Читать книгу Einführung in die Theorie der Erwachsenenbildung - Sigrid Nolda - Страница 18
2.3 Bildung und Befreiung
ОглавлениеWissen ist Macht – Macht ist Wissen
Anders oder zumindest stärker als Teilhabe aller hat die Idee der Befreiung durch Bildung einen herrschaftskritischen, wenn nicht gar kämpferischen Charakter. Der Machtaspekt steht im Vordergrund, und es ist kein Zufall, dass sich eine in diesem Zusammenhang bedeutende Kontroverse an der vom englischen Philosophen FRANCIS BACON (1561–1626) formulierten Losung „Wissen ist Macht“ entzündet hat.
Der Vorstellung, durch Bildung zur Macht zu gelangen, hat der Arbeiterführer WILHELM LIEBKNECHT (1826–1900) widersprochen, als er 1872 in seiner berühmten Rede „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ die Meinung vertrat, dass nicht Bildung, sondern allein die Umgestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse die Arbeiter befreien und ihnen Bildung zugänglich machen könne:
„,Durch Bildung zur Freiheit‘ das ist die falsche Losung, die Losung der falschen Freunde. Wir antworten: Durch Freiheit zur Bildung! Nur im freien Volksstaat kann das Volk Bildung erlangen. Nur wenn das Volk sich politische Macht erkämpft, öffnen sich ihm die Pforten des Wissens.“ (LIEBKNECHT 1986, S. 94)
Eigenständigkeit der proletarischen Volksbildung
Kritik dieser Art führte nicht zur Aufhebung der an die Arbeiter gerichteten Bildungsbestrebungen, wohl aber zur Trennung der bürgerlichen von der proletarischen bzw. sozialistischen Volksbildungsbewegung. Emanzipation schien nur möglich über die Loslösung von der bürgerlichen Weltanschauung und damit von der bürgerlichen Bildung. 1906 legten CLARA ZETKIN und HEINRICH SCHULZ dem sozialdemokratischen Parteitag in Mannheim entsprechende Leitsätze zur Volkserziehung vor. Demnach kann das Proletariat die bürgerliche Geisteskultur nicht einfach übernehmen, sondern muss sie, seiner eigenen Weltanschauung gemäß, umwerten. An der bürgerlichen Volksbildung könne die Sozialdemokratie sich deshalb nicht beteiligen, sondern müsse sich selbst um die Weiterbildung ihrer Mitglieder kümmern (vgl. ZETKIN/SCHULZ 1906 in FAULSTICH/ZEUNER 2001, S. 84f.). Nicht Bildung als solche, sondern allein Bildung, die explizit die Interessen spezieller Gruppen berücksichtigt, könne zu einer Befreiung von Abhängigkeiten führen.
„Pädagogik der Unterdrückten“
Diese Position ist im 20. Jahrhundert von der sogenannten Befreiungspädagogik aufgegriffen worden, die in der internationalen Erwachsenenbildung bis heute einen großen Einfluss hat. Der brasilianische Pädagoge PAOLO FREIRE (1921–1997) entwickelte nach dem 2. Weltkrieg ein Alphabetisierungsprogramm, das nicht nur eine Technik des Erwerbs von Lesen und Schreiben, sondern darüber hinaus auch eine Methode zur Herausbildung kritischen Bewusstseins darstellt, die den Lernenden ihre soziale und politische Situation vor Augen führen sollte. FREIRES 1971 auf Deutsch erschienenes Buch „Die Pädagogik der Unterdrückten“ hat weltweit Aufmerksamkeit erregt. Es richtete sich gegen Entmündigung und Bevormundung durch staatliche Bildungssysteme, die Normen, Werte und Traditionen der bestehenden Herrschaftsstrukturen sowie Lösungswege für Probleme vorgeben, die nicht im Interesse derjenigen sein müssen, zu deren Wohl sie angeblich dienen sollen. Bildung im Sinne FREIRES sollte dagegen Kräfte freisetzen, mit denen die Betroffenen ihre Situation selbst verändern.
Emanzipatorische Erwachsenenbildung
In der Bundesrepublik hat die von der Studentenbewegung geprägte emanzipatorische Erwachsenenbildung in den 1970er und 1980er Jahren zu vielfältigen theoretischen Überlegungen und praktischen Anwendungen geführt. Die enge Verbindung von Theorie und Praxis grenzte dieses Konzept von der etablierten Praxis der Erwachsenenbildung deutlich ab. Nicht individuelle Befreiung, sondern kollektive Emanzipation und die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft wurden angestrebt. In einem Papier aus der damaligen Zeit heißt es dazu:
„Über eine bessere Verteilung von Bildungschancen in einer Gesellschaft, zu deren System es gehört, auch Bildungschancen nach der in diesem System erforderlichen Verwertbarkeit von Leistungen zu verteilen, ist eine kollektive Emanzipation nicht möglich. Kollektive Emanzipation kann nur als revolutionäre Veränderung der Gesellschaft begriffen werden. Nur durch eine grundlegende Veränderung der die Gesellschaft bestimmenden Produktions- und Herrschaftsverhältnisse kann der Klassenantagonismus beseitigt werden, der eine Befreiung der Gesellschaft verhindert. Eine Theorie der Erwachsenenbildung kann dieser historischen Aufgabe nicht ausweichen. Sich dieser Aufgabe stellen heißt, den kollektiven Emanzipationsprozeß im Klassenkampf zu organisieren“ (KLEIN/WEICK 1970, S. 345).
