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1.3 Von der „Weiterbildung“ zum „Lebenslangen Lernen“

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Politische Bedeutung des Lebenslangen Lernens

Das Konzept des „Lebenslangen Lernens“ („Lifelong Learning“) erlangte nach einigen weniger beachteten Vorstößen in den 1960er Jahren politische Bedeutung und wurde dann wieder in den 1990er Jahren zu einem allseits verwendeten Begriff. Eine wesentliche Rolle haben dabei die politischen Organisationen UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization), OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) und der Europarat eingenommen. Diese Diskussion wurde in den englischsprachigen Ländern und in Europa intensiver geführt als in (West-) Deutschland, wo sich Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung eher mit dem Begriffspaar ‚Erwachsenenbildung – Weiterbildung‘ auseinandersetzten. Im Unterschied zu diesen beiden Begriffen bedeutet Lebenslanges Lernen aber – wie der Name schon sagt – ein Lernen über die gesamte Lebenszeit, schließt also auch die Kinder- und Jugendphase mit ein. In den frühen Lebensphasen soll der Grundstock für ein das Leben begleitendes Lernen gelegt werden, und zwar weniger durch die Vermittlung eines Kanons an Grundwissen, sondern durch das Erarbeiten von Grundfähigkeiten und -einstellungen, wozu vor allem die Fähigkeit zum und das Interesse am Lernen gehören.

„Recurrent education“ und „lifelong education“

Bevor sich der Begriff des „Lifelong Learning“ durchgesetzt hatte, wurde von „recurrent education“, dann von „lifelong education“ gesprochen. Als recurrent education wurde, speziell von der OECD, der Prozess einer über das Leben verteilten diskontinuierlichen Wahrnehmung von Bildungsangeboten verstanden. Absicht war es, ein Bildungssystem zu schaffen, das Ausbildung und Praxis im periodischen Wechsel und damit die wiederholte Aufnahme aktuellen Wissens ermöglicht und sich vom traditionellen Modell einer Vorratsbildung abgrenzt (vgl. KNOLL/KÜNZEL 1981, S. 240f.).

In den 1970er Jahren war international von ‚lifelong education‘ die Rede, die im Gegensatz zur eher berufsbezogenen recurrent education deutlicher auf allgemeine Bildung bezogen war. Mittlerweile ist der Aspekt des Lernens in den Vordergrund getreten, der sich auch auf selbstorganisierte Lernaktivitäten bezieht, die zu Hause, bei der Arbeit oder in der unmittelbaren Lebensumgebung stattfinden können. Während recurrent education von Unterbrechungen des Berufs durch das Lernen und umgekehrt ausgeht, zielt die Vorstellung des Lifelong Learning auf ein ununterbrochenes Lernen, das von unterschiedlichen, auch unterschiedlich verbindlichen Lernformen in unterschiedlichen Umgebungen geprägt ist (vgl. HASAN 1996).

Der Faure-Report

Als wesentliches Dokument der UNESCO gilt der nach dem damaligen französischen Unterrichts- bzw. Bildungsminister genannte FAURE-Report, der Anfang der 1970er Jahre unter dem Titel „Wie wir leben lernen“ erschien. Der Bericht geht davon aus, dass Bildung, die die volle Entfaltung des Menschen zum Ziel hat, nur global und permanent sein kann und einen wesentlichen Motor der Demokratisierung darstellt (vgl. FAURE u.a. 1973, S. 21ff.). Angestrebt wird hier eine Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaft zur sogenannten ‚Lerngesellschaft‘ (s. Kap. 5.6), die dann verwirklicht sei, wenn „das Lernen sich sowohl durch seine Dauer als auch durch seine Vielschichtigkeit auf das ganze Leben ausweitet und Sache der ganzen Gesellschaft und ihrer erzieherischen, sozialen und wirtschaftlichen Mittel“ (a.a.O., S. 42) ist. Eingeschränkt wird die Bedeutung von Bildungsinstitutionen, indem betont wird, dass informelles Lernen (s. Kap. 9.4) den Großteil allen menschlichen Lernens umfasst. Der FAURE-Report hat damit nicht-institutionelles Lernen zu einer Zeit fokussiert, als die deutsche Diskussion vor allem um den Ausbau von Erwachsenenbildungseinrichtungen kreiste. Als Kernsatz aus dem FAURE-Report kann deshalb die folgende Erklärung gelten:

