Читать книгу Einführung in die Theorie der Erwachsenenbildung - Sigrid Nolda - Страница 17
2.2 „Bildung für alle“
ОглавлениеFranzösische Revolution: Bildung und Unterricht für alle
Mit der Französischen Revolution hatte sich die Idee der Gleichberechtigung (,égalité‘) festgesetzt – auf Bildung bezogen bedeutete dies die Aufhebung ihrer Beschränkung auf die (männlichen) Angehörigen der gehobenen Schichten und auf das Kinder- und Jugendalter. Es entstanden Pläne, die eine allgemeine Versorgung mit Bildung vorsahen. In Frankreich wurde ein sogenannter Nationalerziehungsplan („Decret sur l’organisation générale de l’instruction publique“) entworfen, der das Menschenrecht auf Vervollkommnung aller Fähigkeiten und Fertigkeiten für jeden, unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft, gewährleisten sollte. Sein Verfasser JEAN MARIE ANTOINE CONDORCET (1752–1794) trug im April 1792 den Entwurf der Nationalversammlung vor und forderte als „erstes Ziel eines nationalen Unterrichtswesens“:
Nationalerziehungsplan
„allen Angehörigen des Menschengeschlechts die Mittel zugänglich zu machen, daß sie für ihre Bedürfnisse sorgen, ihr Wohlergehen sichern, ihre Rechte erkennen und ausüben, ihre Pflichten begreifen und erfüllen können;
jedem die Möglichkeit zu sichern, seine berufliche Geschicklichkeit zu vervollkommnen, sich für gesellschaftliche Funktionen vorzubereiten, zu denen berufen zu werden er berechtigt ist, den ganzen Umfang seiner Talente, die er von der Natur empfangen hat, zu entfalten und dadurch unter den Bürgern eine tatsächliche Gleichheit herzustellen und die politische Gleichheit, die das Gesetz als berechtigt anerkannt hat, zu einer wirklichen zu machen.“ (CONDORCET 1966, S. 20f.)
Die Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten sollte dem ständigen Fortschritt der Gesellschaft bzw. der Nation dienen und konnte deshalb niemals abgeschlossen sein. Der Nationalerziehungsplan sah ausdrücklich auch Unterricht für Erwachsene vor und kann als frühes Beispiel der Idee des Lebenslangen Lernens (s. Kap. 1.3) gelten, das auch Selbstlernen (Benutzung eines Lexikons, Lesen einer Landkarte, Anfertigen von Notizen und Auszügen aus Büchern) einschloss. In Deutschland wurde von HEINRICH STEPHANI (1761–1850) ein ähnlicher Plan entwickelt, der neben der Einrichtung von Stadt- und Dorfbibliotheken auch die von Erziehungsanstalten für Erwachsene vorschlug. Zu dieser Form der Institutionalisierung ist es weder in Frankreich noch in anderen europäischen Ländern gekommen, und die Verbreitung der (Selbst-)Bildung und des Lernens Erwachsener hat sich zunächst auch fern von schulischen Einrichtungen vollzogen: zum einen durch Publikationen und zum anderen durch Vereine und Gesellschaften.
Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung: Teilhabe des Volkes?
In den Vereinen und Gesellschaften war der Zugang zu dieser Öffentlichkeit zwar prinzipiell frei – de facto aber auf das Bürgertum (und vor allem auf seinen männlichen Teil) beschränkt. Dieser weitgehenden Beschränkung der Teilhabe auf das Bürgertum im 18. Jahrhundert stand im 19. Jahrhundert die Forderung nach der Ermöglichung der Teilhabe der unteren Volksschichten und vor allem der Arbeiterschaft entgegen. So verfolgte die 1871 gegründete „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ – laut Statut – den Zweck,
„der städtischen und ländlichen Bevölkerung, welcher durch die staatlichen Volksschulen im Kindesalter nur die Elemente der Bildung zugänglich gemacht werden, dauernd Bildungsstoff und Bildungsmittel zuzuführen, um sie in höherem Grade zu befähigen, ihre Aufgaben im Staate, in Gemeinde und Gesellschaft zu verstehen und zu bewältigen“.
Kritiker haben darauf hingewiesen, dass hier nicht das Durchsetzen eigener Bedürfnisse, sondern das Verständnis der – von außen – gestellten politisch-gesellschaftlichen Aufgaben im Vordergrund stehe (vgl. DRÄGER 1975). Die im Aufklärungskonzept enthaltenen Aspekte der Selbstbildung und des kritischen Vernunftgebrauchs seien damit hinfällig.
,Neue Richtung‘: stellvertretende Teilhabe
Mit dem Übergang von der Monarchie zur Demokratie erwuchs 1918 in Deutschland die Notwendigkeit, Erwachsene aller Schichten zur Teilnahme am politischen Leben zu bewegen. Dies schien über traditionelle Formen der in gleichartiger Weise an viele gerichteten ‚extensiven‘ Wissensvermittlung nicht möglich. Von den Vertretern der sogenannten ‚Neuen Richtung‘ wurde deshalb davon ausgegangen, dass ein solcher Einfluss auf die Gesellschaft, auf das damals sogenannte ‚Volksganze‘, nur von kleinen Gruppen ausgehen könne, die in speziellen sogenannten „Arbeitsgemeinschaften“ entsprechend intensiv ausgebildet werden sollten. Lehrende und Lernende sollten demnach eine Arbeitsgemeinschaft im Sinne einer Lerngruppe bilden, die gemeinsam über Verfahren und Inhalte entscheidet. Angestrebt war eine Überwindung der durch die gesellschaftlichen Schichten gesetzten Grenzen sowie eine Herausbildung gemeinsamer Lebensformen von Arbeitern und Intellektuellen. Die Arbeitsgemeinschaft sollte der Kern und gleichzeitig die Vorwegnahme der neuen Volksgemeinschaft sein (vgl. OLBRICH 1980, S. 27).
