Читать книгу Einführung in die Theorie der Erwachsenenbildung - Sigrid Nolda - Страница 21
3.2 Kompensation von Defiziten
ОглавлениеKompensation als Nachholen
Unter Kompensation wird das Nachholen versäumter Bildungsmöglichkeiten zu einem späteren Zeitpunkt verstanden. Dabei kann es sich um normalerweise verfügbare, aber nicht wahrgenommene Bildungsangebote oder aber um Angebote handeln, die nicht zur Verfügung gestanden haben. Nachgeholt werden können Schulabschlüsse, berufliche Aus- und Fortbildungen sowie die unterrichtliche Vermittlung diverser Wissensinhalte. Teilnehmer von Angeboten kompensatorischer Erwachsenenbildung sind beispielsweise Personen, die auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur machen und somit die Hochschulreife erlangen, BerufsrückkehrerInnen, die nach einer Erziehungszeit oder Familienphase wieder eine Beschäftigung aufnehmen wollen, oder aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedene, die ein Hochschulstudium aufnehmen.
Zielgruppenansatz
Im Strukturplan Weiterbildung wurde das Problem der Kompensation als Versorgungsdefizit bestimmt, das durch den institutionellen Ausbau der Erwachsenenbildung behebbar erscheint (s. Kap. 1.2). In den 1980er Jahren hat man dagegen auf Konzepte gesetzt, die benachteiligte Gruppen direkt ansprechen sollten. Neben der ‚klassischen‘ Zielgruppe der Arbeiter waren dies Menschen ohne Schulabschluss, Arbeitslose, Analphabeten, Ausländer, Familien in unterversorgten Stadteilen, Alleinerziehende, aber auch Frauen und alte Menschen (vgl. SCHIERSMANN/THIEL/VÖLKER 1984). Ein wesentliches Problem des Zielgruppenansatzes bestand darin, zwischen erwachsenenund sozialpädagogischer Arbeit sowie zwischen pädagogischen und therapeutischen Interaktionsformen zu trennen.
Kritik der kompensatorischen Bildung
So wie Anpassung häufig als Gegensatz zu Emanzipation konstruiert wurde, so wurde emanzipatorische Erwachsenenbildung auch als Gegensatz zu kompensatorischer Erwachsenenbildung gesehen. In den 1970er Jahren galt ‚kompensatorisch‘ weitgehend als Schimpfwort, das eine unkritische, affirmative Haltung zu Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu beinhalten schien. Befürchtet wurde, dass Bildung nicht mehr „Hilfe zum Selbst- und Weltverständnis“ darstellt, sondern zum „Instrument des Systems, den Einzelnen besser in seinem Sinn ökonomisch zu nutzen“ werden könnte (VON CUBE u.a. 1974, S. 27).
Demgegenüber wurde geltend gemacht, dass der Gegensatz zwischen Emanzipation und Kompensation das eigentliche Problem der Erwachsenenbildung verstelle:
„Es ist ein sehr altes Mittel, Menschen in Abhängigkeit zu bringen und zu halten, indem man ihnen Kenntnisse, Informationen und intellektuelle Qualifizierungen vorenthält und verweigert oder notfalls bei ihnen direkt wieder auslöscht. Darum ist überall dort, wo Emanzipation ehrlich durchgesetzt werden soll, auch eine Kompensation des bisher erzwungenen Bildungsdefizits nötig. Hier sind Kompensation und Emanzipation keine Gegensätze, sondern Verbündete.“ (a.a.O., S. 95)
Schichtenspezifische Sprachcodes
Ähnlich wurde auch über sprachliche Defizite von Angehörigen der unteren Schichten diskutiert. Die ursprünglich durch Untersuchungen in England gestützte These vom elaborierten Sprachcode der Mittelschicht und vom restringierten Code der Unterschicht besagt, dass Mittelschichtangehörige über ein größeres Vokabular verfügen, mehr Relationen verdeutlichende Nebensätze verwenden und zur Abstraktion fähig sind, während Angehörige der Unterschicht mit einem beschränkten Vokabular eher in Hauptsätzen sprechen und zur expressiven Darstellung konkreter Ereignisse neigen. Die Frage war, ob man die Unterschichtsprache in ihrer besonderen Qualität würdigen oder ob man ihren Sprechern ermöglichen sollte, sich den elaborierten, in der Gesamtgesellschaft als offizielle Norm akzeptierten Code anzueignen. Diese, unter dem Stichwort der kompensatorischen Spracherziehung geführte, Debatte hat auch die Erwachsenenbildung erreicht und sie für schichtenspezifische Sprachunterschiede sensibel gemacht (vgl. SCHALK/TIETGENS 1978).
Ablehnung des Defizitmodells
Die Konzeption der kompensatorischen Bildung setzt an Defiziten bzw. an deren Zuschreibung an und wird aus diesem Grund teilweise scharf kritisiert. Eine Gruppe – so die Kritik – maße sich an, einzelne oder andere Gruppen als ‚minderwertig‘ einzustufen. Statt bestimmte Dispositionen als andersgeartete Potenziale einzustufen, werden diese als Defizite aufgefasst, die ausgeglichen werden müssten (vgl. BOURDIEU/PASSERON 1971).
Wenn aus der heutigen Diskussion der Begriff der kompensatorischen Bildung weitgehend verschwunden ist, so liegt dies – zusammen mit der Distanzierung gegenüber radikalen Formen der emanzipatorischen Erwachsenenbildung – an der Ablehnung von Defizitmodellen. Statt von – nachteiligen – Unterschieden ist deshalb eher von – produktiver – Vielfalt (,diversity‘) die Rede.