hier alles kaputt?“ fragte am Abend Aurel die Mutter.

„Weil Onkel Oscha fast nie zu Hause ist“, sagte die Mutter.

„Und warum ist er nie zu Hause?“ forschte Aurel.

„Weil er so allein ist, keine Frau und Kinder hat“, meinte die Mutter.

„Und warum hat er nicht geheiratet?“

Die Mutter schwieg. Dann sagte sie nachdenklich:

„Weil die Tante, die er haben wollte, einen anderen Onkel geheiratet hat! Und so hat er kein richtiges Zuhause!“

Kein richtiges Zuhause. Aurel lag lange wach und grübelte. Wie furchtbar muß das sein: kein richtiges Zuhause und immer allein. Der arme Onkel. Vielleicht ist er in Wirklichkeit gar nicht so lustig. Vielleicht macht er so viel Spaß, nur damit man nicht merkt, wie traurig er ist. Das muß eine scheußliche Tante gewesen sein, die ihn nicht genommen hat. Aber die Welt ist voller Tanten – warum hat er denn nicht eine andere geheiratet?

Nach dem Mittagessen ging Onkel Oscha immer „russisch lesen“ – dann durften die Kinder nicht im Hause herumrennen. „Russisch lesen ist nicht so einfach“, sagte der Onkel, „das kann man nur, wenn alles still ist! Aber um drei – dann könnt ihr mich holen!“

„Aber Onkel Oscha, du hast ja gar nicht russisch gelesen, du hast geschlafen!“ schrien die Kinder, als sie in sein Schreibzimmer stürmten, wo der Onkel auf dem alten Ledersofa lag.

„Geschlafen? Ihr seid wohl verrückt? Wer wird denn am Tage schlafen, wo es so viele russische Bücher gibt!“ Onkel Oscha rieb sich das Gesicht, strich die beiden weißen Vollbartspitzen nach rechts und nach links: „Seht, wie müde meine Augen sind vom vielen Lesen! Russische Bücher sind besonders anstrengend!“

„ Zeig das Buch, zeig das Buch“, schrie Aurel.

„Komm mal her, dann werde ich es dir schon zeigen! Oder willst du die Engel im Himmel pfeifen hören?“

Onkel Oscha richtete sich auf – kreischend jagten die Kinder hinaus.

Aber am schönsten war es, wenn Onkel Oscha auf seinem alten Ledersofa saß und sang. Er sang nur ein Lied, und das hatte nur wenige Worte, aber er mußte es immer wieder vorsingen – so schön war es:

„Die Seele schwingt sich in die Höh’ – juchhe!“

(Onkel Oscha hob beide Arme in die Luft – es war, als flöge er wirklich mit dem weißen Vollbart zur Decke hinauf.)

„Der Leib allein bleibt auf dem Kanapee!“

(Und Onkel Oscha sank wie tot auf das Sofa zurück. Die goldene Uhrkette mit der roten Koralle blitzte auf seinem Bauch.)

Aber dann saß er wieder und strich sich seine Bartspitzen:

„Ich will nur solange leben, bis der letzte Russe hinter Kamtschatka ersäuft!“

„Aber deine Goldkette wird nicht so lange halten!“ meinte Aurel und zupfte an der Bärenkralle. „Hier ist sie schon ganz durchgerieben!“

„Fünfzig Jahre hält sie noch“, erklärte Onkel Oscha, „und dann kaufe ich mir eine neue!“

„Komm doch mit!“ bestürmten die Kinder den Onkel, als die Kalesche vorfuhr, „komm doch mit!“

Aber Onkel Oscha blieb – da half kein „Mundspitzen“.

Noch lange stand er da vor dem grauen Holzhaus, der weiße Rock und der weiße Bart leuchteten in der Sonne.

In großen Biegungen schlängelte sich der breite, sandige Weg zwischen den vergrasten Gräben durch das wellige Land. Immer war der Geruch von reifem Korn, von Kamillen, von süßem Klee, immer der Lärm von Lerchen, das Knirschen der Räder, der dicke, heiße Staub in der Luft.

„Jetzt kommt das Tantenbassin“, sagte der Vater, „aber ich steige beim alten Igelströhm in Torma aus, Marz bringt euch nach Orrisfer, und morgen nachmittag holt er mich ab. Länger als eine Stunde halte ich es im Tantenbassin nicht aus!“

Mein Gott, wie dick der Igelströhm war – man mußte zum Tee dort bleiben. Noch nie hatte Aurel einen so dicken Menschen gesehen. Wenn er ging, dann schaukelte der Bauch hin und her, und wenn er saß, quoll er weit über den Lehnstuhl. Und die Hände waren so fett und so schwer, daß er sie kaum bewegen konnte. Immer lagen sie irgendwo auf dem Bauch, wie aufgequollene Kröten. Aber der Vater blieb doch lieber hier – wie schrecklich mußte es dann bei den Orrisferschen Tanten sein!

