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2.2.2 Die genetische Alphabetisierungskampagne

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Das Erziehungsziel, das auf dem Bremer Kongress formuliert wurde, heißt im Englischen genetic literacy*. Wer nicht abgehängt werden will, so die Annahme, muss heute nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen büffeln, sondern auch das genetische ABC. Zahlreiche Sozialwissenschaftler diagnostizieren: Der Bürger des 21. Jahrhunderts ist ein „genetischer Bürger“*. Er versteht sich als Genträger, hat die Mendelschen Regeln und den Aufbau der DNA gelernt, schließt sich mit anderen Genträgern zusammen, denkt biopolitisch und trifft aufgeklärte Entscheidungen. Genetische Bürger können jedoch nur diejenigen sein, die genetisch alphabetisiert sind. Genetic literacy ist Voraussetzung dafür, als Staatsbürger sowie als Konsument informierte Entscheidungen treffen zu können. Zahlreiche Institutionen haben sich daher die genetische Alphabetisierung der Bevölkerung zur Aufgabe gemacht. Ratgeberliteratur, Science Center und Wissenschaftsmuseen21, Diskursprojekte22, Bürgerkonferenzen23, Rollende und Gläserne Labore,24 ärztliche Informed-Consent*-Gespräche und genetische Beratungsstellen versuchen, genetische Analphabeten in mündige Bürger zu verwandeln. So unterschiedlich pädagogisches Programm und Publikum jeweils auch sein mögen, ein Ziel haben sie alle gemeinsam: Sie sollen Bürger mobilisieren, sich professionell angeleitet mit Genen und Risiken zu beschäftigen, um sich für informierte Debatten und informierte Entscheidungen zu qualifizieren.

Unterstützt werden diese wissenschaftlich begründeten Erziehungsprojekte sowohl von der Politik als auch von der Industrie. Die Lebenswissenschaften* und an erster Stelle die Genomforschung, so prophezeit beispielsweise das Bundesforschungsministerium, werden „weitreichende Auswirkungen“ auf „unser gesamtes gesellschaftliches Leben“ haben (Bundesministerium für Bildung und Forschung o. J.). Um die Bevölkerung für diese tief greifenden Umwälzungen zu rüsten, finanziert das Ministerium auch die genetische Aufklärung: Sozialwissenschaftliche „Begleitforschung“ und der „Diskurs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ sollen dazu beitragen, eine sogenannte „gut informierte Öffentlichkeit“ herzustellen.25 Ziel ist es, so das Ministerium, „Entscheidungen auf nachvollziehbare Fakten und rationale Begründungen zu stützen“26. Was letztlich bedeutet, dass Konzepte und Problemdefinitionen von Experten die Auseinandersetzung bestimmen, nicht aber das Alltagswissen von Bürgern. Selbst bei partizipativen Veranstaltungen, die vorgeben, Technologiepolitik zu demokratisieren, können Bürger sich nicht in Freiheit zur Sache äußern: Wissenschaftliche Autoritäten bestimmen, was „Sache ist“, und Diskursexperten geben den Rahmen vor, innerhalb dessen Bürger Fragen, Antworten und eigene Meinungen entwickeln sollen (Kerr 2004, 123 – 142, Niewöhner 2004).27 Der Umweltschützer, dem die Genmanipulationen aus Ehrfurcht vor der Natur ein Graus sind, der Bauer, der eine Stinkwut auf die Machenschaften der Agroindustrie hat, und die besorgte Mutter, der das genmanipulierte Zeug auf dem Acker schlicht unheimlich ist – sie sollen alle der Vergangenheit angehören. Nicht mehr der intuitive Widerwille gegen manipulierte Tomaten, die Skepsis gegenüber Machbarkeitsversprechen oder das Misstrauen gegenüber Experten sollen das Denken und Handeln bestimmen, sondern das, was Wissenschaftler als „Tatsachen“ und „Chancen und Risiken“ ausweisen. Nicht mehr Umgangssprache und Common Sense sollen Grundlage demokratischer Auseinandersetzungen sein, sondern das, was Experten für faktisch und rational erklären.

Auch die Industrie setzt auf genetische Aufklärung. Bayer, Schering und Roche wünschen sich ebenfalls rational entscheidende Bürger und informierte Konsumenten. „Wir wissen, dass die tollsten Entwicklungen gar nichts nutzen, wenn die Bevölkerung sie nicht versteht und deshalb nicht bereit ist, diese anzunehmen“, erklärte der Vorsitzende des Verbandes der Chemischen Industrie Nordrhein-Westfalens im Jahre 2001 und schickte ein mobiles Genlabor auf den Weg, um das richtige Verständnis der Bürger auf diese Weise sicherzustellen (Minwegen 2003). „Entscheidend ist die Unterstützung durch die Öffentlichkeit. Eine gut informierte Öffentlichkeit, die sich der Chancen und der Risiken der Biotechnologie bewusst ist, stellt einen Wettbewerbsvorteil dar. Die stärkere Beteiligung der Öffentlichkeit an der Gestaltung der europäischen Forschungspolitik ist eine klare Perspektive für die Zukunft“, so stellen Wissenschaft und Industrie in einer gemeinsamen Erklärung fest (Cologne Paper 2007).