„Bildung muß auf vielfältige Weise erworben werden können; wichtig ist dabei nicht, welchen Weg das Individuum gewählt, sondern was es gelernt hat.“ (a.a.O., S. 251)

Das Konzept relativierte die Bedeutung der traditionellen, in der ersten Zeit des Lebens stattfindenden institutionellen Bildung und betonte die Bedeutung des Lernens über die gesamte Lebenszeit des Menschen – gleichgültig, ob dieses in institutionellen oder außerinstitutionellen settings stattfindet. Es enthält somit neben der vertikalen (lifelong) auch eine horizontale (lifewide) Dimension und strebt eine Integration auf beiden Ebenen an (vgl. Abb. 1–1, S. 14).

„Memorandum über lebenslanges Lernen“

In der Folgezeit wurde dieser Ansatz stärker auf beruflich zu verwertendes Wissens bezogen, ohne die ursprüngliche Intention ganz aufzugeben. Von den zahlreichen neueren Dokumenten zum Lebenslangen Lernen internationaler Organisationen kann exemplarisch das im Jahr 2000 veröffentlichte „Memorandum über lebenslanges Lernen“ der Europäischen Union angeführt werden. Auf der Basis der Einschätzung, dass so genannte wissensbasierte Gesellschaften (s. Kap. 5.4) nur unter der Bedingung des Lebenslangen Lernens überleben können, nennt das Memorandum zwei Ziele, die zur Durchsetzung dieses Prinzips führen sollen: die Förderung der aktiven Staatsbürgerschaft und die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit:


Abb. 1–1: Vertikale und horizontale Dimension des Lebenslangen Lernens (eigene Darstellung)

„Bei der aktiven Staatsbürgerschaft geht es darum, ob und wie die Menschen in allen Bereichen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens teilhaben, es geht um die damit verbundenen Chancen und Risiken, und um die Frage, inwieweit sie das Gefühl entwickeln, zu der Gesellschaft, in der sie leben, dazuzugehören und ein Mitspracherecht zu haben. Für die meisten Menschen gilt, dass während eines großen Teils ihres Lebens die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ein wesentlicher Garant für Unabhängigkeit, Selbstachtung und Wohlergehen und damit auch für allgemeine Lebensqualität ist. Beschäftigungsfähigkeit – also die Fähigkeit, eine Beschäftigung zu finden und in Beschäftigung zu bleiben – ist nicht nur eine zentrale Dimension der aktiven Staatsbürgerschaft, sondern auch eine entscheidende Voraussetzung für Vollbeschäftigung, für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas und für die Gewährleistung von Wohlstand in der ‚Neuen Wirtschaft‘. Sowohl Beschäftigungsfähigkeit als auch aktive Staatsbürgerschaft setzen voraus, dass man über ausreichende Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die auf dem neuesten Stand sind und die es ermöglichen, am wirtschaftlichen und sozialen Leben teilzuhaben und einen Beitrag zu leisten.“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000, S. 6)

Lebenslanges bzw. lebensbreites (REISCHMANN 2004, S. 92f.) oder lebensbegleitendes Lernen (vgl. BRÖDEL/KREIMEYER 2004) ist ein alle Alterstufen, Bildungsinstitutionen und Lernformen umgreifendes bildungspolitisches Konzept, das erst allmählich auch zum Thema wissenschaftlicher Auseinandersetzungen wird. In Deutschland wird es am ehesten von Vertretern der Erwachsenenbildungswissenschaft aufgenommen, während die Schulpädagogik und Hochschuldidaktik vergleichsweise verhalten reagieren (vgl. KRAUS 2001).

