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2 Ziele von Erwachsenenbildung 2.1 Aufklärung als Mündigkeit
ОглавлениеFreiheit und Vernunft
Mit der Aufklärung etablierte sich im 18. Jahrhundert ein neues Selbstverständnis des Menschen, in dem die fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Welt einen zentralen Platz einnahm. Traditionelle Bindungen verloren an Bedeutung; politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel erforderte den Erwerb neuen Wissens und neuer Formen der Kommunikation. Während die christliche Religion ein gottgefälliges Leben verlangte und Erlösung im Jenseits versprach, waren die Anstrengungen der Aufklärer auf die positive Gestaltung des Diesseits gerichtet. Diese sollte durch religiöse Toleranz, rechtliche Gleichstellung aller Menschen, Meinungsfreiheit sowie persönliche, wirtschaftliche und politische Freiheit gewährleistet werden. Moralisches Handeln stellte sich somit nicht als Unterordnung unter (religiöse) Gebote, sondern als Vernunftentscheidung dar: Es ist vernünftig, so zu handeln, dass das eigene Handeln als Gesetz für alle anderen gelten könnte – so die moderne Übersetzung des von IMMANUEL KANT (1724–1804) formulierten kategorischen Imperativs („Handle so, dass jeder Zeit dein Handeln zur Maxime des Handelns erhoben werden kann!“).
Die Vernunft, nicht der Glaube prägte die Epoche, die auch als „Age of reason“ (so der Titel eines 1795 erschienenen Buchs von THOMAS PAINE) bezeichnet wurde. Mit Hilfe der Vernunft sollte der Mensch mündig werden – auch und gerade der erwachsene Mensch. Bis heute immer wieder zitiert wird die Antwort KANTS auf die Frage „Was ist Aufklärung?“
Selbstverschuldete Unmündigkeit
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn Ursachen derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (KANT 1784)
Der Mensch wird nicht als Opfer gesehen, sondern als derjenige, der seine eigene Unmündigkeit selbst zu verantworten hat. In dieser zu verbleiben ist Zeichen mangelnden Mutes und fehlender Entschlusskraft. Das auffordernde Moment der Aufklärung, hier auch durch die grammatische Form des Imperativs erkennbar, ist als Gegensatz zu Bescheidung und Demut, aber auch zu Faulheit und Passivität gedacht.
In der Aufklärung ist der Beginn der Durchsetzung der Idee der Erwachsenenbildung anzusetzen. In dieser Zeit sind auch schon ihre wesentlichen Ausrichtungen erkennbar, die sich im Laufe der Zeit in unterschiedlicher Intensität entwickelt, sich teilweise abgespalten und dann auch wieder miteinander verbunden haben. Was heute als personenbezogene und politische Bildung, als berufliche und freizeitbezogene Bildung bezeichnet wird, findet sich bereits im Konzept der zugleich rational wie ethisch orientierten Aufklärung. In den Begriffen der damaligen Zeit ging es um „Selbstbestimmung und Gemeinwohl, Nützlichkeit und Geselligkeit, mit dem Ziel einer Einheit von Vernunft und Tugend“ (TIETGENS 1999, S. 27).
Aufklärende Schriften
Dieses Konzept wurde auch praktisch durchzusetzen versucht. Anfang des 18. Jahrhunderts erschienen – zuerst in England – sogenannte moralische Wochenschriften, die eine rationale Weltsicht propagierten und vielfältige Probleme des täglichen Lebens, aber auch moralische, wirtschaftliche, theologische, medizinische und vor allem auch pädagogische Fragen behandelten. Daneben erschien eine Reihe von volkspädagogischen Schriften mit belehrendem Charakter. Vermittelt wurde in erster Linie unmittelbar anwendbares Wissen, wobei die unterhaltsame Form der Erzählung bevorzugt wurde. Erkennbar ist dies bereits am Titel des wohl bekanntesten Beispiels dieser Gattung, dem „Noth- und Hülfsbüchlein oder lehrreiche Freudenund Trauergeschichte der Einwohner von Mildheim“ von RUDOLF ZACHARIAS BECKER (1759–1822). Auch der geistliche Stand war an derartiger Volksaufklärung beteiligt. So erschien 1791 in Zürich ein ‚Lesebuch für Landgeistliche und Bauern‘ mit dem Titel „Der vernünftige Dorfpfarrer“, in dem etwa erzählt und mit Illustrationen veranschaulicht wurde, wie ein idealer Kinderspielplatz einzurichten sei (vgl. LICHTENBERG 1970).