Insbesondere Jugendliche sind Ziel genetischer Aufklärungskampagnen.28 In Schüler-Laboren und Diskursprojekten üben sie sich sowohl im Manipulieren von Erbgut als auch im bioethischen Abwägen von Chancen und Risiken.29 Zwischen Flensburg und München haben Forschungsinstitute, Museen und Chemiekonzerne fast 50 öffentliche Labore eingerichtet, in denen sie „Gentechnik zum Anfassen“ bieten.30 Durch Baden-Württemberg tourt sei 2003 das mobile Genlabor „Bio-Lab“, das alle paar Tage eine andere Schule ansteuert, um die Mittel- und Oberstufe mit Gentechnik vertraut zu machen. Gymnasien richten bereits Gentechnik-Labore ein, in denen Schüler eigenhändig an der Erbsubstanz herumbasteln können. Das Ziel dieser Kampagne, zum guten Teil von der Industrie gesponsert, ist eindeutig: Sie soll der Jugend die „faszinierenden wie zukunftsweisenden Biowissenschaften“ (Gläsernes Labor o. J. a) nahebringen. Zu diesem Zweck sollen die Teenager durch eigene Labortätigkeit von der Allgegenwart der Gene und ihrer technischen Handhabbarkeit überzeugt werden: So können sie z. B. „eindrucksvoll die Wirkungsweise von Genschaltern“ erfahren, wenn sie ein Quallen-Gen auf ein Bakterium übertragen.31 Oder sie können DNA aus Tomaten isolieren, damit sie einsehen, dass alles Essen Gen-Food ist. Jeden Tag, so wird ihnen vor Augen gehalten, würden sie Gene verspeisen: „Pro Tag nehmen wir etwa 1 – 2g dieser Trägersubstanz von Erbinformation auf“, erfahren sie – den „Bauplan des Lebens“ (Gläsernes Labor o. J. b). Die Jugendlichen können auch „sich selbst auf die Spur“ kommen, wie ein Handout salopp verspricht, indem sie aus eigenen Zellen einen genetischen Fingerabdruck* erstellen.

Unvermeidlich werden Schüler bei solchen Praktika nicht nur in Biochemie und in den Umgang mit Pipetten und Reagenzien eingewiesen, sondern auch in die genetische Weltanschauung.32 Eine besonders eindrückliche Lektion in genetischer Selbstwahrnehmung erteilte ein Praktikumsleiter einer Gruppe Zehntklässler im Gläsernen Labor in Berlin-Buch: Als er die biologischen Grundlagen des genetischen Fingerabdrucks erläutert, weist er darauf hin, dass 98 Prozent ihrer DNA mit derjenigen von Pan troglodytes, dem Schimpansen, übereinstimmen. Dem naheliegenden Schluss, dass die DNA angesichts der erheblichen Unterschiede zwischen Mensch und Affe dann ja gar nicht so bedeutsam sein kann, kommt der Genetiker eilig zuvor: Er belehrt seine jungen Zuhörer darüber, dass lediglich eine einzige Genveränderung dafür verantwortlich ist, dass Menschen sprechen können, Schimpansen hingegen nicht. Wenn auch Affen dieses Gen hätten, so spekuliert er, dann könnten sie sich ebenfalls der Sprache bedienen. Die Realschüler, die während des Pipettierens an der Werkbank einen gelangweilten Eindruck gemacht haben, horchen zum ersten Mal an diesem Vormittag auf. Prompt stellt einer die Frage, ob sich dieses Gen nicht einfach bei Affen einfügen ließe. Nun entspinnt sich eine fantastische, aber völlig ernst gemeinte Diskussion zwischen Schülern und Dozent über die Frage, ob Affen durch eine Genverpflanzung zum Sprechen gebracht werden könnten. Der Gen-gläubige Experte bejaht: Ja, das ginge wohl, sei aber aus „ethischen Gründen“ nicht möglich. Technische Hindernisse gebe es allerdings auch noch: Zum Sprechen seien ja entsprechende Gehirnfunktionen und Organe wie Stimmbänder nötig. Außerdem, gibt er zu bedenken, wäre ein solcher Gentransfer auch „kompliziert“. Während der Arbeit im Labor machten die Zehntklässler nicht den Eindruck, als könnten sie den chemischen Formeln und Versuchsanleitungen irgendetwas abgewinnen. Die Lektion in genetischer Selbstwahrnehmung am Ende des Praktikums hingegen sitzt: Menschen, so die Botschaft des Gen-Experten, sind nichts anderes als genetische Mutanten des Affen. Wären da nicht Ethik und technische Komplikationen, dann ließen sich im Genlabor sprechende Schimpansen erschaffen. Diese Vorstellung, Affen durch eine Genübertragung zum Reden zu bringen, beschäftigt die Schüler mehr als alles andere an diesem Vormittag, und sie reden aufgeregt durcheinander.33

Die Entscheidungsfalle

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