Lebenslanges Lernen als Verschulung

Von Anfang an haben sich aber auch kritische Positionen Gehör verschaffen können: 1976 ist im gleichen Verlag, in dem 1973 der Faure-Bericht „Wie wir leben lernen“ erschienen ist, ein Buch veröffentlicht worden, das gegen eine „lebenslängliche Verschulung“ mit dem Ziel, „die Menschen wirksamer in die Klassenstruktur einzupassen, was für eine zentralisierte, effektive industrielle Produktion unvermeidlich ist“ (DAUBER/VERNE 1976, S. 7) Position bezieht. Im sogenannten „Manifest von Cuernavaca“ werden deshalb Prüfungen und professionelle Lehrer abgelehnt, und es wird vielmehr der Wert eines herrschaftsfreien bzw. -kritischen, selbstorganisierten und praxisrelevanten Lernens betont:

„Darum schlagen wir vor:

a) Es ist wichtiger, bestehendes Wissen für jedermann zugänglich zu machen, als weiteres Expertenwissen anzuhäufen.

b) Experten, wie zum Beispiel Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Wissenschaftler, Architekten u.a., sollen verpflichtet sein, andere an ihren Fähigkeiten, ihrer Fachkenntnis und ihrem Wissen teilhaben zu lassen. Dies bedeutet einen Verzicht auf ihr professionelles Monopol.

c) Arbeitnehmern muß am Arbeitsplatz selbst Zeit zur Verfügung stehen, dessen Bedingungen zu erforschen und daran zu lernen, um dadurch fähig zu werden, die Arbeitsorganisation und ihren Arbeitsplatz kontinuierlich nach ihren Bedürfnissen neu zu gestalten.

d) Noten, Zeugnisse und Prüfungen sind abzuschaffen. Es soll gesetzlich verboten sein, schulische Abschlußzeugnisse oder irgendeine Form von Persönlichkeitstests zur Voraussetzung dafür zu machen, einen Beruf ergreifen zu können. Die Fähigkeit einer Person, einen Beruf qualifiziert auszuüben, soll von den Mitarbeitern am Arbeitsplatz oder den Klienten beurteilt werden.

e) Individuen und Gruppen sollen ermutigt werden, in ihren Gemeinden Werkstattseminare zu entwickeln und Gemeinschaftszentren aufzubauen, die jedermann offenstehen, die durch ihre Benutzer kontrolliert werden, in denen Lernen und Tun verbunden ist, um kritische Analyse und Selbstvertrauen zu fördern.

f) Der freie Zugang zu Massenmedien und die Kontrolle über sie muß dadurch gesichert werden, daß ihre Komplexität vereinfacht und die Zahl der zur Verfügung stehenden Einrichtungen vermehrt wird.

g) Jedermann soll, ohne Rücksicht auf Ausbildung oder Berechtigungsnachweis, das Recht haben, seine Erfahrung, sein Wissen oder seine Fähigkeiten mit anderen zu teilen. Darum wenden wir uns gegen jede Professionalisierung der Erwachsenenerzieher.“ (a.a.O., S. 18)

Lebenslanges Lernen als soziale Kontrolle

Mit den Veränderungen des Konzepts – von der lifelong education zum lifelong learning und mit der Anerkennung auch informellen und selbstgesteuerten Lernens – hat sich auch die Kritik an diesem Konzept gewandelt. Vor allem wird die Vagheit des Konzepts angegriffen, das sich nicht nur auf verschiedene Bereiche wie die des beruflichen und nicht-beruflichen Lernens bezieht, sondern auch unterschiedlichen, wenn nicht sogar gegensätzlichen Zwecken und dabei vor allem der sozialen Kontrolle dienen kann (vgl. COFFIELD 1999, S. 487f.). Speziell aus machttheoretischer Sicht (s. Kap. 7.3) werden die Kontrolle über bisher nichtöffentliche Bereiche wie informelles Lernen und die Steuerung durch Selbststeuerungsaufforderungen kritisch dargestellt, und es wird befürchtet, dass mit der Durchsetzung des Konzepts lernungewohnte Menschen benachteiligt werden und die Bedeutung von Bildungsinstitutionen abnimmt:

„Tatsächlich geht es beim Lebenslangen Lernen um einen gigantischen Umerziehungsprozess der Bevölkerung. Sie soll lernen, eigenaktiv zu lernen. Lebenslanges Lernen stellt sich als ehrgeiziges Metabildungsprogramm heraus, in dem es darum geht, die Bevölkerung moderner industrialisierter Gesellschaften auf eine Bildungseinstellung zu verpflichten, in der sie sich das bisher von Bildungsinstitutionen Vermittelte jenseits dieser Institutionen ‚selbst‘ aneignet.“ (FORNECK 2001)

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