Gutachten des Deutschen Ausschusses: Teilhabe durch aktive Minderheiten
Ähnlich argumentierten die Autoren des 1960 erschienenen Gutachtens des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (s. Kap. 1.2), indem sie zwischen den ‚Massen‘ und den ‚aktiven Minderheiten‘ unterschieden. Die Erwachsenenbildung sei zwar für alle Menschen zuständig, wende sich aber speziell an die ‚aktiven Minderheiten‘, von denen ein besonderer Beitrag für die demokratische Gemeinschaft zu erwarten sei:
„Unsere Demokratie wird schon Festigkeit gewinnen, wenn keine Schicht der Gesellschaft von der Möglichkeit, sich zu bilden, ausgeschlossen ist und aktive Minderheiten in allen Gruppen diese Chance wahrnehmen. Die Einrichtungen der Erwachsenenbildung müssen sich an alle wenden und müssen allen offenstehen, schon um sie gegen die entbildenden Mächte der Zeit widerstandsfähig zu machen, aber auch um ihnen zu helfen, den Weg zu sich selbst zu finden. Diese Einrichtungen werden aber vor allem jene aktiven Minderheiten stützen müssen.“ (DEUTSCHER AUSSCHUSS 1960, S. 16)
Teilhabe aller Menschen
In neueren Konzeptionen der politischen Erwachsenenbildung werden diese Einschränkungen nicht fortgeführt. Teilhabe wird als Bedürfnis aller Menschen dargestellt, und es wird impliziert, dass Erwachsenenbildung dazu beitragen könne. So heißt es in der Bildungskonzeption des Bundesvorstands der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die ausdrücklich für die Orientierung am Menschen, am Subjekt eintritt:
„Subjektorientierung geht von der Vorstellung aus, dass Menschen ein Bedürfnis haben sich weiterzuentwickeln, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und ihre Umwelt zu beeinflussen. Das menschliche Interesse ist auf erweiterte gesellschaftliche Teilhabe gerichtet: Im Beruf, in der Politik, in der Freizeit usw. ist Lernen in diesem Zusammenhang eine zielorientierte Tätigkeit, mit der Lernende ihre persönlichen Interessen realisieren wollen.“ (VER.DI 2007, S. 13)
Inklusion
Teilhabe ist ein historischer, aber immer noch geläufiger Terminus in der Erwachsenenbildungsdiskussion, der in letzter Zeit durch den Begriff der Inklusion (vgl. Kronauer 2010) ersetzt zu werden scheint. Man kann zwischen politischer, sozialer und bildungsbezogener bzw. kultureller Inklusion (bzw. Exklusion, also Ausschließung) unterscheiden. Es ist demnach zu trennen zwischen der realen Teilhabe an Erwachsenenbildung und der durch Erwachsenenbildung zu ermöglichenden Teilhabe an der Gesellschaft. Dass das eine das andere bedingt, liegt ebenso auf der Hand wie die oft beklagte Tatsache, dass die durch Schulausbildung ermöglichte Inklusionsleistung kaum durch Erwachsenenbildung erreicht werden kann (s. Kap. 8). Teilhabe an Erwachsenenbildung und Teilhabe an der Gesellschaft sind auf diese Weise zwar miteinander verbunden, aber nicht identisch.
„Education for All“
Die von der Gleichheitslosung der Französischen Revolution beeinflusste Idee der Teilhabe scheint auch heute nicht an Bedeutung verloren zu haben. Das betrifft die politische und soziale wie auch die auf den Besuch von Bildungsinstitutionen bzw. die Wahrnehmung von Bildungsgelegenheiten bezogene Inklusion – umso mehr wenn man in globaler Sicht auch die Länder der sogenannten Dritten Welt mitberücksichtigt: Die Forderung „Bildung für Alle“ stand im Mittelpunkt der Konferenz der UNESCO, die 1990 in Jomtien (Thailand) stattfand. Verabschiedet wurden die „World Declaration on Education for All“ und ein „Framework for Action“, deren Ziele es waren, dass es weltweit bis zum Jahr 2000 keine erwachsenen Analphabeten mehr geben sollte. Auf dem Weltbildungsforum „Education for All“ 2000 in Dakar haben sich 164 Länder dann u.a. dazu verpflichtet, bis zum Jahr 2015 die Analphabetenrate bei Erwachsenen um die Hälfte zu senken und ein angemessenes Grundbildungsniveau für Erwachsene zu sichern.
Teilhabe durch Medien?
Eine aktuelle Bedeutung hat die Frage der Teilhabe am globalen gesellschaftlichen Leben durch die Durchsetzung der elektronischen Medien erfahren, die ursprünglich von der Hoffnung begleitet war, Teilhabemöglichkeiten zu vervielfachen und zu erleichtern. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen, die – unter dem Stichwort „Digital Divide“ – durch die Medien bedingte Benachteiligungen diskutieren. Damit sind zwei Konsequenzen für die Erwachsenenbildung verbunden: Zum einen die Frage, inwieweit diese selbst durch Angebote wie E-Learning bestimmte Lernende ausschließt bzw. in welcher Weise Erwachsenenbildung zum Abbau der durch Medien errichteten Barrieren beitragen kann (vgl. GROTLÜSCHEN/BRAUCHLE 2004). Hier spiegelt sich die allgemeine Frage, inwiefern Erwachsenenbildung tatsächlich – wie es meist ihre erklärte Absicht ist – zur Inklusion beiträgt oder ob sie zu einer Exklusion beiträgt, indem sie diejenigen, die nicht an ihr teilnehmen, ausgrenzt.