„Tante Josephine, Tante Constance, Tante Luschen – alle drei sind sehr, sehr lieb, aber etwas eigen“, seufzte die Mutter. „Daß ihr nur keine Dummheiten macht!“

Ja, etwas eigen waren diese Tanten schon, und das ganze Haus roch so sonderbar nach Tanten, war voll Tantengeraschel und Tantengeflüster. Immer wisperte es irgendwo, immer galoppierte Emma, das alte Mädchen, mit einem Staublappen hin und her und wischte die Türklinken ab.

„Hast du dir auch schon die Hände gewaschen?“ fragte Tante Constance immer wieder, und immer wieder mußte Aurel sie einseifen. „Draußen sind so viel Bazillen“, erklärte sie streng, während sie mit klirrendem Armband eine Patience legte, „und viele Menschen sind schon an Bazillen gestorben!“

„Was sind Bazillen?“ fragte Aurel.

„Das wirst du später einmal erfahren, wenn du größer bist!“ sagte Tante Constance und tupfte mit dem Finger über die Karten. Immer sagte Tante Constance: „Wenn du größer bist“, und immer legte sie Patience. Geduldig war sie noch nicht geworden.

Tante Josephine saß am Fenster im Lehnstuhl und stickte auf Kanevas schöne bunte Wandsprüche. Über jedem Bett hing ein solcher Spruch. Aurel buchstabierte:

„Hoffnung ist mein Wanderstab

und Geduld mein Reisekleid,

womit ich durch Zeit und Grab

wandre in die Ewigkeit!“

Aurel sah ganz deutlich die Hoffnung: einen dicken Spazierstock mit einem runden Griff. Und die Geduld war ein Staubmantel wie der von Mama, nur viel grauer, weil man ja mit ihm durch das Grab wandern mußte.

Über einem andern Bett las Aurel den Vers:

„Einst stehst du vor dem Hügel,

und ist er noch so klein,

da kommst du nicht hinüber –

da legt man dich hinein!“

Es klang so, als wenn sich Tante Josephine extra darüber freute, daß man über diesen kleinen Hügel nicht hinüber konnte: ätsch – da legt man dich hinein!

Viel angenehmer war dagegen ein Spruch, der im Speisezimmer hing:

„Des Leibes warten und ihn nähren,

das ist, o Schöpfer, meine Pflicht!

Mutwillig meinen Leib zerstören

verbietet mir dein Angesicht!“

Nein, die Tanten zerstörten nicht mutwillig ihren Leib – das konnte man nicht behaupten. Und auch Aurel nahm sich diesen Spruch zu Herzen – besonders, wenn es Pfannkuchen mit Preiselbeeren gab. Ihn störte dabei nur der Gedanke, daß Jesus als Gast neben ihm saß und ihm zuschaute. Denn Tante Josephine betete jedesmal ausdrücklich:

„Komm, Jesus Christ, sei unser Gast

und segne, was du uns bescheret hast!“

Auch sonst standen die Tanten sehr gut mit dem lieben Gott: alles war eine „rechte Gabe Gottes“ – die Sonne, der Regen, das Essen – und immer dachte der liebe Gott an die Tanten.

„Ja, wir dürfen ihn nie vergessen, der uns nicht vergißt“, sagte Tante Josephine, wenn sie die Serviette zusammengerollt hatte, und blickte zur Dekke hinauf.

Aurel hob den Kopf, konnte aber außer ein paar Fliegen, die an der Hängelampe herumkrochen, nichts entdecken.

„Nie vergessen“, fuhr Tante Josephine fort, „was er alles für uns getan hat und immer noch tut!“

Es war fast so, als stände der liebe Gott, wie Emma und die Köchin, im Dienst der Tanten. Nur daß er nicht mit Geld, sondern mit Gebeten bezahlt wurde.

Tante Luschen sagte selten etwas; sie lief immer lautlos hin und her, immer mit einer großen, stillen Freude im rosigen Gesicht.