Vereine und Gesellschaften
Mit dem Anstieg des Teils der Bevölkerung, der lesen und schreiben konnte, und dem Wechsel vom wiederholten, andächtigen Lesen zum Lesen von immer neuen Publikationen, waren die Voraussetzungen für diese Art der Aufklärung gegeben. Sie verband sich aber auch mit neuen Formen der Lesen und Lernen fördernden Geselligkeit. Hier sind an erster Stelle die zahllosen Vereine und Gesellschaften zu nennen, die in dieser Zeit gegründet wurden. Dort fanden sich Bürger aus unterschiedlichen Berufen zusammen, die nicht nur an Fragen der Kultur, sondern auch an solchen des öffentlichen Lebens, speziell an Ökonomie und Politik, interessiert waren und nach Mitbestimmung und Mitverantwortung verlangten. In den demokratisch organisierten Vereinen oder Assoziationen trafen sich Gleichgesinnte mit einem starken Interesse an Informationen aus allen Bereichen des Wissens und des gesellschaftlichen Lebens. Eine besondere Rolle spielten dabei die in ganz Europa verbreiteten sogenannten ‚Lesegesellschaften‘ (vgl. DANN 1988), die den benötigten Lesestoff anschafften und bereitstellten, teilweise aber auch Vorträge anboten und die Möglichkeit zur gemeinsamen Diskussion schufen. Sie können deshalb als Frühform organisierter Erwachsenenbildung gelten (vgl. OLBRICH 2001, S. 42).
Bürgerliche Öffentlichkeit
In Zeitungen und Zeitschriften sowie bei nicht-privaten Zusammenkünften in Kaffeehäusern und Salons wurde eine – kritische – bürgerliche Öffentlichkeit praktiziert. Durch das öffentliche Räsonnement waren die Voraussetzungen für eine Teilhabe an politisch-gesellschaftlichen Prozessen gegeben: Theoretisch (und manchmal auch praktisch) konnten die eigenen Bedürfnisse vermittelt werden, und der mündige Bürger konnte die Staatstätigkeit einer demokratischen Kontrolle unterwerfen (vgl. HABERMAS 1996).
Mündigkeit
Mündigkeit meint hier nicht Volljährigkeit im juristischen Sinn, sondern im Sinne der Aufklärung Selbstbestimmung und Selbstbildung. Auf das Ziel Mündigkeit kann erzogen werden, die Mündigkeit selbst wird dann aber als „prozeßhaft lebenslange Aufgabe des Subjekts“ (WEBER 1994, S. 89) verstanden. Zu ihrer Bewältigung können – unter entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – (erwachsenen-)pädagogische Arrangements beitragen. Die Idee der Mündigkeit war und ist ein von fast allen getragenes Ziel der Bildungsarbeit, gerade auch mit Erwachsenen. Sie ist eng mit der Idee der Demokratisierung verbunden und kann in Deutschland deshalb in den Vorstellungen zur Bildungsarbeit mit Erwachsenen in der Weimarer Republik (vgl. ZEUNER 2001), nicht aber in der Erwachsenenbildung der Zeit des Nationalsozialismus nachgewiesen werden. Eine besonders große, auch kontroverse öffentliche Resonanz hatte sie in der Zeit der Studentenbewegung.
Erst in den letzten Jahren äußern sich Stimmen, die nicht das Ziel, wohl aber naive Machbarkeitsvorstellungen in Frage stellen und die Freisetzung des Menschen auch als Belastung und sogar als indirekte Manipulation beschreiben. An zwei Buchtiteln kann man diese Entwicklung ablesen: Im Jahr 1971 erschien der Band „Erziehung zur Mündigkeit“, der Gespräche mit THEODOR W. ADORNO, dem Hauptvertreter der sogenannten „Kritischen Theorie“, über Fragen der Pädagogik, darunter auch der Erwachsenenbildung, enthielt. 2002 hat der Schüler seines Schülers JÜRGEN HABERMAS, AXEL HONNETH, einen Band herausgegeben, der den Titel „Befreiung aus der Mündigkeit“ trägt und der den Paradoxien nachgeht, die mit diesem Konzept verbunden sind. In der Erwachsenenbildung selbst wird dieses Problem neuerdings unter machttheoretischen Aspekten diskutiert (s. Kap. 7.3).