Neben dieser radikalen Variante hat sich aber auch die ‚gemäßigte‘, d.h. demokratiekonforme Form emanzipatorischer Erwachsenenbildung behauptet, die Emanzipation allgemein mit Demokratisierung identifiziert und eher an einer Verbesserung des politischen Systems als an dessen Abschaffung interessiert ist (vgl. STRZELEWICZ 1970).
Emanzipatorische Frauenbildung
Während sich Emanzipation zunächst auf die Schicht der Unterprivilegierten, vor allem die Arbeiter bezog, hat sich der Begriff „Emanzipation“ in den 1970er Jahren mit dem der Frauenemanzipation verbunden. In Anknüpfung an die erste Frauenbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts war auch die zweite Frauenbewegung seit den 1960er Jahren mit Frauenbildung verbunden: Zum einen wurde, wie schon in der ersten Welle der Frauenbewegung, für das Recht von Frauen auf Bildung gekämpft, zum anderen entstanden selbstorganisierte Gruppen, die Frauen in die Lage versetzen sollten, sich gegen Benachteiligungen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu wehren. Emanzipation stand vor allem für die Befreiung „aus unbegriffenen Abhängigkeiten“ (KADE, S. 1991, S. 92). Adressatinnen waren nicht nur offensichtlich benachteiligte Frauen aus der Arbeiterschicht, arbeitslose oder alleinerziehende Frauen, sondern auch alle diejenigen, die mit der gesellschaftlich gering geschätzten Haus- und Erziehungsarbeit beschäftigt waren. Ziel war es – auch in speziellen Angeboten der öffentlich geförderten Erwachsenenbildung – die Frauen zu Artikulation und Durchsetzung ihrer Interessen zu veranlassen und Möglichkeiten der Durchsetzung zu entwickeln (vgl. WURMS 1992, S. 31).
Kritik der Emanzipationsidee
Im Zuge einer politischer Ernüchterung und eines prinzipiellen Zweifels an einer über pädagogische Intervention zu bewerkstelligenden ‚Befreiung‘ ist der Begriff der Emanzipation allmählich in den Hintergrund getreten. So wurde grundsätzliche Kritik an „einer mit Universalitätsansprüchen auftretenden Emanzipationsidee“ (KADE, J. 1992, S. 235) geübt – eine Kritik, die sich allerdings nicht gegen Emanzipation, sondern gegen die Vorgabe einer normativen Utopie richtet:
„Jenseits der blinden Versprechen fertiger utopischer Entwürfe sind Antworten eher dort zu suchen, wo die Vielfalt möglicher Emanzipationsprozesse, die irgendwo zwischen Alltagszwängen und Befreiungsträumen geschehen, erforscht wird, wo ungenutzte Möglichkeiten besseren Lebens und größerer Autonomie aufgewiesen werden und der Beitrag realistisch bestimmt wird, den Bildungsarbeit in diesem Zusammenhang leisten kann.“ (a.a.O., S. 235)
Emanzipation gilt einer solchen Kritik als Mythos, der den Blick auf die Realität verstellt. Sie scheint ‚naiv‘ – ähnlich wie die Versprechungen der Aufklärung, allein durch den Gebrauch der Vernunft Glück und Wohlstand erreichen und sichern zu können.
Festhalten an der Kategorie Emanzipation
Demgegenüber finden sich aber auch Stimmen, die an der Idee der Emanzipation – verbunden mit der Idee der Aufklärung – festhalten und das kritische Potenzial, das mit dem Begriff der Emanzipation verbunden ist, in der Erwachsenenbildung erhalten wollen:
„Ebenso wie ‚Aufklärung‘ ist […] ‚Emanzipation‘ eine kritische Kategorie, welche nur begründbar ist, indem sie sich mit bestehenden Verhältnissen und Verhaltensweisen nicht zufrieden gibt. Sie erhält dann ein utopisches Potential im Sinne von Karl Marx in der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘: alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein entrechtetes, ein verlassenes und verächtliches Wesen ist. Ein solcher kritischer Begriff von Emanzipation, der die Realität konfrontiert mit unausgeschöpften Möglichkeiten, ist dann für Bildungsarbeit ebenso schwierig wie unverzichtbar.“ (FAULSTICH 2004, S. 92f.)