„Luschen, die Hühner sind wieder im Garten!“ – „Luschen, wieviel Grad werden es heute im Schatten sein?“ – „Luschen, sollte man nicht das Fliegenpapier erneuern?“ „Man“ war immer Tante Luschen, aber sie tat alles so leise, daß man es gar nicht merkte. Und immer hatte sie etwas für die Kinder: Geduldplätzchen, Kranzbeerlimonade oder ein Glas Mandelmilch.

Zum Nachmittagskaffee kam Doktor Amende, ein dürrer, kleiner Herr mit einer großen roten Nase.

„Nun, was gibt’s Neues, Doktorchen, was gibt’s Neues?“ bestürmten ihn Tante Josephine und Tante Constance.

Und dann berichtete der Doktor, zwischen einem Schluck Kaffee und einem Stück Kuchen: von einem Erdbeben irgendwo in Japan, von einer Überschwemmung oder von irgendeinem Eisenbahnunglück.

„Mein Gott“, stöhnte Tante Josephine, und die Grübchen in ihren Wangen zuckten vor Erregung, indem sie nach der Schmantkanne griff: „Was heute für schreckliche Dinge passieren; das kommt davon, weil die Welt so gottlos geworden ist! Und ist es wirklich wahr, daß der Tormasche schon wieder heiraten will?“

Dann wurde Aurel fortgeschickt.

Als aber der Vater kam, war Aurel dabei, wie die Tanten ihn ausfragten: wer sie sei, von wo und wie alt.

„Gott sei Dank, wenigstens eine Geborene“, seufzte Tante Constance, „und keine Gewisse!“

„Aber schon die dritte!“ Tante Josephine schüttelte mißbilligend den Kopf. „Und die zweite ist erst vor einem Jahr gestorben!“

„Der Tormasche kann nicht mehr lange warten“, meinte der Vater lachend, „und wißt ihr, was er mir sagte?“

Tante Josephine beugte sich vor, ihre Augen blitzten vor Neugierde, ihre Grübchen bebten: „Nun?“

Der Vater trank die Tasse leer und setzte sie auf den Teller. Dann sagte er laut und mit Nachdruck:

„Der Tormasche ist der Ansicht: wenn Gott nimmt – dann nehme ich auch!“

Der Vater lachte dröhnend.

Tante Josephine saß wie erstarrt da. Tante Constance verschüttete fast den Kaffee. Dann sagte der Vater:

„Aber ich glaube, es ist Zeit! Aurel, laß Marz vorfahren!“

Die Kalesche schaukelte, von den Heuschlägen wehte es feucht und kühl. Weiße Nebel hingen über dem moorigen Fluß, der sich zwischen Ellerngestrüpp durch die Wiesen schlängelte. Gelb und rund watete der Mond über den schwarzen Morast.

Dann kamen die Laiskumschen Wälder, die endlose Laiskumsche Allee.

„Die hat noch Großonkel Paul angelegt“, erzählte die Mutter, „er wollte die längste Allee haben. Aber dann pflanzte Großonkel Rembert in Katlekaln heimlich eine Eichenallee, die noch länger war, und lud Großonkel Paul ein. Aber der hat sich so darüber geärgert, daß er den Kutscher gleich umkehren ließ, und seitdem ist der Laiskumsche nie mehr nach Katlekaln gekommen!“

„Wenn Onkel Arnold nur nicht wieder einen Schwips hat“, lachte der Vater, als sie vorfuhren.

Was ist Schwips? grübelte Aurel neugierig, ich muß mal aufpassen.

Da schmetterte schon eine ohrenbetäubende Blechmusik: Onkel Arnold hatte seine Hauskapelle auf der Veranda aufgestellt, jeder Knecht bearbeitete ein Instrument, Trompeten, Hörner und Trommeln. Er selbst war Kapellmeister und fuchtelte wild mit einem Stock in der Luft herum.

Ja, Onkel Arnold komponierte sogar Jagdsignale und Märsche. Und er stellte nur Knechte an, die tüchtig blasen oder wenigstens trommeln konnten.

Aber Aurel konnte nirgends den „Schwips“ entdecken. Der Onkel war nur immer sehr fidel. Er war fast so lang wie seine Allee und hatte einen spitzen Ziegenbart.

Um so ernster war Tante Sascha. Diese Tante lachte nie. Ihre Wangen waren vielleicht zu glatt und zu hart, so daß sie einfach nicht lachen konnte. „Aber Arnold!“ sagte sie nur. Und wenn der Onkel sich noch ein Glas Wein eingoß, wurde sie noch ernster.

Onkel Arnolds große Liebe waren Likörchen, die er nach besonderem Rezept herstellte, und den ganzen Tag mußte er sie probieren: Buchsbeeren, Himbeeren, Kirschen, Kranzbeeren, Pielbeeren – auf allen Fensterbrettern standen die dickbauchigen, rotschwarzen, bernsteingelben, rosigen und blutroten Flaschen. Aurel durfte einmal davon schmecken: es brannte wie süßes Feuer auf der Zunge.

„Aber Arnold!“ sagte Tante Sascha.

„Ein Likörchen kann niemals schaden!“ meinte der Onkel. „Man soll nur nicht übertreiben!“

„Und wann übertreibt man?“ fragte die Mutter.

„Wenn man nicht mehr eingießen kann!“ lachte Onkel Arnold und goß sich wieder ein Glas voll. „Prost!“

Tante Sascha seufzte tief. Sie konnte nicht einmal lächeln. Ihr glattes Gesicht war wie aus Hartgummi.

Nach dem Kaffee wurde die Brettdroschke angespannt, und Aurel durfte mitfahren. Die Mutter und die Tante blieben zu Hause.

„Krebsen ist nichts für Damen“, hatte Onkel Arnold erklärt, als er schmunzelnd eine dicke Flasche im Korb verpackte.

Runde Kescher, Stangen und ein Sack mit gehäuteten Fröschen lagen unten auf dem Fußbrett. Tof und Aurel hatten den ganzen Tag Frösche fangen müssen – es war eine aufregende Jagd gewesen. Dann hatte der Stalljunge immer einen Frosch nach dem andern aus dem Sack genommen, an den Hinterbeinen langgezogen und gegen die Mauer geklatscht. Als alle tot waren, wurden sie mit dem Messer gehäutet. Aber da war Aurel fortgelaufen. Und jetzt, auf der Brettdroschke, zog er immer die Beine hoch, wenn der unheimliche Froschsack zu ihm rutschte.

Von der Buschwächterei mußten sie noch ein gutes Stück bis zum moorigen Wiesenfluß zu Fuß gehen. Es dunkelte schon, der sumpfige Grasboden quatschte und schwankte bei jedem Schritt, kalt und feucht standen dünne Nebelschwaden in der Luft. Auf einer Anhöhe am Flußufer wurde ein Feuer gemacht und ein Kessel mit Wasser daraufgesetzt. Dann wurden die Kescher mit den gehäuteten Fröschen an den Stangen im Wasser ausgelegt. Das Feuer lockte die Krebse, und jedesmal, wenn einer im Netz hochgehoben wurde, plumpste er in das kochende Wasser. Nur die kleinen kamen wieder in den kalten Fluß zurück, aber sie durften nie hineingeworfen, sondern immer nur vorsichtig am Ufer mit dem Schwanz ins Wasser hingelegt werden:

„Sonst ertrinken sie vor Schreck“, erklärte Onkel Arnold, „nur wenn sie von selbst rückwärts hineinspazieren, bleiben sie leben!“

Der Kessel füllte sich immer mehr mit kochenden Krebsen, die roten wurden herausgefischt und gleich verspeist: man riß ihnen die Schwänze ab, sog das salzige Dillwasser aus dem geöffneten Bauch, zerbrach die gepanzerten Scheren und Schwänze und holte das zarte, rosaweiße Fleisch hervor. Daß war keine leichte Arbeit, Onkel Arnold mußte sich immer wieder mit der Kümmelflasche stärken. Auch der Vater nahm dann und wann einen Schluck. Noch nie hatte Aurel ihn so vergnügt gesehen. Überhaupt war er auf der ganzen Reise wie verwandelt: machte immerfort Späße mit den Jungen, lachte, erzählte komische Geschichten. Es war, als hätte er mit der langen Pfeife alle Feierlichkeit und Würde zu Hause gelassen, als wäre auch er plötzlich wieder ein Junge geworden. Erst in der großen Kalesche lernte Aurel seinen Vater ein wenig kennen.

Die letzten Krebse wurden in den leeren Froschsack geworfen: wie es da drin krabbelte und raschelte – ein sonderbar rasselndes Geräusch, wenn man das Ohr daranlegte.

Der volle Mond stand schon hoch am blassen Himmel, als sie heimkehrten. Und er ging gerade auf, als die Kalesche am nächsten Abend in die Ahornallee von Altschwanensee einbog.

Und dann stand hinter dem weiten Rasenplatz mit den dunklen Bosketten das große steinerne Haus im weißen Mondlicht da. Alle Fenster waren erleuchtet, und über der Anfahrt fiel ein helles Licht auf die breiten Stufen der Freitreppe.

Die baltische Tragödie

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